"Selig
sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich": Teil
I der ZEIT-Serie über die Bergpredigt
Robert
Leicht
Die
Bergpredigt setzt schon im ersten Satz mit dem ein, was sie ihrem ganzen
Wesen nach ist: mit dem vollkommenen Widerspruch zu unserer Welt, wie
sie ist. Und doch zugleich mit dem endgültigen Ausdruck dessen, was
sie sein soll. In Zuspruch und Widerspruch formuliert dieser Leittext
den christlichen Anspruch auf die Welt - als deren vollendete Veränderung.
Nun
ist aber die Welt, wie sie ist. Hat dies der Bergpredigt die Kraft genommen,
nach 2000 Jahren des Christentums? Die Kraft genommen zumal angesichts
der Tatsache, daß das Christentum vom Widerspruch der Bergpredigt geprägt
ist - und ihr oft genug zuwider gelebt hat? Das Rätsel, man könnte es
fast ein Wunder nennen: Kein Text steht so quer zum vermeintlich wirklichen
Leben - und trotzdem läßt er die Menschen nicht los. Es ist so, als
glaubten sie in Wirklichkeit nicht, woran sie in der Wirklichkeit nicht
glauben. Vermeintlich nicht glauben.
Mit einem aberwitzig
erscheinenden Widerspruch setzt die Bergpredigt ein: "Selig sind,
die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich."
Eine
solche Behauptung widerspricht allen plausiblen menschlichen Erfahrungen.
Selbst wenn diese Behauptung nur als Futur gemeint wäre (Ja, irgendwann
im Himmelreich, das sie dann erben werden, werden sie für alle Unbill
hierzulande entschädigt werden...), wirkte sie als ein allzu billiger,
fast zynisch zu nennender Trost: Opium des armen Volkes. Aber nun
steht dieser Satz auch noch im Indikativ: Selig sind...
Es
gibt hier also vieles zu erklären: Wie kann dieses Gedicht der acht
Seligpreisungen, zwei Strophen zu vier Versen, das die Bergpredigt
einleitet, trotz seines offenkundigen Widerspruchs zu unseren Erfahrungen,
seines - wie es scheint - Widersinnes in unserer Welt, die Zeiten
überdauern? Wie kann die Bergpredigt zu einem Leittext unserer,
wie man so sagt: abendländischen Zivilisation geworden sein, obschon
doch das Abendland in seiner gesamten Geschichte den Imperativen
der Bergpredigt so wenig entsprechen wollte? Zu erklären bleibt
vor allem, wie nicht nur dieser christliche Kardinaltext, sondern
warum das Christentum überhaupt seine Geschichte überlebt hat. Und
hat es diese fast zweitausendjährige Geschichte wirklich überlebt,
endgültig?
Unser
Kulturkreis richtet sich immer hektischer auf den Jahrtausendwechsel
ein. Er steht uns bevor, weil unsere Zeitrechnung an der Biographie
ebenjenes Mannes anknüpft, dem die Bergpredigt zugeschrieben wird:
Wir leben - immer noch - im Jahre 1999 nach Christi Geburt, obschon
die alte DDR den gekünstelten Versuch unternommen hatte, das Kürzel
"n.Chr." zu ersetzen durch "u.Z." - unserer Zeit. Aber wer hätte
sie uns denn gegeben, unsere Zeit? Oder von wem hätten wir sie uns
genommen und sie uns angeeignet?
Wenn
also das Christentum bis heute überlebt hat, und zwar als die unsere
Zeitrechnung definierende Instanz, dann wegen der ungestillten Energie
von ursprünglichen Texten wie der Bergpredigt.
Die
Bergpredigt erklären heißt ein Stück dieser Widerspruchsgeschichte
erklären: zwischen Verfolgtsein und Herrschen, zwischen Krieg und
Frieden, Dogmatik und Toleranz, Einheit und Spaltung, zwischen Widerstand
und Ergebung, Märtyrertum und Verrat - zwischen Wein und Wasser,
in Predigt und Verhalten. Das, was die ursprünglichen Texte ausmacht,
war offenbar nicht umzubringen durch das, was aus ihnen gemacht
wurde. Es ist nicht nur so, daß der Text die Widersprüche ausgehalten
hätte; sondern die Widersprüche halten den Text offen, bewahren
ihn vor der gültigen, der endgültigen - und damit letztlich: un-gültigen
"amtlichen" Interpretation. Der Geist ist ein Wühler!
Freilich
gibt es auch historische Situationen, in denen Perfektion und Perversion
der Auslegung nahe beieinanderstehen.
Im
Jahr 1937 schrieb Dietrich Bonhoeffer sein Buch Nachfolge,
sein einziges sowohl klassisches, als auch vollendetes Werk - eine
strenge Auslegung aus dem Geist fast mönchischer Perfektion; ein
Buch, das seither mehrere Generationen von Theologen und Nichttheologen
geprägt hat. Nur ein Jahr zuvor hatte der von den Nazis und den
"Deutschen Christen" auf den Schild gehobene Reichsbischof Ludwig
Müller unter dem Titel Deutsche Gottesworte verkündet:
"Für Euch, meine Volksgenossen im Dritten Reich habe ich die Bergpredigt
,verdeutscht', nicht ,übersetzt'." Da wird dann aus dem griechischen
Ruf maka¢rioi oi` ei`rhnopoioi´, wird aus der lateinischen
Übersetzung beati pacifici, wird aus dem "Selig sind die
Friedfertigen" die "Verdeutschung": "Wohl denen, die mit ihren Volksgenossen
Frieden halten". Es ist das, ungeachtet seiner minimalen intellektuellen
Halbwertszeit, niederträchtigste und niedrigste Dokument der christlichen
Literaturgeschichte. Aber eben: Ein Jahr später reinigt Bonhoeffer
sozusagen Luft und Sprache.
"Selig
sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich."
Schon die erste der acht Seligpreisungen zeigt die der Bergpredigt
eigentümliche utopische Spannung an.
Utopie
- darunter hätte man im strengsten Sinne ein Nirgendwo zu verstehen,
einen Nicht-Raum. Oft genug in der Geschichte der Ideologien und
ihrer Macht ist aber das Nirgendwo, also auch das Nirgendwann zum
Irgendwann umgedeutet worden. Wenn etwas irgendwann geschehen soll
- warum dann nicht gleich? Das Problem des gewöhnlichen utopischen
Denkens fängt dort an, wo das eigentlich raum- und zeitlos Gedachte,
das Nirgendwo und Nirgendwann, in Raum und Zeit geholt werden soll:
ins Hier und Jetzt. Zur Not mit Gewalt.
Wie
viele Opfer hat die gewaltsame Auflösung dieses unaufhebbaren Widerspruchs
aller Utopie in der Menschheitsgeschichte gefordert, bis zum Zusammenbruch
der meisten kommunistischen Diktaturen in der jüngsten Vergangenheit?
Die
utopische Spannung der Bergpredigt - und damit des Christentums
- ist von anderer Natur: Der Gegensatz zwischen dem Nirgendwann
und Nirgendwo einerseits und seiner gewillkürten, und wenn es sein
muß: willkürlichen Einholung in Raum und Zeit, jetzt und hier, weicht
einer eigentümlichen Polarität von Noch-nicht und Jetzt-schon.
