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Bergpredigt Lückentext Quiz - Die Bergpredigt (Original) - Die Bergpredigt (Zeit Reihe Robert Leicht) - Die Bergpredigt (3 Bilder aus verschiedenen Stilrichtungen)

Die Bergpredigt Teil I bis III der Zeit-Serie

2000 Jahre im Widerspruch

"Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich": Teil I der ZEIT-Serie über die Bergpredigt

Die Bergpredigt setzt schon im ersten Satz mit dem ein, was sie ihrem ganzen Wesen nach ist: mit dem vollkommenen Widerspruch zu unserer Welt, wie sie ist. Und doch zugleich mit dem endgültigen Ausdruck dessen, was sie sein soll. In Zuspruch und Widerspruch formuliert dieser Leittext den christlichen Anspruch auf die Welt - als deren vollendete Veränderung.

Nun ist aber die Welt, wie sie ist. Hat dies der Bergpredigt die Kraft genommen, nach 2000 Jahren des Christentums? Die Kraft genommen zumal angesichts der Tatsache, daß das Christentum vom Widerspruch der Bergpredigt geprägt ist - und ihr oft genug zuwider gelebt hat? Das Rätsel, man könnte es fast ein Wunder nennen: Kein Text steht so quer zum vermeintlich wirklichen Leben - und trotzdem läßt er die Menschen nicht los. Es ist so, als glaubten sie in Wirklichkeit nicht, woran sie in der Wirklichkeit nicht glauben. Vermeintlich nicht glauben.

Mit einem aberwitzig erscheinenden Widerspruch setzt die Bergpredigt ein: "Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich."

Eine solche Behauptung widerspricht allen plausiblen menschlichen Erfahrungen. Selbst wenn diese Behauptung nur als Futur gemeint wäre (Ja, irgendwann im Himmelreich, das sie dann erben werden, werden sie für alle Unbill hierzulande entschädigt werden...), wirkte sie als ein allzu billiger, fast zynisch zu nennender Trost: Opium des armen Volkes. Aber nun steht dieser Satz auch noch im Indikativ: Selig sind...

Es gibt hier also vieles zu erklären: Wie kann dieses Gedicht der acht Seligpreisungen, zwei Strophen zu vier Versen, das die Bergpredigt einleitet, trotz seines offenkundigen Widerspruchs zu unseren Erfahrungen, seines - wie es scheint - Widersinnes in unserer Welt, die Zeiten überdauern? Wie kann die Bergpredigt zu einem Leittext unserer, wie man so sagt: abendländischen Zivilisation geworden sein, obschon doch das Abendland in seiner gesamten Geschichte den Imperativen der Bergpredigt so wenig entsprechen wollte? Zu erklären bleibt vor allem, wie nicht nur dieser christliche Kardinaltext, sondern warum das Christentum überhaupt seine Geschichte überlebt hat. Und hat es diese fast zweitausendjährige Geschichte wirklich überlebt, endgültig?

Unser Kulturkreis richtet sich immer hektischer auf den Jahrtausendwechsel ein. Er steht uns bevor, weil unsere Zeitrechnung an der Biographie ebenjenes Mannes anknüpft, dem die Bergpredigt zugeschrieben wird: Wir leben - immer noch - im Jahre 1999 nach Christi Geburt, obschon die alte DDR den gekünstelten Versuch unternommen hatte, das Kürzel "n.Chr." zu ersetzen durch "u.Z." - unserer Zeit. Aber wer hätte sie uns denn gegeben, unsere Zeit? Oder von wem hätten wir sie uns genommen und sie uns angeeignet?

Wenn also das Christentum bis heute überlebt hat, und zwar als die unsere Zeitrechnung definierende Instanz, dann wegen der ungestillten Energie von ursprünglichen Texten wie der Bergpredigt.

Die Bergpredigt erklären heißt ein Stück dieser Widerspruchsgeschichte erklären: zwischen Verfolgtsein und Herrschen, zwischen Krieg und Frieden, Dogmatik und Toleranz, Einheit und Spaltung, zwischen Widerstand und Ergebung, Märtyrertum und Verrat - zwischen Wein und Wasser, in Predigt und Verhalten. Das, was die ursprünglichen Texte ausmacht, war offenbar nicht umzubringen durch das, was aus ihnen gemacht wurde. Es ist nicht nur so, daß der Text die Widersprüche ausgehalten hätte; sondern die Widersprüche halten den Text offen, bewahren ihn vor der gültigen, der endgültigen - und damit letztlich: un-gültigen "amtlichen" Interpretation. Der Geist ist ein Wühler!

Freilich gibt es auch historische Situationen, in denen Perfektion und Perversion der Auslegung nahe beieinanderstehen.

Im Jahr 1937 schrieb Dietrich Bonhoeffer sein Buch Nachfolge, sein einziges sowohl klassisches, als auch vollendetes Werk - eine strenge Auslegung aus dem Geist fast mönchischer Perfektion; ein Buch, das seither mehrere Generationen von Theologen und Nichttheologen geprägt hat. Nur ein Jahr zuvor hatte der von den Nazis und den "Deutschen Christen" auf den Schild gehobene Reichsbischof Ludwig Müller unter dem Titel Deutsche Gottesworte verkündet: "Für Euch, meine Volksgenossen im Dritten Reich habe ich die Bergpredigt ,verdeutscht', nicht ,übersetzt'." Da wird dann aus dem griechischen Ruf maka¢rioi oi` ei`rhnopoioi´, wird aus der lateinischen Übersetzung beati pacifici, wird aus dem "Selig sind die Friedfertigen" die "Verdeutschung": "Wohl denen, die mit ihren Volksgenossen Frieden halten". Es ist das, ungeachtet seiner minimalen intellektuellen Halbwertszeit, niederträchtigste und niedrigste Dokument der christlichen Literaturgeschichte. Aber eben: Ein Jahr später reinigt Bonhoeffer sozusagen Luft und Sprache.

"Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich." Schon die erste der acht Seligpreisungen zeigt die der Bergpredigt eigentümliche utopische Spannung an.

Utopie - darunter hätte man im strengsten Sinne ein Nirgendwo zu verstehen, einen Nicht-Raum. Oft genug in der Geschichte der Ideologien und ihrer Macht ist aber das Nirgendwo, also auch das Nirgendwann zum Irgendwann umgedeutet worden. Wenn etwas irgendwann geschehen soll - warum dann nicht gleich? Das Problem des gewöhnlichen utopischen Denkens fängt dort an, wo das eigentlich raum- und zeitlos Gedachte, das Nirgendwo und Nirgendwann, in Raum und Zeit geholt werden soll: ins Hier und Jetzt. Zur Not mit Gewalt.

Wie viele Opfer hat die gewaltsame Auflösung dieses unaufhebbaren Widerspruchs aller Utopie in der Menschheitsgeschichte gefordert, bis zum Zusammenbruch der meisten kommunistischen Diktaturen in der jüngsten Vergangenheit?

Die utopische Spannung der Bergpredigt - und damit des Christentums - ist von anderer Natur: Der Gegensatz zwischen dem Nirgendwann und Nirgendwo einerseits und seiner gewillkürten, und wenn es sein muß: willkürlichen Einholung in Raum und Zeit, jetzt und hier, weicht einer eigentümlichen Polarität von Noch-nicht und Jetzt-schon.