Das
Programm der Bergpredigt, wenn denn dieser Text sich auf ein Programm
reduzieren ließe, bleibt auf bezeichnende Weise in der Schwebe:
Keineswegs wird alles ins Jenseits verlegt (ins Irgendwann, schlimmstenfalls:
ins Nirgendwann); genausowenig ist die Rede davon, alles sei an
Ort und Stelle zu haben. Sondern ihre "Utopie" wird in einem unverfügbaren
Paradox gewissermaßen verewigt und verzeitlicht zugleich. Sie findet
ganz erst dort statt - doch diese Entscheidung ist für
ihre Hörer längst gefallen und bestimmt das Leben hier.
Indikativ
und Imperativ sind in einer paradoxen Weise ineinander verschränkt;
sie lassen einander gewissermaßen nicht mehr los. Die Utopie der
Bergpredigt entzieht sich damit aber der Beschlagnahme durch aktivistische,
ungeduldige, gewaltsame Revolutionäre. Und sie muß alle Reaktionäre,
alle Propheten des Status quo ständig beunruhigen. Dies ist einer
der Gründe dafür, daß dieser Text über dem opferreichen Gang der
Geschichte (auch der christlichen Geschichte) nicht zerstört wurde
- und noch heute, bis in die jüngsten Tage der Friedensbewegung,
verstörend wirkt. "Friedenspharisäer" nannte Alois Mertes, der damalige
Staatsminister im Auswärtigen Amt, jene Bürger, die sich unter Berufung
auf die Bergpredigt gegen die Nato-Nachrüstung wehrten. Wo doch
die Bergpredigt gerade über die Pharisäer hinausgesprochen wurde.
Und
wo die Bergpredigt nicht von Christen kritisch zitiert wird, wird
sie gegen die sich christlich bezeichnende Gesellschaft angeführt.
Zum Beispiel von Karl Marx: "Straft nicht jeder Augenblick eures
praktischen Lebens eure Theorie Lügen? Haltet ihr es für Unrecht,
die Gerichte in Anspruch zu nehmen, wenn ihr übervorteilt werdet?
Aber der Apostel schreibt, daß es Unrecht sei. Haltet ihr euren
rechten Backen dar, wenn man euch auf den Linken schlägt, oder macht
ihr nicht einen Prozeß wegen Realinjurien anhängig? Aber das Evangelium
verbietet es... Handelt der größte Teil eurer Prozesse und der größte
Teil der Zivilgesetze nicht vom Besitz? Aber es ist euch gesagt,
daß eure Schätze nicht von dieser Welt sind." Selbst gegen den Strich
gebürstet, also im Widerspruch gelesen, spürt man noch das Pathos
des Urtextes.
Immer
wieder hat die Bergpredigt - nachzulesen im 5. bis 7. Kapitel des
Matthäusevangeliums - Menschen fasziniert, und zwar nicht obwohl,
sondern weil es sich um jenen Teil der Bibel handelt, "der die extremste
ethische Struktur besitzt und gleichzeitig eine subversive Sprengkraft
enthält, die an die Stelle kritischer Kooperation mit dem Bestehenden
eine radikale Absage an die modernen Lebensformen setzt", so schrieb
es die Innsbrucker Literaturwissenschaftlerin Maria Deppermann.
Nicht
zufälligerweise wurde gerade Leo Tolstoj von diesem Text angezogen.
Auf Tolstojs an die Bergpredigt gelehnte Lehre vom "Nichtwiderstreben
gegenüber dem Bösen mit Gewalt" beriefen sich wiederum so verschiedene
Männer wie Mahatma Gandhi, George Bernard Shaw und Romain Rolland.
Ludwig Wittgenstein trennte sich in der Begegnung mit Tolstojs Ideen
als junger Mann von seinem immensen Vermögen, verzichtete auf seine
Karriere und unterrichtete zu Anfang der zwanziger Jahre dieses
Jahrhunderts als Dorfschullehrer: "Gestern fing ich an, in Tolstojs
Erläuterungen zu den Evangelien zu lesen. Ein herrliches Werk",
so hatte er schon 1914 notiert. Fünf Jahre später wird Max Weber
seinen Vortrag Politik als Beruf gerade gegen diesen Interpretationsstrang
der Bergpredigt halten.
Ob
in allen diesen Berufungen und Anleihen wirklich die Bergpredigt
selber zum Vorschein kommt, sei dahingestellt; ihre Auslegung ist
ohnedies von Anfang an kontrovers und bleibt auch künftig umstritten.
Wie ist das Gebot der Feindesliebe zu verstehen: "Liebt eure Feinde
und bittet für die, die euch verfolgen..."? Wie der Verzicht auf
Gegenwehr: "daß ihr nicht widerstehen sollt dem Übel"? Wie die Rede
gegen die Sorge um den nächsten Tag: "Seht die Vögel unter dem Himmel
an..."?
Dies
alles sind Forderungen, die nicht in unseren Alltag passen - die
aber gleichwohl ins Repertoire unserer kollektiven poetischen Erinnerung
eingesunken sind. Wie, wenn sie uns nicht beträfen?
In
gewisser Weise macht ebendies das Wesen christlicher Urtexte aus:
Sie entziehen sich jeder Anwendbarkeit im Sinne restloser Erfüllung
und damit der Erledigung. Sie verweigern sich der Eindeutigkeit
in dem Sinne, daß das Gespräch und der Streit über sie je zum Stillstand
kommen könnte. Gerade diese unaufgelöste, vielleicht unauflösbare
(und: uneinlösbare) Umstrittenheit macht aber weiterhin ihre störende
Vitalität aus. Und die des Christentums, wo es nicht jedes Salz
verloren hat - auch dies ein Bild aus der Bergpredigt.
Das
Paradox der Geschichte der zweimal tausend Jahre ist dieses: Die
christliche Theologie kann in der Tat gelesen werden als Umsturz
aller gesicherter und anerkannter Lebensvorstellungen, zumal aller
ersehnten bürgerlichen Sekurität.
Niemand
hat dies schärfer und einseitiger formuliert als Friedrich Nietzsche:
"Die modernen Menschen, mit ihrer Abstumpfung gegen alle christliche
Nomenklatur, fühlen das Schauerlich-Superlativische nicht mehr nach,
das für einen antiken Geschmack in der Paradoxie der Formel ,Gott
am Kreuze' lag. Es hat bisher noch niemals und nirgendwo eine gleiche
Kühnheit im Umkehren, etwas gleich Furchtbares, Fragendes und Fragwürdiges
gegeben wie diese Formel: sie verhiess eine Umwerthung aller antiken
Werthe."
Wie
ist es zu erklären, daß die Menschen, ob sie nun gläubig sind oder
nicht, jedenfalls diese Umwertung aller Werte nicht schlicht und
einfach als lächerlich ignoriert haben? Weil sie im letzten Grunde
- vielleicht unbewußt - ihren eigenen real existierenden Werten
noch weniger trauen. Offenbar liegt unter der Oberfläche selbst
des banalsten und trivialsten Lebens noch ein Minimum an utopischer
Spannung - eine Resonanz des richtigen Lebens im Falschen.
Die
Umwertung aller Werte. Wie könnte sie sinnlicher ausgedrückt werden
als in der ersten Seligpreisung? "Selig sind, die da geistlich arm
sind; denn ihrer ist das Himmelreich." Doch schon ergeben sich Fragen
bei der näheren Bestimmung. Den Kern dessen, was bei Matthäus zur
Bergpredigt reift, erkennen wir auch bei Lukas. Ein und dasselbe
Material in den benutzten Quellen wird bei Matthäus in der "Bergpredigt",
bei Lukas zur "Feldrede" verarbeitet. Und schon in der ersten Seligpreisung
findet sich eine bezeichnende Abweichung. "Selig seid ihr Armen",
so schreibt Lukas. Hingegen Matthäus: "Selig sind, die da geistlich
arm sind".