Das Programm der Bergpredigt, wenn denn dieser Text sich auf ein Programm reduzieren ließe, bleibt auf bezeichnende Weise in der Schwebe: Keineswegs wird alles ins Jenseits verlegt (ins Irgendwann, schlimmstenfalls: ins Nirgendwann); genausowenig ist die Rede davon, alles sei an Ort und Stelle zu haben. Sondern ihre "Utopie" wird in einem unverfügbaren Paradox gewissermaßen verewigt und verzeitlicht zugleich. Sie findet ganz erst dort statt - doch diese Entscheidung ist für ihre Hörer längst gefallen und bestimmt das Leben hier.

Indikativ und Imperativ sind in einer paradoxen Weise ineinander verschränkt; sie lassen einander gewissermaßen nicht mehr los. Die Utopie der Bergpredigt entzieht sich damit aber der Beschlagnahme durch aktivistische, ungeduldige, gewaltsame Revolutionäre. Und sie muß alle Reaktionäre, alle Propheten des Status quo ständig beunruhigen. Dies ist einer der Gründe dafür, daß dieser Text über dem opferreichen Gang der Geschichte (auch der christlichen Geschichte) nicht zerstört wurde - und noch heute, bis in die jüngsten Tage der Friedensbewegung, verstörend wirkt. "Friedenspharisäer" nannte Alois Mertes, der damalige Staatsminister im Auswärtigen Amt, jene Bürger, die sich unter Berufung auf die Bergpredigt gegen die Nato-Nachrüstung wehrten. Wo doch die Bergpredigt gerade über die Pharisäer hinausgesprochen wurde.

Und wo die Bergpredigt nicht von Christen kritisch zitiert wird, wird sie gegen die sich christlich bezeichnende Gesellschaft angeführt. Zum Beispiel von Karl Marx: "Straft nicht jeder Augenblick eures praktischen Lebens eure Theorie Lügen? Haltet ihr es für Unrecht, die Gerichte in Anspruch zu nehmen, wenn ihr übervorteilt werdet? Aber der Apostel schreibt, daß es Unrecht sei. Haltet ihr euren rechten Backen dar, wenn man euch auf den Linken schlägt, oder macht ihr nicht einen Prozeß wegen Realinjurien anhängig? Aber das Evangelium verbietet es... Handelt der größte Teil eurer Prozesse und der größte Teil der Zivilgesetze nicht vom Besitz? Aber es ist euch gesagt, daß eure Schätze nicht von dieser Welt sind." Selbst gegen den Strich gebürstet, also im Widerspruch gelesen, spürt man noch das Pathos des Urtextes.

Immer wieder hat die Bergpredigt - nachzulesen im 5. bis 7. Kapitel des Matthäusevangeliums - Menschen fasziniert, und zwar nicht obwohl, sondern weil es sich um jenen Teil der Bibel handelt, "der die extremste ethische Struktur besitzt und gleichzeitig eine subversive Sprengkraft enthält, die an die Stelle kritischer Kooperation mit dem Bestehenden eine radikale Absage an die modernen Lebensformen setzt", so schrieb es die Innsbrucker Literaturwissenschaftlerin Maria Deppermann.

Nicht zufälligerweise wurde gerade Leo Tolstoj von diesem Text angezogen. Auf Tolstojs an die Bergpredigt gelehnte Lehre vom "Nichtwiderstreben gegenüber dem Bösen mit Gewalt" beriefen sich wiederum so verschiedene Männer wie Mahatma Gandhi, George Bernard Shaw und Romain Rolland. Ludwig Wittgenstein trennte sich in der Begegnung mit Tolstojs Ideen als junger Mann von seinem immensen Vermögen, verzichtete auf seine Karriere und unterrichtete zu Anfang der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts als Dorfschullehrer: "Gestern fing ich an, in Tolstojs Erläuterungen zu den Evangelien zu lesen. Ein herrliches Werk", so hatte er schon 1914 notiert. Fünf Jahre später wird Max Weber seinen Vortrag Politik als Beruf gerade gegen diesen Interpretationsstrang der Bergpredigt halten.

Ob in allen diesen Berufungen und Anleihen wirklich die Bergpredigt selber zum Vorschein kommt, sei dahingestellt; ihre Auslegung ist ohnedies von Anfang an kontrovers und bleibt auch künftig umstritten. Wie ist das Gebot der Feindesliebe zu verstehen: "Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen..."? Wie der Verzicht auf Gegenwehr: "daß ihr nicht widerstehen sollt dem Übel"? Wie die Rede gegen die Sorge um den nächsten Tag: "Seht die Vögel unter dem Himmel an..."?

Dies alles sind Forderungen, die nicht in unseren Alltag passen - die aber gleichwohl ins Repertoire unserer kollektiven poetischen Erinnerung eingesunken sind. Wie, wenn sie uns nicht beträfen?

In gewisser Weise macht ebendies das Wesen christlicher Urtexte aus: Sie entziehen sich jeder Anwendbarkeit im Sinne restloser Erfüllung und damit der Erledigung. Sie verweigern sich der Eindeutigkeit in dem Sinne, daß das Gespräch und der Streit über sie je zum Stillstand kommen könnte. Gerade diese unaufgelöste, vielleicht unauflösbare (und: uneinlösbare) Umstrittenheit macht aber weiterhin ihre störende Vitalität aus. Und die des Christentums, wo es nicht jedes Salz verloren hat - auch dies ein Bild aus der Bergpredigt.

Das Paradox der Geschichte der zweimal tausend Jahre ist dieses: Die christliche Theologie kann in der Tat gelesen werden als Umsturz aller gesicherter und anerkannter Lebensvorstellungen, zumal aller ersehnten bürgerlichen Sekurität.

Niemand hat dies schärfer und einseitiger formuliert als Friedrich Nietzsche: "Die modernen Menschen, mit ihrer Abstumpfung gegen alle christliche Nomenklatur, fühlen das Schauerlich-Superlativische nicht mehr nach, das für einen antiken Geschmack in der Paradoxie der Formel ,Gott am Kreuze' lag. Es hat bisher noch niemals und nirgendwo eine gleiche Kühnheit im Umkehren, etwas gleich Furchtbares, Fragendes und Fragwürdiges gegeben wie diese Formel: sie verhiess eine Umwerthung aller antiken Werthe."

Wie ist es zu erklären, daß die Menschen, ob sie nun gläubig sind oder nicht, jedenfalls diese Umwertung aller Werte nicht schlicht und einfach als lächerlich ignoriert haben? Weil sie im letzten Grunde - vielleicht unbewußt - ihren eigenen real existierenden Werten noch weniger trauen. Offenbar liegt unter der Oberfläche selbst des banalsten und trivialsten Lebens noch ein Minimum an utopischer Spannung - eine Resonanz des richtigen Lebens im Falschen.

Die Umwertung aller Werte. Wie könnte sie sinnlicher ausgedrückt werden als in der ersten Seligpreisung? "Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich." Doch schon ergeben sich Fragen bei der näheren Bestimmung. Den Kern dessen, was bei Matthäus zur Bergpredigt reift, erkennen wir auch bei Lukas. Ein und dasselbe Material in den benutzten Quellen wird bei Matthäus in der "Bergpredigt", bei Lukas zur "Feldrede" verarbeitet. Und schon in der ersten Seligpreisung findet sich eine bezeichnende Abweichung. "Selig seid ihr Armen", so schreibt Lukas. Hingegen Matthäus: "Selig sind, die da geistlich arm sind".

Auf den ersten Blick liest sich Lukas sozial konkreter. Zudem polemisiert Lukas wenige Zeilen später ausdrücklich gegen die Reichen: "Weh euch Reichen! Denn ihr habt euren Trost schon gehabt." Ist Lukas also "politischer", auch "authentischer", Matthäus aber schon ins Spirituelle abgelenkt und entschärft? Wir kommen darauf zurück. Zunächst bleibt es bei dem Ärgernis, daß Armut rein als solche zum Ausgangspunkt einer Verheißung wird. Muß das nicht zynisch wirken?

Der Schweizer Theologe Karl Barth schrieb von den Seligpreisungen als einem Paradox: "Es ist klar, daß das, was da als das Dransein dieser Menschen beschrieben wird, an sich gar nicht Charakter des Erfreulichen und Erwünschten hat. Keine Rede aber auch von einem sonstigen, etwa verborgenen immanenten Wert dessen, worauf diese Seligpreisungen blicken! Es hat das Neue Testament so wenig wie das Alte das Erfreuliche, das Positive, das Leben als eine heimliche Qualität des Unerfreulichen, des Negativen, des Todes angesehen und gerühmt. Es hat Schwarz nicht Weiß genannt, und also das üble Dransein jener Menschen durchaus nicht als ihr wahres Wohlsein interpretiert."

Die "Umwerthung aller Werthe" ist also nicht gleichbedeutend mit der Umwertung aller Unwerte. Aber doch mit der Aufwertung des Unwürdigen.

Der marxistische Philosoph Ernst Bloch hat diesen Perspektivenwechsel eindrucksvoll formuliert: "Es dauert nicht mehr lange, bis die Tafel verkehrt wird und die Letzten die Ersten werden. Armut steht dem Heil am nächsten." Da trifft sich übrigens der Marxist Bloch mit dem Theologen Karl Barth, der denselben Sachverhalt so ausdrückte: "Sie befinden sich in ihrem Elend an der äußersten Grenze des mit dem Reich Gottes konfrontierten, durch den Menschen Jesus zu erneuernden Kosmos."

Weiter im Text mit Bloch: "Armut steht dem Heil am nächsten, Reichtum hindert es, inwendig und auswendig. Aber Armut ist bei Jesus mitnichten bereits ein Stück des Heils, dergestalt, daß sie nicht vernichtet werden müsse. Nirgends wird Armut, als übliche, erzwungene, erbärmliche, verteidigt, geraten wird nur freiwillige Armut, und der Rat zu ihr ergeht nur an die Üppigen... Und auch die freiwillige Armut gilt nicht als Selbstzweck, wenigstens soweit der Rat zu ihr ergeht und nicht die Liebe die Armen erwählt; wovon später."

Zurück zur Frage, ob Matthäus die Seligpreisung entschärft, indem er ihr den spiritualisierten Zusatz beifügt: "die da geistlich arm sind". Eine Entschärfung wäre höchst unwahrscheinlich im Zusammenhang der radikalen Theologie des Matthäus. Gemeint oder gar gefordert ist also weder eine bejahende Einstellung zur eigenen materiellen Armut. Noch kann gelesen werden: "Du bist zwar reich, das macht aber nichts, solange Du wenigstens weißt, daß Du gerade in Deinem äußeren Reichtum innerlich arm bist." Es geht weder um ein gutes Gewissen im Elend noch um ein schlechtes Gewissen im Wohlleben. Sondern die Rede ist von einem objektiven Zustand: Armut. Geistlich arm ist also zu verstehen als die Armut derer, die schlechterdings gar nichts haben - noch nicht einmal den vermeintlichen Reichtum der spirituell überwundenen materiellen Armut, noch nicht einmal das bessere Bewußtsein gewollter Askese.

Deshalb ist die Alternative "Politisierung bei Lukas" oder "Spiritualisierung bei Matthäus" tatsächlich insofern falsch, als beide Male gemeint sind jene, die in jeder Beziehung draußen und drunten sind. Das griechische Wort, das an dieser Stelle steht, trägt die stärkstens mögliche Färbung, nämlich: bettelarm. Martin Luthers letzter Satz auf dem Sterbebett lautete - realistisch, nicht positiv moralisierend: "Wir sind Bettler, das ist wahr." Auch dieser Wahrheit gilt die erste Seligpreisung. Aber nicht, um es dabei zu belassen.

 

Ein ganz frommer Jude

"Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden": Teil II der ZEIT-Serie über die Bergpredigt

Der Sprache der Bergpredigt eignet eine poetischen Stärke, die sich tief in unser allgemeines Gedächtnis eingeprägt hat. Wir ahnen, was die Worte meinen, wissen, daß unser Deutsch ohne diese Worte arm wäre - benutzen sie selber aber kaum oder gar nicht: Sanftmut, Barmherzigkeit, wann hätten wir die Worte jemals gebraucht, in einem Brief, in einem Gespräch? Worte, die einen Überschuß an Erwartungen tragen, die wir selber kaum einzufordern, erst recht nicht einzulösen wagen - die wir aber noch längst nicht aufzugeben bereit sind: Worte wie Hoffnungen.

"Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden." Wir kennen von der zweiten Seligpreisung nur noch, als Restbestand, den Ausdruck: die Leidtragenden. Oder die schnoddrige, kaum jemals wirklich so gemeinte Floskel: "Tut mir leid..." (verletzt worden ist dabei ohnedies der andere). Was bei Matthäus als ein objektiver psychologischer Sachverhalt ("die Trauernden" - so die weniger poetische direkte Übersetzung) bezeichnet wird, beschreibt Lukas fast als physiologischen Tatbestand: "...die ihr jetzt weint."

In der Auslegungsgeschichte wurde aus dem Trauern gewissermaßen ein Transitivum gemacht und gefragt: Trauern worum? Die frühkirchlichen Ausleger des Matthäus unterstellten, die Leidtragenden trauerten nicht über den Zustand der Welt, sondern konkret über eigene und fremde Schuld. Die in der Seligpreisung gemeinten Leidtragenden trauern aber nicht über etwas Bestimmtes (und für eine Weile), sondern schlechthin; sie tun nichts anderes, ihnen bleibt nichts anderes. Sie sind im Grunde noch schlimmer dran als die Armen aus der ersten Seligpreisung. Die Armen haben nichts, sie haben noch nie etwas gehabt. Die Trauernden, die nur noch Leid Tragenden, haben nichts mehr - sie haben bereits alles verloren. Diese allumfassende Trauer, diese totale seelische Sonnenfinsternis formuliert Ulrich Luz in seinem bedeutenden Matthäus-Kommentar folgendermaßen: "Mit ,Trauer' ist alle Trauer dieses Äons umschlossen, die im kommenden Äon durch Trost abgelöst sein wird."

Damit stellen sich aber die entscheidenden Fragen: Wer sollte die Zeitenwende herbeiführen? Es stellt sich also die Frage nach der Autorität des Bergpredigers: Wer war - und wer ist - Jesus von Nazareth? Was schließlich macht seine Autorität für unsere heutige Auslegung aus?