Auf
den ersten Blick liest sich Lukas sozial konkreter. Zudem polemisiert
Lukas wenige Zeilen später ausdrücklich gegen die Reichen: "Weh
euch Reichen! Denn ihr habt euren Trost schon gehabt." Ist Lukas
also "politischer", auch "authentischer", Matthäus aber schon ins
Spirituelle abgelenkt und entschärft? Wir kommen darauf zurück.
Zunächst bleibt es bei dem Ärgernis, daß Armut rein als solche zum
Ausgangspunkt einer Verheißung wird. Muß das nicht zynisch wirken?
Der
Schweizer Theologe Karl Barth schrieb von den Seligpreisungen als
einem Paradox: "Es ist klar, daß das, was da als das Dransein dieser
Menschen beschrieben wird, an sich gar nicht Charakter des Erfreulichen
und Erwünschten hat. Keine Rede aber auch von einem sonstigen, etwa
verborgenen immanenten Wert dessen, worauf diese Seligpreisungen
blicken! Es hat das Neue Testament so wenig wie das Alte das Erfreuliche,
das Positive, das Leben als eine heimliche Qualität des Unerfreulichen,
des Negativen, des Todes angesehen und gerühmt. Es hat Schwarz nicht
Weiß genannt, und also das üble Dransein jener Menschen durchaus
nicht als ihr wahres Wohlsein interpretiert."
Die
"Umwerthung aller Werthe" ist also nicht gleichbedeutend mit der
Umwertung aller Unwerte. Aber doch mit der Aufwertung des Unwürdigen.
Der
marxistische Philosoph Ernst Bloch hat diesen Perspektivenwechsel
eindrucksvoll formuliert: "Es dauert nicht mehr lange, bis die Tafel
verkehrt wird und die Letzten die Ersten werden. Armut steht dem
Heil am nächsten." Da trifft sich übrigens der Marxist Bloch mit
dem Theologen Karl Barth, der denselben Sachverhalt so ausdrückte:
"Sie befinden sich in ihrem Elend an der äußersten Grenze des mit
dem Reich Gottes konfrontierten, durch den Menschen Jesus zu erneuernden
Kosmos."
Weiter
im Text mit Bloch: "Armut steht dem Heil am nächsten, Reichtum hindert
es, inwendig und auswendig. Aber Armut ist bei Jesus mitnichten
bereits ein Stück des Heils, dergestalt, daß sie nicht vernichtet
werden müsse. Nirgends wird Armut, als übliche, erzwungene, erbärmliche,
verteidigt, geraten wird nur freiwillige Armut, und der Rat zu ihr
ergeht nur an die Üppigen... Und auch die freiwillige Armut gilt
nicht als Selbstzweck, wenigstens soweit der Rat zu ihr ergeht und
nicht die Liebe die Armen erwählt; wovon später."
Zurück
zur Frage, ob Matthäus die Seligpreisung entschärft, indem er ihr
den spiritualisierten Zusatz beifügt: "die da geistlich arm sind".
Eine Entschärfung wäre höchst unwahrscheinlich im Zusammenhang der
radikalen Theologie des Matthäus. Gemeint oder gar gefordert ist
also weder eine bejahende Einstellung zur eigenen materiellen Armut.
Noch kann gelesen werden: "Du bist zwar reich, das macht aber nichts,
solange Du wenigstens weißt, daß Du gerade in Deinem äußeren Reichtum
innerlich arm bist." Es geht weder um ein gutes Gewissen im Elend
noch um ein schlechtes Gewissen im Wohlleben. Sondern die Rede ist
von einem objektiven Zustand: Armut. Geistlich arm ist also zu verstehen
als die Armut derer, die schlechterdings gar nichts haben - noch
nicht einmal den vermeintlichen Reichtum der spirituell überwundenen
materiellen Armut, noch nicht einmal das bessere Bewußtsein gewollter
Askese.
Deshalb
ist die Alternative "Politisierung bei Lukas" oder "Spiritualisierung
bei Matthäus" tatsächlich insofern falsch, als beide Male gemeint
sind jene, die in jeder Beziehung draußen und drunten sind. Das
griechische Wort, das an dieser Stelle steht, trägt die stärkstens
mögliche Färbung, nämlich: bettelarm. Martin Luthers letzter Satz
auf dem Sterbebett lautete - realistisch, nicht positiv moralisierend:
"Wir sind Bettler, das ist wahr." Auch dieser Wahrheit gilt die
erste Seligpreisung. Aber nicht, um es dabei zu belassen.
(c)
DIE ZEIT 1999
Ein
ganz frommer Jude
"Selig
sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden": Teil
II der ZEIT-Serie über die Bergpredigt
Robert
Leicht
Der
Sprache der Bergpredigt eignet eine poetischen Stärke, die sich
tief in unser allgemeines Gedächtnis eingeprägt hat. Wir ahnen,
was die Worte meinen, wissen, daß unser Deutsch ohne diese Worte
arm wäre - benutzen sie selber aber kaum oder gar nicht: Sanftmut,
Barmherzigkeit, wann hätten wir die Worte jemals gebraucht, in einem
Brief, in einem Gespräch? Worte, die einen Überschuß an Erwartungen
tragen, die wir selber kaum einzufordern, erst recht nicht einzulösen
wagen - die wir aber noch längst nicht aufzugeben bereit sind: Worte
wie Hoffnungen.
"Selig
sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden." Wir
kennen von der zweiten Seligpreisung nur noch, als Restbestand,
den Ausdruck: die Leidtragenden. Oder die schnoddrige, kaum jemals
wirklich so gemeinte Floskel: "Tut mir leid..." (verletzt worden
ist dabei ohnedies der andere). Was bei Matthäus als ein objektiver
psychologischer Sachverhalt ("die Trauernden" - so die weniger poetische
direkte Übersetzung) bezeichnet wird, beschreibt Lukas fast als
physiologischen Tatbestand: "...die ihr jetzt weint."
In
der Auslegungsgeschichte wurde aus dem Trauern gewissermaßen ein
Transitivum gemacht und gefragt: Trauern worum? Die frühkirchlichen
Ausleger des Matthäus unterstellten, die Leidtragenden trauerten
nicht über den Zustand der Welt, sondern konkret über eigene und
fremde Schuld. Die in der Seligpreisung gemeinten Leidtragenden
trauern aber nicht über etwas Bestimmtes (und für eine Weile), sondern
schlechthin; sie tun nichts anderes, ihnen bleibt nichts anderes.
Sie sind im Grunde noch schlimmer dran als die Armen aus der ersten
Seligpreisung. Die Armen haben nichts, sie haben noch nie etwas
gehabt. Die Trauernden, die nur noch Leid Tragenden, haben nichts
mehr - sie haben bereits alles verloren. Diese allumfassende Trauer,
diese totale seelische Sonnenfinsternis formuliert Ulrich Luz in
seinem bedeutenden Matthäus-Kommentar folgendermaßen: "Mit ,Trauer'
ist alle Trauer dieses Äons umschlossen, die im kommenden Äon durch
Trost abgelöst sein wird."
Damit
stellen sich aber die entscheidenden Fragen: Wer sollte die Zeitenwende
herbeiführen? Es stellt sich also die Frage nach der Autorität des
Bergpredigers: Wer war - und wer ist - Jesus von Nazareth? Was schließlich
macht seine Autorität für unsere heutige Auslegung aus?