Offen zutage liegt die Faszination, die von dieser Gestalt durch die gesamte bisherige Geschichte ausging. Immerhin hat selbst Rudolf Augstein ihr ein Buch gewidmet: Jesus Menschensohn. Der jüngste, wenngleich peinliche Ausläufer eines solchen literarischen Interesses ist Norman Mailers letztes Buch Das Jesus-Evangelium, das im Gestus einer Autobiographie Jesu verfaßt ist: "Die Kraft verließ mich, und das Leben wich aus mir und ging in den Geist über. Ich hatte nur Zeit zu seufzen: ,Es ist vollbracht'. Dann starb ich..."

Wenn man einmal von der ästhetischen und theologischen Geschmacksverirrung Norman Mailers absieht: das Scheitern solcher Entwürfe hat nicht zuletzt damit zu tun, daß es nicht einmal möglich ist, auch nur eine verläßliche und erzähltüchtige Biographie des Jesus von Nazareth zu schreiben. Die jüngste, im angelsächsischen Sprachraum initiierte wissenschaftliche Forschungsrichtung bezeichnet sich selber mit dem bescheidenen Schlagwort "the ,third quest' for the historical Jesus" - die dritte Suchaktion nach dem historischen Jesus. Das derzeit beste Buch zum Thema "Der historische Jesus" ist die gleichnamige Arbeit von Gerd Theißen und Annette Merz; wir stützen uns im Folgenden darauf. Es umfaßt mehr als 500 Seiten, demonstriert aber das Fragmentarische des historischen Faktenwissens bewußt dadurch, daß es für den summarischen Schlußbericht mit gut drei Seiten auskommt. Weshalb trotz dieser schütteren Fakten diese oft erschütternde Faszination? Welche Rolle spielt dafür die historische Existenz Jesu? Oder geht die Wirkungsgeschichte allein zurück auf den nachösterlichen Glauben der Jünger, die sich auf Erscheinungen des ihnen Auferstandenen beriefen? In welchem Verhältnis zueinander stehen also der historische und der theologische Jesus? Die Dialektik zwischen dem "gewußten" und dem "geglaubten" Jesus hätte, so scheint es, zum Tod der Theologie werden können, ja: müssen. Es gehört zur Faszination des Phänomens, daß dies immer noch nicht der Fall ist.

Die Herausforderung der theologischen Überlieferung durch die historische Forschung ist ein notwendiges und legitimes Kind der Aufklärung. Hermann Samuel Reimarus (1694 bis 1768) hat als erster die rein historische Sonde angesetzt: "Ich finde große Ursache, dasjenige, was die Apostel in ihren eigenen Schriften vorbringen, von dem, was Jesus in seinem Leben würklich selbst ausgesprochen und gelehrt hat, gänzlich abzusondern." Erst in den Jahren 1774 bis 1778 veröffentliche Gotthold Ephraim Lessing diese Gedanken als anonymes Fragment. Hinter diesen Paradigmenwechsel kommt keine Theologie mehr zurück: Nicht daß Ursprung und Überlieferung überhaupt nichts miteinander zu tun hätten - die Behauptung hält selber der historischen Kritik nicht stand -, aber die Unterscheidung bleibt notwendig.

Der wissenschaftlichen Aufklärung werden die übernatürlichen Geschichten fremd, sie sucht zunächst nach rationalen Erklärungen, (fast) nach dem Muster: Wenn jemand über Wasser gehen kann (oder doch den Eindruck dessen erweckt), dann waren wohl zufällig Steine kurz unter dem Wasserspiegel verborgen...

Albert Schweitzer, der Theologie, Musiker, Mediziner und Philanthrop, markiert in seinem epochalen Werk Geschichte der Leben-Jesu-Forschung die nächste Entscheidung, vor die ein junger Theologe die gesamte Forschung stellte, wie folgt: "entweder rein geschichtlich oder rein übernatürlich". Es scheint, als ob sich die Wissenschaft in der Tat ruckweise bewege: "Auf die supranaturale Erklärung der Ereignisse des Lebens Jesu war die rationale gefolgt und hatte sich vermessen, wie jene alles ins Übernatürliche deutete, so alles als natürliches Geschehen begreiflich zu machen... Aus ihrem Widerstreite wird die neue Lösung, die mythische Deutung geboren."

Der junge Theologe, der diesen Schritt tut, ist der 27jährige David Friedrich Strauß, der im Jahr 1835/36 sein Leben Jesu vorlegt und damit einen regelrechten Skandal auslöst. Er führt das, was an der frühen Überlieferung unhistorisch ist, auf den Mythos als "absichtslos dichtende Sage" zurück, auf "einen unbewußten Prozeß mythischer Imagination". Was nicht ausschließt, daß in dieser Überlieferung zugleich historische Erinnerungen enthalten sind - und was, aus der hegelianisch geprägten Sicht von Strauß, keineswegs den Kern christlichen Glaubens berührt. Denn in dem historischen Individuum Jesus realisiere sich die Idee der Gottmenschlichkeit, die höchste aller Ideen.

Seit Reimarus und Strauß hat es die Frage nach dem historischen Jesus mit einer doppelten Frontstellung zu tun: Sie muß der rein empirischen Historiographie gerecht werden - und zugleich wissen, daß sie es nicht mit rein empirischen Gegenständen, sondern mit Bewußtseinsinhalten zu tun hat, vor allem auch mit dem historisch zu ermittelnden (Selbst-)Bewußtsein einer historischen Person. Und mit der Frage: Was geht uns deren Selbstbewußtsein in unserem Bewußtsein von uns selbst an?

Die liberale Leben-Jesu-Forschung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfiel, trotz des subtilen Fleißes beim Erschließen und Interpretieren der Quellen, dem Dictum Albert Schweitzers, es habe am Ende jeder seinen Jesus in die höchst fragmentarischen Quellen hineingelesen.

Die Theologie des frühen 20. Jahrhunderts räumt nach der Krise des Ersten Weltkriegs mit der als schwächlich und widerstandsunfähig empfundenen liberalen Theologie auf; aus dem Krisenbewußtsein eines Zivilisationsbruchs verschärft sie den Abstand zwischen Gott und Welt radikal. Totaliter aliter - Gott ist ganz anders, unnahbar anders, heißt der Kampfruf des jungen Schweizer Theologen Karl Barth. Die dialektische Theologie des frühen Karl Barth, die den Gegensatz, die Dialektik zwischen Gott und Welt sozusagen bis zum Unerträglichen verschärft, konnte die Spuren dieses Handelns zunächst nur noch an "Einschlagstrichtern" erkennen. Da war also etwas - aber was? In einer solchen Zuspitzung kann das Interesse an einem historischen Jesus, der an dieser Welt selber, in eigener Person teilnimmt, schließlich nur radikal schwinden. Es interessiert eigentlich nur noch das nahezu formale Daß seiner Existenz - daß er (drastisch gesagt) gekommen und gegangen ist, daß er gestorben und (theologisch formuliert) in dem Kerygma, im Osterglauben seiner Jünger auferstanden ist; und daß darin ein Handeln Gottes an der Welt zu erkennen ist. Und für die existentialistische Theologie gewinnt der Mensch seine "Eigentlichkeit" allein in einer Entscheidung für oder gegen den Ruf, der ihn erreicht; in einer Entscheidung, die sich nicht aus objektiven Gründen, erst recht nicht aus historischen Faktizitäten ableiten läßt.