Offen
zutage liegt die Faszination, die von dieser Gestalt durch die gesamte
bisherige Geschichte ausging. Immerhin hat selbst Rudolf Augstein
ihr ein Buch gewidmet: Jesus Menschensohn. Der jüngste,
wenngleich peinliche Ausläufer eines solchen literarischen Interesses
ist Norman Mailers letztes Buch Das Jesus-Evangelium, das
im Gestus einer Autobiographie Jesu verfaßt ist: "Die Kraft verließ
mich, und das Leben wich aus mir und ging in den Geist über. Ich
hatte nur Zeit zu seufzen: ,Es ist vollbracht'. Dann starb ich..."
Wenn
man einmal von der ästhetischen und theologischen Geschmacksverirrung
Norman Mailers absieht: das Scheitern solcher Entwürfe hat nicht
zuletzt damit zu tun, daß es nicht einmal möglich ist, auch nur
eine verläßliche und erzähltüchtige Biographie des Jesus von Nazareth
zu schreiben. Die jüngste, im angelsächsischen Sprachraum initiierte
wissenschaftliche Forschungsrichtung bezeichnet sich selber mit
dem bescheidenen Schlagwort "the ,third quest' for the historical
Jesus" - die dritte Suchaktion nach dem historischen Jesus.
Das derzeit beste Buch zum Thema "Der historische Jesus" ist die
gleichnamige Arbeit von Gerd Theißen und Annette Merz; wir stützen
uns im Folgenden darauf. Es umfaßt mehr als 500 Seiten, demonstriert
aber das Fragmentarische des historischen Faktenwissens bewußt dadurch,
daß es für den summarischen Schlußbericht mit gut drei Seiten auskommt.
Weshalb trotz dieser schütteren Fakten diese oft erschütternde Faszination?
Welche Rolle spielt dafür die historische Existenz Jesu? Oder geht
die Wirkungsgeschichte allein zurück auf den nachösterlichen Glauben
der Jünger, die sich auf Erscheinungen des ihnen Auferstandenen
beriefen? In welchem Verhältnis zueinander stehen also der historische
und der theologische Jesus? Die Dialektik zwischen dem "gewußten"
und dem "geglaubten" Jesus hätte, so scheint es, zum Tod der Theologie
werden können, ja: müssen. Es gehört zur Faszination des Phänomens,
daß dies immer noch nicht der Fall ist.
Die
Herausforderung der theologischen Überlieferung durch die historische
Forschung ist ein notwendiges und legitimes Kind der Aufklärung.
Hermann Samuel Reimarus (1694 bis 1768) hat als erster die rein
historische Sonde angesetzt: "Ich finde große Ursache, dasjenige,
was die Apostel in ihren eigenen Schriften vorbringen, von dem,
was Jesus in seinem Leben würklich selbst ausgesprochen und gelehrt
hat, gänzlich abzusondern." Erst in den Jahren 1774 bis 1778 veröffentliche
Gotthold Ephraim Lessing diese Gedanken als anonymes Fragment. Hinter
diesen Paradigmenwechsel kommt keine Theologie mehr zurück: Nicht
daß Ursprung und Überlieferung überhaupt nichts miteinander zu tun
hätten - die Behauptung hält selber der historischen Kritik nicht
stand -, aber die Unterscheidung bleibt notwendig.
Der
wissenschaftlichen Aufklärung werden die übernatürlichen Geschichten
fremd, sie sucht zunächst nach rationalen Erklärungen, (fast) nach
dem Muster: Wenn jemand über Wasser gehen kann (oder doch den Eindruck
dessen erweckt), dann waren wohl zufällig Steine kurz unter dem
Wasserspiegel verborgen...
Albert
Schweitzer, der Theologie, Musiker, Mediziner und Philanthrop, markiert
in seinem epochalen Werk Geschichte der Leben-Jesu-Forschung
die nächste Entscheidung, vor die ein junger Theologe die gesamte
Forschung stellte, wie folgt: "entweder rein geschichtlich oder
rein übernatürlich". Es scheint, als ob sich die Wissenschaft in
der Tat ruckweise bewege: "Auf die supranaturale Erklärung der Ereignisse
des Lebens Jesu war die rationale gefolgt und hatte sich vermessen,
wie jene alles ins Übernatürliche deutete, so alles als natürliches
Geschehen begreiflich zu machen... Aus ihrem Widerstreite wird die
neue Lösung, die mythische Deutung geboren."
Der
junge Theologe, der diesen Schritt tut, ist der 27jährige David
Friedrich Strauß, der im Jahr 1835/36 sein Leben Jesu vorlegt
und damit einen regelrechten Skandal auslöst. Er führt das, was
an der frühen Überlieferung unhistorisch ist, auf den Mythos als
"absichtslos dichtende Sage" zurück, auf "einen unbewußten Prozeß
mythischer Imagination". Was nicht ausschließt, daß in dieser Überlieferung
zugleich historische Erinnerungen enthalten sind - und was, aus
der hegelianisch geprägten Sicht von Strauß, keineswegs den Kern
christlichen Glaubens berührt. Denn in dem historischen Individuum
Jesus realisiere sich die Idee der Gottmenschlichkeit, die höchste
aller Ideen.
Seit
Reimarus und Strauß hat es die Frage nach dem historischen Jesus
mit einer doppelten Frontstellung zu tun: Sie muß der rein empirischen
Historiographie gerecht werden - und zugleich wissen, daß sie es
nicht mit rein empirischen Gegenständen, sondern mit Bewußtseinsinhalten
zu tun hat, vor allem auch mit dem historisch zu ermittelnden (Selbst-)Bewußtsein
einer historischen Person. Und mit der Frage: Was geht uns deren
Selbstbewußtsein in unserem Bewußtsein von uns selbst an?
Die
liberale Leben-Jesu-Forschung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
verfiel, trotz des subtilen Fleißes beim Erschließen und Interpretieren
der Quellen, dem Dictum Albert Schweitzers, es habe am Ende jeder
seinen Jesus in die höchst fragmentarischen Quellen hineingelesen.
Die
Theologie des frühen 20. Jahrhunderts räumt nach der Krise des Ersten
Weltkriegs mit der als schwächlich und widerstandsunfähig empfundenen
liberalen Theologie auf; aus dem Krisenbewußtsein eines Zivilisationsbruchs
verschärft sie den Abstand zwischen Gott und Welt radikal. Totaliter
aliter - Gott ist ganz anders, unnahbar anders, heißt der Kampfruf
des jungen Schweizer Theologen Karl Barth. Die dialektische Theologie
des frühen Karl Barth, die den Gegensatz, die Dialektik zwischen
Gott und Welt sozusagen bis zum Unerträglichen verschärft, konnte
die Spuren dieses Handelns zunächst nur noch an "Einschlagstrichtern"
erkennen. Da war also etwas - aber was? In einer solchen Zuspitzung
kann das Interesse an einem historischen Jesus, der an dieser Welt
selber, in eigener Person teilnimmt, schließlich nur radikal schwinden.
Es interessiert eigentlich nur noch das nahezu formale Daß seiner
Existenz - daß er (drastisch gesagt) gekommen und gegangen ist,
daß er gestorben und (theologisch formuliert) in dem Kerygma, im
Osterglauben seiner Jünger auferstanden ist; und daß darin ein Handeln
Gottes an der Welt zu erkennen ist. Und für die existentialistische
Theologie gewinnt der Mensch seine "Eigentlichkeit" allein in einer
Entscheidung für oder gegen den Ruf, der ihn erreicht; in einer
Entscheidung, die sich nicht aus objektiven Gründen, erst recht
nicht aus historischen Faktizitäten ableiten läßt.
Schien
damit die Erforschung des historischen Jesus an ihr Ende gekommen
zu sein, begann dennoch nach dem Zweiten Weltkrieg eine Paradigmenrückkehr,
eine zweite Welle der historischen Erschließung, sozusagen the
second quest for the historical Jesus. Das leitende Argument:
Wenn der nachösterlich gepredigte Christus nicht eine bloße Schwärmerei
der Jünger gewesen sein soll, dann muß er mit dem historischen Jesus
sachlich etwas zu tun haben; in der Predigt muß ein Minimum echter
Überlieferung stecken.
Doch
wie soll man aus den widersprüchlichen und disparaten Quellen den
Kern freilegen? Der forschungsleitende Vorschlag: Wenn man von der
Überlieferung alles abzieht, was religionsgeschichtlich einerseits
schon im Judentum präsent war, was andererseits aber erst nach Ostern
im Urchristentum zum Vorschein kommt, dann hat man - nach dem doppelten
"Differenzkriterium" ermittelt - den authentischen historischen
Menschen Jesus vor sich.
Diese
Isolierungsstrategie wirkt in sich selber aber eher unhistorisch,
weil die reale Geschichte solche von jeder Entwicklung, von jedem
Umfeld abgekoppelte Monaden nicht hervorbringt. Die vorerst neueste
Forschungsrichtung, the third quest also, stellt das "Differenzkriterium"
vom Kopf auf die Füße und postuliert umgekehrt: Gerade das, was
aus dem Überlieferungsmaterial sowohl in das Judentum als auch in
das Urchristentum paßt, repräsentiere den authentischen Jesus. Aus
dem Repräsentanten eines Bruchs wird nun ein Repräsentant einer
geschichtlichen Wende aus dem Judentum in das Urchristentum. Eine
solche Betrachtungsweise bricht nun erst recht (und nun erst richtig)
mit dem historischen Antijudaismus der christlichen Theologie. Der
historische Jesus erscheint aus dieser Perspektive als eine Gestalt,
die zum Gründer der christlichen Bewegung nicht etwa wurde, obwohl
er Jude war, sondern weil er ganz frommer Jude sein wollte
- und gerade deshalb in den tödlichen Konflikt mit den Hütern des
Tempels geriet.
Zugespitzt
gesagt: Der historische Jesus von Nazareth wollte in seinem endzeitlichen
Selbstbewußtsein eher der letzte Jude als der erste Christ sein.
Dieser
für manchen Christen immer noch verstörende Sachverhalt wird auch
im weiteren bei der Auslegung der Bergpredigt immer wieder zu beachten
sein. Die simplen Konfrontationen (hier die Pharisäer, dort Jesus;
hier jüdische Gesetzesreligion, dort christliche Ethik) sind viel
zu primitiv, um den komplexen Zusammenhängen und Übergängen gerecht
zu werden. Günther B. Ginzel berichtet in seinem Buch Die Bergpredigt
- jüdisches und christliches Glaubensdokument folgende Episode:
Er hatte in einem Vortrag dargetan, daß das polemische Bild, das
im Neuen Testament von den Pharisäern gezeichnet werde, ihren wahren
Anschauungen nicht entspreche. Danach bat ihn ein Professor um ein
Gespräch: "Wenn das, was Sie uns über die Anschauungen der Pharisäer
berichtet haben, stimmt, wozu bin ich dann eigentlich Christ?" Ginzels
Hinweis, Jesus sei doch für ihn als Christen der Messias, eben der
Christus, führte zu einem Ausbruch. "Lassen Sie mich doch mit Christus
in Ruhe! Damit kann ich nichts anfangen. Wenn Jesus nicht eine neue
Moral und eine neue Gerechtigkeit gepredigt hat, wenn seine Lehre
den pharisäischen Anschauungen ähnelt, dann verliert das Christentum
seinen Sinn!"
Ebendieses
Paradox aber muß die christliche Theologie, zumal nach Auschwitz,
endgültig begreifen: daß das Christentum ganz im Judentum wurzelt,
sich im 1. Jahrhundert geradezu langsam von ihm löst - um schließlich
etwas ganz anderes zu werden. Goethes Gedicht vom Gingo Biloba kommt
einem auch hier in den Sinn: "Ist es Ein lebendig Wesen, / Das sich
in sich selbst getrennt? / Sind es zwei die sich erlesen / Daß man
sie als Eines kennt?"
Albert
Schweitzer hat die Herausforderung wie folgt beschrieben - und zwar
im Vorwort zur 6. Auflage seines epochalen Werks (Datumszeile: "Lambarene,
den 19. August 1950): "Dem Christentum wird durch das Ergebnis der
historischen Forschung über Jesus das Urchristentum" (wir fügen
heute hinzu: das Judentum) "und die Entstehung der Dogmen das Schwere
zugemutet, sich von seiner Entstehung Rechenschaft zu geben und
sich einzugestehen, daß es, so wie es jetzt ist, das Ergebnis einer
Entwicklung ist, die es durchgemacht hat. Es wird eine Anforderung
an es gestellt, die noch an keine Religion erging und der wohl keine
andere gewachsen wäre. Die Lage, in der sich der Glaube befindet,
nötigt ihn, zwischen dem Wesen und der Gestalt der religiösen Wahrheit
zu unterscheiden." Das hermeneutische Paradox, sowohl geschichtlich
bedingt als auch wahr zu sein, gilt natürlich auch für die Auslegung
der Bergpredigt.
Niemand
vermag zu sagen, wie der nächste Paradigmenwechsel aussehen könnte,
wann die vierte Suchaktion nach dem historischen Jesus beginnen
wird. Treibend für die Forschung wie für die christliche Theologie
überhaupt wird bleiben die paradoxe Beziehung zwischen dem historischen,
dem zu erforschenden und dem theologischen, dem zu glaubenden Jesus.
Was sich wie ein eher moderner Gegensatz in den Forschungsstrategien
und Forschungsgegenständen ausnimmt, ist in Wirklichkeit aber nur
die Widerspiegelung der schon die Urchristenheit bewegende Grundparadoxie,
die sich in dem Dogma von der zweifachen Natur Christi ausdrückt:
Wahrer Mensch und wahrer Gott. Wäre Jesus wirklich immer nur als
ein höchst vorbildlicher, gar ein idealer Mensch wahrgenommen worden,
als der Humanist schlechthin - so wäre es kaum verständlich, daß
die Erinnerung an ihn zwei Jahrtausende hätte bewegen können. Andere
Menschen von gleicher Idealität hätten sich gewiß immer wieder gefunden;
so einmalig kann ein einzelner Mensch gar nicht sein. Umgekehrt:
Wäre in ihm nur eine Verkörperung einer Idee, ein Gott im Schein
des Menschengewandes, der nicht konkret gelebt, gelitten hat und
gestorben ist, eine "abstrakte Verkörperung" einer Idee also, dann
hätten wir es allenfalls mit einem spekulativen Konstrukt zu tun,
dem ebenfalls keine bleibende Wirkungsgeschichte beschieden sein
kann. Also: Nicht halb Mensch, halb Gott, sondern eben: Wahrer Mensch
und wahrer Gott. Wie jedes echte Paradox, so kann auch dieses nicht
in einem rationalen Kalkül und Argument aufgehen. Das Paradox läßt
sich nicht zu Ende denken - und deshalb kommt das Denken darüber
auch nicht zum Ende.