Schien damit die Erforschung des historischen Jesus an ihr Ende gekommen zu sein, begann dennoch nach dem Zweiten Weltkrieg eine Paradigmenrückkehr, eine zweite Welle der historischen Erschließung, sozusagen the second quest for the historical Jesus. Das leitende Argument: Wenn der nachösterlich gepredigte Christus nicht eine bloße Schwärmerei der Jünger gewesen sein soll, dann muß er mit dem historischen Jesus sachlich etwas zu tun haben; in der Predigt muß ein Minimum echter Überlieferung stecken.

Doch wie soll man aus den widersprüchlichen und disparaten Quellen den Kern freilegen? Der forschungsleitende Vorschlag: Wenn man von der Überlieferung alles abzieht, was religionsgeschichtlich einerseits schon im Judentum präsent war, was andererseits aber erst nach Ostern im Urchristentum zum Vorschein kommt, dann hat man - nach dem doppelten "Differenzkriterium" ermittelt - den authentischen historischen Menschen Jesus vor sich.

Diese Isolierungsstrategie wirkt in sich selber aber eher unhistorisch, weil die reale Geschichte solche von jeder Entwicklung, von jedem Umfeld abgekoppelte Monaden nicht hervorbringt. Die vorerst neueste Forschungsrichtung, the third quest also, stellt das "Differenzkriterium" vom Kopf auf die Füße und postuliert umgekehrt: Gerade das, was aus dem Überlieferungsmaterial sowohl in das Judentum als auch in das Urchristentum paßt, repräsentiere den authentischen Jesus. Aus dem Repräsentanten eines Bruchs wird nun ein Repräsentant einer geschichtlichen Wende aus dem Judentum in das Urchristentum. Eine solche Betrachtungsweise bricht nun erst recht (und nun erst richtig) mit dem historischen Antijudaismus der christlichen Theologie. Der historische Jesus erscheint aus dieser Perspektive als eine Gestalt, die zum Gründer der christlichen Bewegung nicht etwa wurde, obwohl er Jude war, sondern weil er ganz frommer Jude sein wollte - und gerade deshalb in den tödlichen Konflikt mit den Hütern des Tempels geriet.

Zugespitzt gesagt: Der historische Jesus von Nazareth wollte in seinem endzeitlichen Selbstbewußtsein eher der letzte Jude als der erste Christ sein.

Dieser für manchen Christen immer noch verstörende Sachverhalt wird auch im weiteren bei der Auslegung der Bergpredigt immer wieder zu beachten sein. Die simplen Konfrontationen (hier die Pharisäer, dort Jesus; hier jüdische Gesetzesreligion, dort christliche Ethik) sind viel zu primitiv, um den komplexen Zusammenhängen und Übergängen gerecht zu werden. Günther B. Ginzel berichtet in seinem Buch Die Bergpredigt - jüdisches und christliches Glaubensdokument folgende Episode: Er hatte in einem Vortrag dargetan, daß das polemische Bild, das im Neuen Testament von den Pharisäern gezeichnet werde, ihren wahren Anschauungen nicht entspreche. Danach bat ihn ein Professor um ein Gespräch: "Wenn das, was Sie uns über die Anschauungen der Pharisäer berichtet haben, stimmt, wozu bin ich dann eigentlich Christ?" Ginzels Hinweis, Jesus sei doch für ihn als Christen der Messias, eben der Christus, führte zu einem Ausbruch. "Lassen Sie mich doch mit Christus in Ruhe! Damit kann ich nichts anfangen. Wenn Jesus nicht eine neue Moral und eine neue Gerechtigkeit gepredigt hat, wenn seine Lehre den pharisäischen Anschauungen ähnelt, dann verliert das Christentum seinen Sinn!"

Ebendieses Paradox aber muß die christliche Theologie, zumal nach Auschwitz, endgültig begreifen: daß das Christentum ganz im Judentum wurzelt, sich im 1. Jahrhundert geradezu langsam von ihm löst - um schließlich etwas ganz anderes zu werden. Goethes Gedicht vom Gingo Biloba kommt einem auch hier in den Sinn: "Ist es Ein lebendig Wesen, / Das sich in sich selbst getrennt? / Sind es zwei die sich erlesen / Daß man sie als Eines kennt?"

Albert Schweitzer hat die Herausforderung wie folgt beschrieben - und zwar im Vorwort zur 6. Auflage seines epochalen Werks (Datumszeile: "Lambarene, den 19. August 1950): "Dem Christentum wird durch das Ergebnis der historischen Forschung über Jesus das Urchristentum" (wir fügen heute hinzu: das Judentum) "und die Entstehung der Dogmen das Schwere zugemutet, sich von seiner Entstehung Rechenschaft zu geben und sich einzugestehen, daß es, so wie es jetzt ist, das Ergebnis einer Entwicklung ist, die es durchgemacht hat. Es wird eine Anforderung an es gestellt, die noch an keine Religion erging und der wohl keine andere gewachsen wäre. Die Lage, in der sich der Glaube befindet, nötigt ihn, zwischen dem Wesen und der Gestalt der religiösen Wahrheit zu unterscheiden." Das hermeneutische Paradox, sowohl geschichtlich bedingt als auch wahr zu sein, gilt natürlich auch für die Auslegung der Bergpredigt.

Niemand vermag zu sagen, wie der nächste Paradigmenwechsel aussehen könnte, wann die vierte Suchaktion nach dem historischen Jesus beginnen wird. Treibend für die Forschung wie für die christliche Theologie überhaupt wird bleiben die paradoxe Beziehung zwischen dem historischen, dem zu erforschenden und dem theologischen, dem zu glaubenden Jesus. Was sich wie ein eher moderner Gegensatz in den Forschungsstrategien und Forschungsgegenständen ausnimmt, ist in Wirklichkeit aber nur die Widerspiegelung der schon die Urchristenheit bewegende Grundparadoxie, die sich in dem Dogma von der zweifachen Natur Christi ausdrückt: Wahrer Mensch und wahrer Gott. Wäre Jesus wirklich immer nur als ein höchst vorbildlicher, gar ein idealer Mensch wahrgenommen worden, als der Humanist schlechthin - so wäre es kaum verständlich, daß die Erinnerung an ihn zwei Jahrtausende hätte bewegen können. Andere Menschen von gleicher Idealität hätten sich gewiß immer wieder gefunden; so einmalig kann ein einzelner Mensch gar nicht sein. Umgekehrt: Wäre in ihm nur eine Verkörperung einer Idee, ein Gott im Schein des Menschengewandes, der nicht konkret gelebt, gelitten hat und gestorben ist, eine "abstrakte Verkörperung" einer Idee also, dann hätten wir es allenfalls mit einem spekulativen Konstrukt zu tun, dem ebenfalls keine bleibende Wirkungsgeschichte beschieden sein kann. Also: Nicht halb Mensch, halb Gott, sondern eben: Wahrer Mensch und wahrer Gott. Wie jedes echte Paradox, so kann auch dieses nicht in einem rationalen Kalkül und Argument aufgehen. Das Paradox läßt sich nicht zu Ende denken - und deshalb kommt das Denken darüber auch nicht zum Ende.