Ernst
Bloch brachte als marxistischer Denker und Utopiker die eine Seite
des Sachverhalts, also das Scheitern des Versuchs, "Jesus in lauter
Legende aufzulösen, mit niemandem dahinter", zum Ausdruck, indem
er hinwies auf den "geschichtlich-realen Widerstand, den die Person
Christi zeigt" gegenüber allen solchen Auflösungsversuchen: "So
lebt christlicher Glaube wie keiner von der geschichtlichen Realität
seines Stifters, er ist wesentlich Nachfolge eines Wandels, nicht
eines Kultbilds und seiner Gnosis. Diese reale Erinnerung wirkte
über die Jahrhunderte hinweg: Nachfolge Christi war auch bei noch
so großer Verinnerlichung und Spiritualisierung primär eine historische
und daran erst eine metaphysische Erfahrung. Dies konkrete Wesen
Christi war seinen Gläubigen wichtig, es gab ihnen, in betäubender
Schlichtheit, was kein Kultbild oder Himmelsbild hätte geben können."
Folglich kann auch die Bergpredigt nicht aufgelöst werden in ein
fernes Himmelsbild, in eine bloße Kultlegende.
Dazu
eine Nachschrift: Der protestantische Schriftsteller Jochen Klepper
sah im Dezember 1942, nach einer letzten Verhandlung mit Adolf Eichmann,
keine Aussicht mehr, seine jüdische Frau und deren Tochter vor der
Deportation durch die Nazis zu schützen. Er, der nun alles verloren
sieht, auch seinen ursprünglich arglosen Gehorsam gegenüber dem
deutschen Staat, - er und die beiden Frauen gehen gemeinsam in den
Tod. Hernach fanden Christen es angebracht, vorwurfsvoll zu fragen,
ob dieser Freitod nicht eine Sünde war - anstatt sich vorzuwerfen,
daß dies wirklich Sünde ist: das Äußerste, und oft nicht nur dieses,
unterlassen zu haben, Juden zu schützen - auch auf daß man sie und
sich "als eines kennt". Immerhin, Kleppers Lieder stehen heute in
den Gesangbüchern beider Kirchen. Auch das auf die Adventszeit gehörige
Die Nacht ist vorgedrungen. Dort heißt es: "Auch wer zur
Nacht geweinet, der stimme froh mit ein." Was ist das anderes als
ein kaum verborgenes Zitat der zweiten Seligpreisung, die jenen
gilt, die schlechterdings alles verloren haben und denen nur noch
Trauer, Depression und Verzweiflung bleiben - diesmal in der lukanischen
Fassung: "Selig seid ihr, die ihr jetzt weint; denn ihr werdet lachen."
Unglaublich!
Aber wahr?
(c)
DIE ZEIT 1999
Als
Radikaler im religiösen Dienst
"Selig
sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen": Teil
III der ZEIT-Serie über die Bergpredigt
Robert
Leicht
Sanftmut
- wir kennen dieses Wort wohl nur noch als biblisches Zitat, vielleicht
sogar nur noch der Seligpreisungen der Bergpredigt wegen. Was könnte
Sanftmut heute für eine Tugend sein? Denn nach und nach verlagert
sich der Schwerpunkt der Seligpreisungen von Tatbeständen zu Tugenden.
Sanftmut
liegt in seiner urtextlich offenen Bedeutung nahe bei der Demut,
gewiß im Gegensatz zum Zorn, deutet auf Gewaltlosigkeit und meint
schließlich Freundlichkeit. In anderen Zusammenhängen steht die
Sanftmut bei der Geduld, der Weisheit. Aber was hieße dies alles
genau? "Passiver Widerstand", wie Schalom ben Chorin schreibt? Oder
hatte im Gegenteil der Reformator, Politiker und der als Feldprediger
gefallene Huldrich Zwingli recht, wenn er ganz im Gegenteil behauptete,
Sanftmut dulde nicht, daß jemandem "Gewalt und Unrecht angetan wird"?
Zum Beispiel im Kosovo.
Und
ausgerechnet die Sanftmütigen sollen das Erdreich besitzen? Wie
dieses? Eine genauere Übersetzung würde freilich an die Stelle von
"besitzen" das Wort "empfangen" setzen. Oder schreibt gar wie die
katholische "Einheitsübersetzung" schrecklich unpoetisch: "Selig,
die keine Gewalt anwenden; denn sie werden das Land erben." Damit
ist aber der Blick vom Besitz zum Erwerb gelenkt - und zwar zu einem
keineswegs selbsttätigen Erwerb. Man empfängt und erbt eben aus
der Hand anderer. Und immerhin in dem sich daraus ergebenden negativen
Sinne könnte diese Seligpreisung gerade dem modernen Menschen einleuchten:
Was man sich zu Unrecht, gar mit Gewalt nimmt, das wird man nicht
in Frieden und auf Dauer besitzen. Fast wäre man versucht, aus dieser
Perspektive einen aktuellen Blick auf den Balkan, auf den gesamten
Nahen und Mittleren Osten zu werfen ... Wenn einem die jüngere deutsche
Geschichte nicht als Anschauungsmaterial ausreicht und den Mund
verschließt.
Das
bezeichnende Paradox allerdings liegt in der Frage: Wie kann ein
solcher Satz einem Mann wie Jesus von Nazareth zugeschrieben werden,
da es doch gerade seine spezifische Radikalität war, die ihn in
Konflikt mit den zeitgenössischen Obrigkeiten, schließlich ans Kreuz
- aber endlich auch in die ungebrochene historische Erinnerung brachte?
Diese Radikalität äußert sich besonders drastisch in der Szene der
Tempelreinigung und in seinem für die theologischen Autoritäten
seiner Zeit absolut skandalösen Diktum, er werde den Tempel, also
das geheiligte Zentrum des Judentums, abreißen und in dreien Tagen
wieder aufbauen. Radikalisierung ist aber auch die Tendenz der Bergpredigt.
Freilich: in welchem Sinne und in welcher Richtung?
Als
ein Paradigma solcher Radikalisierung gelten die sechs Antithesen
der Bergpredigt, in denen hergebrachte mosaische Gesetze besonders
zugespitzt interpretiert werden. Diese "Thoraverschärfung" treibt
die ethischen Anforderungen an die äußersten Grenzen, ja, nach allem
menschlichen Ermessen über die Grenzen des Erfüllbaren hinaus. Es
kennzeichne, so Ulrich Luz, diese Antithesen oft etwas Hyperbolisches,
Unrealistisches und Überspanntes; immer wieder stelle man betroffen
fest, daß Jesu Forderungen ihre innerweltlichen Konsequenzen kaum
bedenken: "Der Ausleger kann sie entweder als orientalisch-überschwengliche
Redeweise nicht ernst nehmen, oder er muß feststellen, daß sie bewußt
schockieren und verfremden wollen, dann aber ernst gemeint sind,
samt ihrer Überspanntheit und Realitätsblindheit." Und zwar in allen
sechs Antithesen:
Vom
Töten: Lapidar heißt es in den Zehn Geboten: "Nicht morden"
- womit ursprünglich (und das macht die anschließende Verschärfung
um so deutlicher) das Töten unter Verstoß gegen Gesetz und Ausnahmen
gemeint war. Auf das Zitat folgt die antithetische Zuspitzung: "Ich
aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts
schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Nichtsnutz!, der ist
des Hohen Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr!, der ist des höllischen
Feuers schuldig." Aber ist dies wirklich überspannt zu nennen? Wäre
der Judenmord im "Dritten Reich" möglich gewesen, wenn diese Antithese
in aller Schärfe im Bewußtsein geblieben wäre, zumindest aller Kirchenleute
und Christenmenschen? Wenn nicht der kurzzeitige "Reichsbischof"
Ludwig Müller wie folgt aus dieser Antithese "verdeutscht" hätte:
"Wer aber aus solcher Gesinnung seinen Volksgenossen böswillig beschimpft
und verfolgt, der macht sich erst recht schuldig"? (Der "ReiBi"
übrigens übersetzte die Seligpreisung der Sanftmut wie folgt: "Wohl
dem, der allzeit gute Kameradschaft hält. Er wird in der Welt zurecht
kommen.") Angesichts dieses Ungeistes der Ausgrenzung auch mit einem
Text, der das ultimative Wort gegen jegliche Ausgrenzung darstellt,
wird erst ersichtlich, welchen Mut es schon kostete, als Dietrich
Bonhoeffer im Jahr darauf drucken ließ: "So prüfe sich die Gemeinde
der Jünger Jesu, ob sie sich nicht hier und dort an Brüdern schuldig
wissen muß, ob sie der Welt zuliebe nicht mithaßte, mitverachtete,
mitschmähte und so des Mordes am Bruder schuldig ist." Ein Jahr
vor der Reichspogromnacht veröffentlicht! - Der vermeintliche Extremismus
der Antithese wurde in unserer Geschichte durch den Extremismus
des realen Verbrechens für immer in den Schatten gestellt.