Ernst Bloch brachte als marxistischer Denker und Utopiker die eine Seite des Sachverhalts, also das Scheitern des Versuchs, "Jesus in lauter Legende aufzulösen, mit niemandem dahinter", zum Ausdruck, indem er hinwies auf den "geschichtlich-realen Widerstand, den die Person Christi zeigt" gegenüber allen solchen Auflösungsversuchen: "So lebt christlicher Glaube wie keiner von der geschichtlichen Realität seines Stifters, er ist wesentlich Nachfolge eines Wandels, nicht eines Kultbilds und seiner Gnosis. Diese reale Erinnerung wirkte über die Jahrhunderte hinweg: Nachfolge Christi war auch bei noch so großer Verinnerlichung und Spiritualisierung primär eine historische und daran erst eine metaphysische Erfahrung. Dies konkrete Wesen Christi war seinen Gläubigen wichtig, es gab ihnen, in betäubender Schlichtheit, was kein Kultbild oder Himmelsbild hätte geben können." Folglich kann auch die Bergpredigt nicht aufgelöst werden in ein fernes Himmelsbild, in eine bloße Kultlegende.

Dazu eine Nachschrift: Der protestantische Schriftsteller Jochen Klepper sah im Dezember 1942, nach einer letzten Verhandlung mit Adolf Eichmann, keine Aussicht mehr, seine jüdische Frau und deren Tochter vor der Deportation durch die Nazis zu schützen. Er, der nun alles verloren sieht, auch seinen ursprünglich arglosen Gehorsam gegenüber dem deutschen Staat, - er und die beiden Frauen gehen gemeinsam in den Tod. Hernach fanden Christen es angebracht, vorwurfsvoll zu fragen, ob dieser Freitod nicht eine Sünde war - anstatt sich vorzuwerfen, daß dies wirklich Sünde ist: das Äußerste, und oft nicht nur dieses, unterlassen zu haben, Juden zu schützen - auch auf daß man sie und sich "als eines kennt". Immerhin, Kleppers Lieder stehen heute in den Gesangbüchern beider Kirchen. Auch das auf die Adventszeit gehörige Die Nacht ist vorgedrungen. Dort heißt es: "Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein." Was ist das anderes als ein kaum verborgenes Zitat der zweiten Seligpreisung, die jenen gilt, die schlechterdings alles verloren haben und denen nur noch Trauer, Depression und Verzweiflung bleiben - diesmal in der lukanischen Fassung: "Selig seid ihr, die ihr jetzt weint; denn ihr werdet lachen."

Unglaublich! Aber wahr?

Als Radikaler im religiösen Dienst

"Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen": Teil III der ZEIT-Serie über die Bergpredigt

Sanftmut - wir kennen dieses Wort wohl nur noch als biblisches Zitat, vielleicht sogar nur noch der Seligpreisungen der Bergpredigt wegen. Was könnte Sanftmut heute für eine Tugend sein? Denn nach und nach verlagert sich der Schwerpunkt der Seligpreisungen von Tatbeständen zu Tugenden.

Sanftmut liegt in seiner urtextlich offenen Bedeutung nahe bei der Demut, gewiß im Gegensatz zum Zorn, deutet auf Gewaltlosigkeit und meint schließlich Freundlichkeit. In anderen Zusammenhängen steht die Sanftmut bei der Geduld, der Weisheit. Aber was hieße dies alles genau? "Passiver Widerstand", wie Schalom ben Chorin schreibt? Oder hatte im Gegenteil der Reformator, Politiker und der als Feldprediger gefallene Huldrich Zwingli recht, wenn er ganz im Gegenteil behauptete, Sanftmut dulde nicht, daß jemandem "Gewalt und Unrecht angetan wird"? Zum Beispiel im Kosovo.

Und ausgerechnet die Sanftmütigen sollen das Erdreich besitzen? Wie dieses? Eine genauere Übersetzung würde freilich an die Stelle von "besitzen" das Wort "empfangen" setzen. Oder schreibt gar wie die katholische "Einheitsübersetzung" schrecklich unpoetisch: "Selig, die keine Gewalt anwenden; denn sie werden das Land erben." Damit ist aber der Blick vom Besitz zum Erwerb gelenkt - und zwar zu einem keineswegs selbsttätigen Erwerb. Man empfängt und erbt eben aus der Hand anderer. Und immerhin in dem sich daraus ergebenden negativen Sinne könnte diese Seligpreisung gerade dem modernen Menschen einleuchten: Was man sich zu Unrecht, gar mit Gewalt nimmt, das wird man nicht in Frieden und auf Dauer besitzen. Fast wäre man versucht, aus dieser Perspektive einen aktuellen Blick auf den Balkan, auf den gesamten Nahen und Mittleren Osten zu werfen ... Wenn einem die jüngere deutsche Geschichte nicht als Anschauungsmaterial ausreicht und den Mund verschließt.

Das bezeichnende Paradox allerdings liegt in der Frage: Wie kann ein solcher Satz einem Mann wie Jesus von Nazareth zugeschrieben werden, da es doch gerade seine spezifische Radikalität war, die ihn in Konflikt mit den zeitgenössischen Obrigkeiten, schließlich ans Kreuz - aber endlich auch in die ungebrochene historische Erinnerung brachte? Diese Radikalität äußert sich besonders drastisch in der Szene der Tempelreinigung und in seinem für die theologischen Autoritäten seiner Zeit absolut skandalösen Diktum, er werde den Tempel, also das geheiligte Zentrum des Judentums, abreißen und in dreien Tagen wieder aufbauen. Radikalisierung ist aber auch die Tendenz der Bergpredigt. Freilich: in welchem Sinne und in welcher Richtung?

Als ein Paradigma solcher Radikalisierung gelten die sechs Antithesen der Bergpredigt, in denen hergebrachte mosaische Gesetze besonders zugespitzt interpretiert werden. Diese "Thoraverschärfung" treibt die ethischen Anforderungen an die äußersten Grenzen, ja, nach allem menschlichen Ermessen über die Grenzen des Erfüllbaren hinaus. Es kennzeichne, so Ulrich Luz, diese Antithesen oft etwas Hyperbolisches, Unrealistisches und Überspanntes; immer wieder stelle man betroffen fest, daß Jesu Forderungen ihre innerweltlichen Konsequenzen kaum bedenken: "Der Ausleger kann sie entweder als orientalisch-überschwengliche Redeweise nicht ernst nehmen, oder er muß feststellen, daß sie bewußt schockieren und verfremden wollen, dann aber ernst gemeint sind, samt ihrer Überspanntheit und Realitätsblindheit." Und zwar in allen sechs Antithesen:

Vom Töten: Lapidar heißt es in den Zehn Geboten: "Nicht morden" - womit ursprünglich (und das macht die anschließende Verschärfung um so deutlicher) das Töten unter Verstoß gegen Gesetz und Ausnahmen gemeint war. Auf das Zitat folgt die antithetische Zuspitzung: "Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Nichtsnutz!, der ist des Hohen Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr!, der ist des höllischen Feuers schuldig." Aber ist dies wirklich überspannt zu nennen? Wäre der Judenmord im "Dritten Reich" möglich gewesen, wenn diese Antithese in aller Schärfe im Bewußtsein geblieben wäre, zumindest aller Kirchenleute und Christenmenschen? Wenn nicht der kurzzeitige "Reichsbischof" Ludwig Müller wie folgt aus dieser Antithese "verdeutscht" hätte: "Wer aber aus solcher Gesinnung seinen Volksgenossen böswillig beschimpft und verfolgt, der macht sich erst recht schuldig"? (Der "ReiBi" übrigens übersetzte die Seligpreisung der Sanftmut wie folgt: "Wohl dem, der allzeit gute Kameradschaft hält. Er wird in der Welt zurecht kommen.") Angesichts dieses Ungeistes der Ausgrenzung auch mit einem Text, der das ultimative Wort gegen jegliche Ausgrenzung darstellt, wird erst ersichtlich, welchen Mut es schon kostete, als Dietrich Bonhoeffer im Jahr darauf drucken ließ: "So prüfe sich die Gemeinde der Jünger Jesu, ob sie sich nicht hier und dort an Brüdern schuldig wissen muß, ob sie der Welt zuliebe nicht mithaßte, mitverachtete, mitschmähte und so des Mordes am Bruder schuldig ist." Ein Jahr vor der Reichspogromnacht veröffentlicht! - Der vermeintliche Extremismus der Antithese wurde in unserer Geschichte durch den Extremismus des realen Verbrechens für immer in den Schatten gestellt.

Vom Ehebruch: In ähnlicher Weise wie das Mordverbot wird das archaische Verbot des Ehebruchs radikalisiert: "Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen. Wenn dich aber dein rechtes Auge zum Abfall verführt, so reiß es aus und wirf's von dir." - Die Ethik der Bergpredigt ist nun in der Tat universal orientiert und nicht von der verklemmten Moralität spießbürgerlicher Muffigkeit. Daß uns heute vor lauter Abwehr gegen die Spießigkeit fast nichts mehr außer Beliebigkeit einfällt, könnte ein eigenes Thema sein.

Von der Eheschliessung: Auch hier die typische Zuspitzung: "Ich aber sage euch: Wer sich von seiner Frau scheidet, es sei denn wegen Ehebruchs (eine merkwürdig pragmatische Sanktion des Matthäus!), der macht, daß sie die Ehe bricht; und wer eine Geschiedene heiratet, der bricht die Ehe.

Vom Schwören: Höchst aktuell, im Rückblick auf die Vereidigung der ersten rot-grünen Bundesregierung, wenn auch längst nicht mehr brisant, wirkt die jesuanisch zugespitzte Interpretation des Eidverbotes - obwohl ein Politiker, der aufgrund unserer Verfassung bei seiner Vereidigung die religiöse Beteuerung ablehnt, gerade nicht dazu angehalten ist, seine heutzutage (noch) abweichende Formenwahl eigens religiös zu begründen: "Ich aber sage euch, daß ihr überhaupt nicht schwören sollt ... Euere Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel." Ist heute der Verzicht auf die religiöse Beteuerung zu Recht risikolos (und auch nicht als ethisch bedenklich zu qualifizieren), so war zuvor gerade die religiös begründete Eidesverweigerung (oder auch nur der religiöse Eidesvorbehalt) geradezu lebensgefährlich - für das Regime und deshalb für seine Kritiker; soviel zur politischen Relevanz der Bergpredigt. Allerdings war Bonhoeffers Kommentar im Jahr 1937 zugleich lebensnotwendig: "Da aber der Christ auch niemals über seine Zukunft verfügt, ist ein eidliches Gelübde, z. B. ein Treueid für ihn von vorneherein von größten Gefahren bedroht. Denn nicht nur seine eigene Zukunft hat der Christ nicht in der Hand, sondern erst recht nicht die Zukunft dessen, der ihn mit dem Treueid bindet. Es gibt für den Christen keine absolute irdische Bindung." In diesem letzten Satz steckt die ganze Widerständigkeit der Bergpredigt und des Christentums (von wegen immerzu nur das Bündnis von Thron und Altar!) - und zugleich der Hinweis, wie oft sie verfehlt wurde.

Von der Vergeltung: In der vierten Antithese wird die Rechtsformel "Auge um Auge, Zahn um Zahn" gewendet in die Forderung: "Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar." Wir werden an späterer Stelle erfahren, wenn in der vierten Seligpreisung grundsätzlich von der Gerechtigkeit die Rede sein wird, daß wir dazu neigen, beides einseitig zu verstehen, die These wie die Antithese.

Von der Feindesliebe: Die letzte Antithese zitiert zunächst merkwürdigerweise ein Gebot, das schon im Zitat verschärft, ja verfälscht wird: "Ihr habt gehört, daß gesagt ist: ,Du sollst deinen Nächsten lieben' und deinen Feind hassen." Es gibt freilich nirgendwo in der Thora eine Forderung, den Feind zu hassen. Wie der Autor Matthäus auf diese Entstellung gekommen sein mag? Ein fatales, weil antijudaistisch zu interpretierendes Stilmittel, um die anschließende Zuschärfung nur um so stärker wirken zu lassen: "Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen ..."?

Sinn und Tendenz dieser in den sechs Antithesen enthaltenen Thoraverschärfungen werden deutlicher, wenn man sie in Beziehung setzt zu Berichten an anderer Stelle über Lehrdialoge, in denen Jesus umgekehrt Gebote aus der Thora entschärft, zum Beispiel das Sabbatgebot ("Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen" Markus 2,27) oder das Reinheitsgebot ("Es gibt nichts, was von außen in den Menschen hineingeht, das ihn unrein machen könnte; sondern was aus dem Menschen herauskommt, das ist's, was den Menschen unrein macht" Markus 7,15).

Ein Vergleich zeigt: Verschärft werden Gebote, wo es um das Verhältnis zu Mitmenschen geht - also ethische Normen: das verabsolutierte Tötungsverbot -, zugespitzt zur Feindesliebe. Entschärft werden hingegen reine Kultgebote, also rituelle Normen.

Die eigentliche Radikalisierung findet aber statt in der Beanspruchung des Mandats zu einer so souveränen Interpretation: "Ich aber sage euch ..." Nicht also: Das Gesetz gebietet ein bestimmtes Verhalten. Nicht einmal heißt es: "Gott spricht zu euch ..." Sondern charakteristisch ist gerade die auch für uns heutige Leser noch unglaubliche Zuspitzung ethischer Anforderungen ("Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist") - und zwar auf der Grundlage der für die damaligen orthodoxen Juden unglaublichen Inanspruchnahme souveräner Autorität. Dies schließlich durch einen Prediger, der in seinem Selbstbewußtsein nicht mit dem Judentum brechen, sondern nichts anderes sein will als eben - ein frommer Jude. Das aber war für die Mehrheit seiner (geistlich und weltlich herrschenden) Zeitgenossen gerade der Skandal!

Was ist dies für eine radikalisierte Ethik, die derartig extreme Forderungen stellt - zugleich aber an das gegenwärtige Leben, in der sich diese Ethik zu bewähren hätte, fast keine Ansprüche mehr stellt? Ja, der in einem schier endzeitlichen Abschnitt der Bergpredigt nur noch so wenig von der Gegenwart erwartet, daß es der konkreten Lebenssituation aller "vernünftigen" Leser noch heute vollkommen zuwiderlaufen muß: "Darum sage ich euch: Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, daß jeder Tag seine eigene Plage hat."