Vom
Ehebruch: In ähnlicher Weise wie das Mordverbot wird das archaische
Verbot des Ehebruchs radikalisiert: "Ich aber sage euch: Wer eine
Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen
in seinem Herzen. Wenn dich aber dein rechtes Auge zum Abfall verführt,
so reiß es aus und wirf's von dir." - Die Ethik der Bergpredigt
ist nun in der Tat universal orientiert und nicht von der verklemmten
Moralität spießbürgerlicher Muffigkeit. Daß uns heute vor lauter
Abwehr gegen die Spießigkeit fast nichts mehr außer Beliebigkeit
einfällt, könnte ein eigenes Thema sein.
Von
der Eheschliessung: Auch hier die typische Zuspitzung: "Ich
aber sage euch: Wer sich von seiner Frau scheidet, es sei denn wegen
Ehebruchs (eine merkwürdig pragmatische Sanktion des Matthäus!),
der macht, daß sie die Ehe bricht; und wer eine Geschiedene heiratet,
der bricht die Ehe.
Vom
Schwören: Höchst aktuell, im Rückblick auf die Vereidigung
der ersten rot-grünen Bundesregierung, wenn auch längst nicht mehr
brisant, wirkt die jesuanisch zugespitzte Interpretation des Eidverbotes
- obwohl ein Politiker, der aufgrund unserer Verfassung bei seiner
Vereidigung die religiöse Beteuerung ablehnt, gerade nicht dazu
angehalten ist, seine heutzutage (noch) abweichende Formenwahl eigens
religiös zu begründen: "Ich aber sage euch, daß ihr überhaupt nicht
schwören sollt ... Euere Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was
darüber ist, das ist vom Übel." Ist heute der Verzicht auf die religiöse
Beteuerung zu Recht risikolos (und auch nicht als ethisch bedenklich
zu qualifizieren), so war zuvor gerade die religiös begründete Eidesverweigerung
(oder auch nur der religiöse Eidesvorbehalt) geradezu lebensgefährlich
- für das Regime und deshalb für seine Kritiker; soviel zur politischen
Relevanz der Bergpredigt. Allerdings war Bonhoeffers Kommentar im
Jahr 1937 zugleich lebensnotwendig: "Da aber der Christ auch niemals
über seine Zukunft verfügt, ist ein eidliches Gelübde, z. B. ein
Treueid für ihn von vorneherein von größten Gefahren bedroht. Denn
nicht nur seine eigene Zukunft hat der Christ nicht in der Hand,
sondern erst recht nicht die Zukunft dessen, der ihn mit dem Treueid
bindet. Es gibt für den Christen keine absolute irdische Bindung."
In diesem letzten Satz steckt die ganze Widerständigkeit der Bergpredigt
und des Christentums (von wegen immerzu nur das Bündnis von Thron
und Altar!) - und zugleich der Hinweis, wie oft sie verfehlt wurde.
Von
der Vergeltung: In der vierten Antithese wird die Rechtsformel
"Auge um Auge, Zahn um Zahn" gewendet in die Forderung: "Ich aber
sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn
dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere
auch dar." Wir werden an späterer Stelle erfahren, wenn in der vierten
Seligpreisung grundsätzlich von der Gerechtigkeit die Rede sein
wird, daß wir dazu neigen, beides einseitig zu verstehen, die These
wie die Antithese.
Von
der Feindesliebe: Die letzte Antithese zitiert zunächst merkwürdigerweise
ein Gebot, das schon im Zitat verschärft, ja verfälscht wird: "Ihr
habt gehört, daß gesagt ist: ,Du sollst deinen Nächsten lieben'
und deinen Feind hassen." Es gibt freilich nirgendwo in der Thora
eine Forderung, den Feind zu hassen. Wie der Autor Matthäus auf
diese Entstellung gekommen sein mag? Ein fatales, weil antijudaistisch
zu interpretierendes Stilmittel, um die anschließende Zuschärfung
nur um so stärker wirken zu lassen: "Ich aber sage euch: Liebt eure
Feinde und bittet für die, die euch verfolgen ..."?
Sinn
und Tendenz dieser in den sechs Antithesen enthaltenen Thoraverschärfungen
werden deutlicher, wenn man sie in Beziehung setzt zu Berichten
an anderer Stelle über Lehrdialoge, in denen Jesus umgekehrt Gebote
aus der Thora entschärft, zum Beispiel das Sabbatgebot ("Der Sabbat
ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats
willen" Markus 2,27) oder das Reinheitsgebot ("Es gibt nichts, was
von außen in den Menschen hineingeht, das ihn unrein machen könnte;
sondern was aus dem Menschen herauskommt, das ist's, was den Menschen
unrein macht" Markus 7,15).
Ein
Vergleich zeigt: Verschärft werden Gebote, wo es um das Verhältnis
zu Mitmenschen geht - also ethische Normen: das verabsolutierte
Tötungsverbot -, zugespitzt zur Feindesliebe. Entschärft werden
hingegen reine Kultgebote, also rituelle Normen.
Die
eigentliche Radikalisierung findet aber statt in der Beanspruchung
des Mandats zu einer so souveränen Interpretation: "Ich aber sage
euch ..." Nicht also: Das Gesetz gebietet ein bestimmtes Verhalten.
Nicht einmal heißt es: "Gott spricht zu euch ..." Sondern charakteristisch
ist gerade die auch für uns heutige Leser noch unglaubliche Zuspitzung
ethischer Anforderungen ("Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer
Vater im Himmel vollkommen ist") - und zwar auf der Grundlage der
für die damaligen orthodoxen Juden unglaublichen Inanspruchnahme
souveräner Autorität. Dies schließlich durch einen Prediger, der
in seinem Selbstbewußtsein nicht mit dem Judentum brechen, sondern
nichts anderes sein will als eben - ein frommer Jude. Das aber war
für die Mehrheit seiner (geistlich und weltlich herrschenden) Zeitgenossen
gerade der Skandal!
Was
ist dies für eine radikalisierte Ethik, die derartig extreme Forderungen
stellt - zugleich aber an das gegenwärtige Leben, in der sich diese
Ethik zu bewähren hätte, fast keine Ansprüche mehr stellt? Ja, der
in einem schier endzeitlichen Abschnitt der Bergpredigt nur noch
so wenig von der Gegenwart erwartet, daß es der konkreten Lebenssituation
aller "vernünftigen" Leser noch heute vollkommen zuwiderlaufen muß:
"Darum sage ich euch: Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und
trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet.
Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die
Kleidung? Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie
ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer
Vater ernährt sie doch. Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie
wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Darum sorgt
nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen.
Es ist genug, daß jeder Tag seine eigene Plage hat."
Das
Selbstbewußtsein des historischen Jesus war offenbar von einer unmittelbar
bevorstehenden Zeitenwende bestimmt. Wir würden heute, vor der nächsten
Jahrtausendwende, vor dem nächsten Millennium vielleicht sagen:
vom Bewußtsein eines millennaristischen Umbruchs aller Dinge. Ernst
Bloch schrieb deshalb: Der Apokalyptiker Jesus "erwartet eine Umwälzung,
die ohnehin keinen Stein auf dem anderen läßt, und erwartet sie
im nächsten Augenblick, von der Natur, von der Überwaffe einer kosmischen
Katastrophe. Die eschatologische Predigt hat vor der moralischen
bei Jesus den Primat und bestimmt sie. Nicht nur die Wechsler werden,
wie Jesus tat, aus dem Tempel mit der Peitsche hinausgetrieben"
- soviel zur Sanftmütigkeit! -, "sondern der ganze Staat und Tempel
fällt, gründlich, durch Katastrophe, in kurzem. Das große eschatologische
Kapitel (Markus 13) ist eines der bestbezeugten im Neuen Testament;
ohne diese Utopie kann die Bergpredigt gar nicht verstanden werden.
Wird die alte Veste so bald und so gründlich geschleift, dann erscheinen
dem Jesus, der den ,gegenwärtigen Äon' ohnehin als beendet ansah
und an die unmittelbar bevorstehende Katastrophe glaubte, auch ökonomische
Fragen sinnlos; daher ist der Satz von den Lilien auf dem Feld viel
weniger naiv, mindestens auf ganz anderer Ebene befremdlich und
disparat, als er erscheint."
Dann
aber tut sich ein neues Paradox auf: Sollte es sich bei der Bergpredigt
in der Tat - wie Albert Schweitzer schrieb - um eine "Interimsethik"
handeln, eine ethische Weisung für die äußerst kurz bemessene Spanne
vor dem kosmischen Äonenwechsel, vor der Millenniumswende, dann
wäre diese Radikalisierung selber nur der Ausdruck und Anbruch der
letzten Krisis; aber keine Ethik für eine allem späteren Erfahrungsschein
nach doch auf Dauer gestellte Welt. Damit betreten wir indessen
schon das Gebiet der vielfältigen Versuche, die ethischen Imperative
der Bergpredigt auf ein "erträgliches" Maß zu entspannen.
Zuvor
stoßen wir allerdings auf ein grundsätzliches Problem - vor aller
Auslegung. Wem haben wir diese "überspannte" Radikalisierung eigentlich
zu verdanken? Ist sie in den authentischen Jesus-Worten so (und
vor allem: so umfassend) enthalten? Ist sie erst durch den End-Redaktor
Matthäus um das Jahr 90 nach Christus eingeschärft worden - und
damit 40 Jahre nach den ersten Zeugnissen der Theologie des Paulus.
Oder ist diese Tendenz durch die Tradenten in den 60 Jahren seit
dem Tode Jesu ganz oder teilweise vorbereitet? Und was würde denn
die eine oder andere, die so oder so immer noch (einigermaßen) umstrittene
Antwort für unsere heutige Auslegung, für die Autorität des Textes
heute bedeuten?
Soviel
gilt als sicher: Wesentliche Partikel der Bergpredigt gehen auf
Jesus-Worte zurück; welche im einzelnen, das spielt für das prinzipielle
hermeneutische Problem keine so große Rolle. Also nicht alles stammt
von ihm. Andererseits: Nicht alles ergänzende Material stammt von
Matthäus, einem - dem Konsens plausibler Vermutungen zufolge - "Vertreter
eines liberalen hellenistischen Diaspora-Judenchristentums" (Udo
Schnelle), irgendwo in Syrien. Hans Dieter Betz geht bis zu der
Annahme, Matthäus habe den gesamten Text der Bergpredigt als judenchristliche
Komposition vorgefunden und als "ein langes Zitat" in sein Evangelium
eingefügt; sie gehöre in das frühe Judenchristentum und in die Mitte
des 1. Jahrhunderts - als die Judenchristen sich noch als das ,wahre'
Judentum darstellen wollten. An anderer Stelle schreibt er - da
nichts am Text der Bergpredigt spezifische Einflüsse einer matthäischen
Redaktion zeige: "Theologische Sprache und Denkweise der Bergpredigt
sind jüdisch, nicht christlich." Theologische Ausdrucksweisen und
Ideen in der Bergpredigt seien ausnahmslos auf die Begriffe des
Judaismus des 1. Jahrhunderts zurückzuführen. Und folglich: "Jesus
turns out to be a Christian in Jewish disguise" - Jesus entpuppt
sich als ein Christ in jüdischem Gewande.
Daß
wir es im ganzen mit einem Übergangsphänomen zu tun haben, steht
außer Zweifel, selbst wenn man der zugespitzten These von Betz so
nicht folgt: vom Judentum zum Christentum, vom historischen Jesus
zum verkündeten Jesus, von den ersten Tradenten zu den Evangelisten.
Was trägt dies alles für unser heutiges Verständnis aus?
Angenommen,
man schriebe der These von Albert Schweitzer einige Plausibilität
zu: Demnach war Jesus von Nazareth in seinem Bewußtsein durch die
unmittelbare Naherwartung einer kosmischen Zeitenwende bestimmt
- und bestimmt nicht an einer Ethik für das postindustrielle Zeitalter
interessiert. Aber was besagt dies für die Tatsache, daß Matthäus
noch 60 Jahre später an dieser Radikalität festhält, sie eher noch
zuspitzt - obwohl er doch weit jenseits der antizipierten kosmischen
Wende lebt? Und überdies auch die Hoffnung auf eine unmittelbare
Wiederkehr des erhöhten Herrschers aufschieben, wenn nicht aufgeben
mußte. Das Evangelium des Matthäus gilt einer judenchristlichen
Gemeinde, die nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels lebt -
ohne daß er in dreien Tagen wieder aufgebaut wurde (bis heute nicht!);
einer Gemeinde, der er das nachlassende Bewußtsein schon wieder
(betont) einschärfen muß.
Die
Antwort ist so einfach wie schwierig: Die heutige Auslegung kann
die historische Quellenlage keinesfalls ignorieren, sondern hat
sie so genau wie möglich zu ermitteln. Aber die Quellen können uns
nicht die verantwortliche Übersetzung in unsere Lebenslage abnehmen
- sowenig, wie sich unsere vermeintliche Lebenslage über den Text,
seine Quellen, seine Bedingtheiten hinwegsetzen kann.
Wie
gewagt auch die Thesen von Betz sein mögen, er hat ein Bild gefunden,
das seine Schönheit behält, auch wenn man es aus dem Betzschen Rahmen
löst: Man könne die Bergpredigt "mit einem Juwel vergleichen, das
eine wechselvolle Geschichte hinter sich hat und erst verhältnismäßig
spät in einen passenden, aber doch ganz andersartigen Rahmen eingefaßt
wurde ... Wie bei Edelsteinen so oft, so liegt auch der Ursprung
dieses Juwels in geheimnisvollem Dunkel. Es ist deutlich, daß viele
Hände an ihm gearbeitet und geschliffen haben. Je nach Beleuchtung
schimmert er mal in dieser, mal in jener Farbe. All dies gibt ihm
seinen besonderen Glanz und seine irritierende Lebendigkeit ..."
Es ist an uns, dieses Juwel zu fassen.
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