Das Selbstbewußtsein des historischen Jesus war offenbar von einer unmittelbar bevorstehenden Zeitenwende bestimmt. Wir würden heute, vor der nächsten Jahrtausendwende, vor dem nächsten Millennium vielleicht sagen: vom Bewußtsein eines millennaristischen Umbruchs aller Dinge. Ernst Bloch schrieb deshalb: Der Apokalyptiker Jesus "erwartet eine Umwälzung, die ohnehin keinen Stein auf dem anderen läßt, und erwartet sie im nächsten Augenblick, von der Natur, von der Überwaffe einer kosmischen Katastrophe. Die eschatologische Predigt hat vor der moralischen bei Jesus den Primat und bestimmt sie. Nicht nur die Wechsler werden, wie Jesus tat, aus dem Tempel mit der Peitsche hinausgetrieben" - soviel zur Sanftmütigkeit! -, "sondern der ganze Staat und Tempel fällt, gründlich, durch Katastrophe, in kurzem. Das große eschatologische Kapitel (Markus 13) ist eines der bestbezeugten im Neuen Testament; ohne diese Utopie kann die Bergpredigt gar nicht verstanden werden. Wird die alte Veste so bald und so gründlich geschleift, dann erscheinen dem Jesus, der den ,gegenwärtigen Äon' ohnehin als beendet ansah und an die unmittelbar bevorstehende Katastrophe glaubte, auch ökonomische Fragen sinnlos; daher ist der Satz von den Lilien auf dem Feld viel weniger naiv, mindestens auf ganz anderer Ebene befremdlich und disparat, als er erscheint."

Dann aber tut sich ein neues Paradox auf: Sollte es sich bei der Bergpredigt in der Tat - wie Albert Schweitzer schrieb - um eine "Interimsethik" handeln, eine ethische Weisung für die äußerst kurz bemessene Spanne vor dem kosmischen Äonenwechsel, vor der Millenniumswende, dann wäre diese Radikalisierung selber nur der Ausdruck und Anbruch der letzten Krisis; aber keine Ethik für eine allem späteren Erfahrungsschein nach doch auf Dauer gestellte Welt. Damit betreten wir indessen schon das Gebiet der vielfältigen Versuche, die ethischen Imperative der Bergpredigt auf ein "erträgliches" Maß zu entspannen.

Zuvor stoßen wir allerdings auf ein grundsätzliches Problem - vor aller Auslegung. Wem haben wir diese "überspannte" Radikalisierung eigentlich zu verdanken? Ist sie in den authentischen Jesus-Worten so (und vor allem: so umfassend) enthalten? Ist sie erst durch den End-Redaktor Matthäus um das Jahr 90 nach Christus eingeschärft worden - und damit 40 Jahre nach den ersten Zeugnissen der Theologie des Paulus. Oder ist diese Tendenz durch die Tradenten in den 60 Jahren seit dem Tode Jesu ganz oder teilweise vorbereitet? Und was würde denn die eine oder andere, die so oder so immer noch (einigermaßen) umstrittene Antwort für unsere heutige Auslegung, für die Autorität des Textes heute bedeuten?

Soviel gilt als sicher: Wesentliche Partikel der Bergpredigt gehen auf Jesus-Worte zurück; welche im einzelnen, das spielt für das prinzipielle hermeneutische Problem keine so große Rolle. Also nicht alles stammt von ihm. Andererseits: Nicht alles ergänzende Material stammt von Matthäus, einem - dem Konsens plausibler Vermutungen zufolge - "Vertreter eines liberalen hellenistischen Diaspora-Judenchristentums" (Udo Schnelle), irgendwo in Syrien. Hans Dieter Betz geht bis zu der Annahme, Matthäus habe den gesamten Text der Bergpredigt als judenchristliche Komposition vorgefunden und als "ein langes Zitat" in sein Evangelium eingefügt; sie gehöre in das frühe Judenchristentum und in die Mitte des 1. Jahrhunderts - als die Judenchristen sich noch als das ,wahre' Judentum darstellen wollten. An anderer Stelle schreibt er - da nichts am Text der Bergpredigt spezifische Einflüsse einer matthäischen Redaktion zeige: "Theologische Sprache und Denkweise der Bergpredigt sind jüdisch, nicht christlich." Theologische Ausdrucksweisen und Ideen in der Bergpredigt seien ausnahmslos auf die Begriffe des Judaismus des 1. Jahrhunderts zurückzuführen. Und folglich: "Jesus turns out to be a Christian in Jewish disguise" - Jesus entpuppt sich als ein Christ in jüdischem Gewande.

Daß wir es im ganzen mit einem Übergangsphänomen zu tun haben, steht außer Zweifel, selbst wenn man der zugespitzten These von Betz so nicht folgt: vom Judentum zum Christentum, vom historischen Jesus zum verkündeten Jesus, von den ersten Tradenten zu den Evangelisten. Was trägt dies alles für unser heutiges Verständnis aus?

Angenommen, man schriebe der These von Albert Schweitzer einige Plausibilität zu: Demnach war Jesus von Nazareth in seinem Bewußtsein durch die unmittelbare Naherwartung einer kosmischen Zeitenwende bestimmt - und bestimmt nicht an einer Ethik für das postindustrielle Zeitalter interessiert. Aber was besagt dies für die Tatsache, daß Matthäus noch 60 Jahre später an dieser Radikalität festhält, sie eher noch zuspitzt - obwohl er doch weit jenseits der antizipierten kosmischen Wende lebt? Und überdies auch die Hoffnung auf eine unmittelbare Wiederkehr des erhöhten Herrschers aufschieben, wenn nicht aufgeben mußte. Das Evangelium des Matthäus gilt einer judenchristlichen Gemeinde, die nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels lebt - ohne daß er in dreien Tagen wieder aufgebaut wurde (bis heute nicht!); einer Gemeinde, der er das nachlassende Bewußtsein schon wieder (betont) einschärfen muß.

Die Antwort ist so einfach wie schwierig: Die heutige Auslegung kann die historische Quellenlage keinesfalls ignorieren, sondern hat sie so genau wie möglich zu ermitteln. Aber die Quellen können uns nicht die verantwortliche Übersetzung in unsere Lebenslage abnehmen - sowenig, wie sich unsere vermeintliche Lebenslage über den Text, seine Quellen, seine Bedingtheiten hinwegsetzen kann.

Wie gewagt auch die Thesen von Betz sein mögen, er hat ein Bild gefunden, das seine Schönheit behält, auch wenn man es aus dem Betzschen Rahmen löst: Man könne die Bergpredigt "mit einem Juwel vergleichen, das eine wechselvolle Geschichte hinter sich hat und erst verhältnismäßig spät in einen passenden, aber doch ganz andersartigen Rahmen eingefaßt wurde ... Wie bei Edelsteinen so oft, so liegt auch der Ursprung dieses Juwels in geheimnisvollem Dunkel. Es ist deutlich, daß viele Hände an ihm gearbeitet und geschliffen haben. Je nach Beleuchtung schimmert er mal in dieser, mal in jener Farbe. All dies gibt ihm seinen besonderen Glanz und seine irritierende Lebendigkeit ..." Es ist an uns, dieses Juwel zu fassen.

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