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Tychiades. Kannst du mir sagen, Philokles, was doch wohl in aller Welt die Ursache seyn mag, warum die meisten Menschen so große Liebhaber vom Lügen sind, daß sie sich nicht nur selbst ein Vergnügen daraus machen, unglaubliche Geschichten zu erzählen, sondern auch lauter Ohr werden, wenn Andere dergleichen Zeug zu Markte bringen.
Philokles. Es giebt viele Fälle, wo sich die Menschen in Rücksicht ihres Vortheils zum Lügen genöthigt finden.
Tychiades. Von diesen soll auch jetzt die Rede nicht seyn. In solchen Fällen ist die Unwahrheit verzeyhlich, ja zuweilen sogar lobenswürdig; zum Exempel, wenn man im Kriege den Feind durch eine falsche Nachricht hintergeht, oder sich durch dieses Hausmittel aus irgend einer großen Gefahr zu ziehen weiß, wie Ulysses oft gethan hat
Seine eigene Seele und seine Gefährten zu retten.
Aber ich rede von denen, mein Bester, die ohne den mindesten sichtlichen Nutzen die Lüge der Wahrheit vorziehen, und sich ein besonderes Vergnügen, ja eine Art von Geschäfte aus dem Lügen machen, wiewohl sich schlechterdings keine Ursache angeben läßt, die sie dazu nöthigte. Sie müssen doch irgend etwas dabey zu gewinnen glauben, und das ist es eben was ich gerne wissen möchte.
Philokles. Du kennest also, wie es scheint, solche Leute, denen diese Liebe zur Unwahrheit gleichsam eingepflanzt ist?
Tychiades. Und ihrer sehr viele!
Philokles. So weiß ich keine andere Ursache davon anzugeben als ihren Unverstand; denn an Verstande muß es dich wohl demjenigen mächtig fehlen, der das Schlimmste dem Besten vorzieht.
Tychiades. Auch das ist es nicht. Denn ich wollte dir viele gescheide, ja sogar ihres Verstandes wegen bewunderte Personen zeigen können, die, weiß der Himmel wie! mit dieser Krankheit behaftet und solche Lügenfreunde sind, daß es mich oft in der Seele schmerzt, Männer, die in allen andern Stücken unter die Besten gehören, eine solche Freude daran haben zu sehen, sich selbst und andere zu betrügen. Und zwar, was jene alte Geschichtschreiber betrift, den Herodot und den Ktesias von Knidos2), und, noch vor ihnen, die Dichter und den großen Sänger Homer selbst, so mußt du besser wissen als ich, daß diese berühmten Männer ihre Lügen sogar aufgeschrieben, und also nicht nur ihre gleichzeitigen Zuhörer damit betrogen, sondern sie durch den Reiz ihres schönen Styls und die Musik ihrer Verse bis auf uns fortgepflanzt haben. Ich gestehe daß ich mich oft in ihre Seele schäme, wenn sie uns die Verstümmelung des Uranus, die Bande des Prometheus, die Empörung der Giganten, und die ganze Tragödie der Unterirdischen Welt mit allen Umständen vorerzählen, und wie Jupiter aus Liebe den Stier oder Schwan gespielt, oder wie diese und jene aus einem Mädchen in einen Vogel oder in eine Bärin verwandelt worden; nichts von ihren Flügelpferden, Chimären, Gorgonen, Cyklopen und andere dergleichen unglaublichen Wundermährchen zu sagen, die zu nichts taugen als kleine Kinder, die sich noch vor dem Popanz und der Nachtdrude fürchten, zu belustigen. Doch, den Dichtern möchten ihre Lügen immer hingehen: aber daß ganze Republiken und Völker, von Staats wegen, und gleichsam aus patriotischer Schuldigkeit lügen, ist das nicht lächerlich? Wenn die Kretenser sich nicht schämen den Reisenden Jupiters Grab3) zu zeigen; oder wenn uns die Athenienser mit großem Ernste versichern, ihr Erichthonius sey aus der Erde hervorgekrochen, und die ersten Menschen wären wie die Pilzen, aus dem attischen Boden aufgeschossen: kann man dabey wohl ernsthafter bleiben, als wenn uns die Thebaner von, ich weiß nicht welchen Sparten sprechen, die aus gesäeten Drachenzähnen4) aufgegangen seyn sollen? Und gleichwohl, wenn jemand solches lächerliches Zeug sich nicht für Wahrheit aufbinden lassen will, sondern zu verstehen giebt, man müsse ein Strohkopf seyn, um zu glauben, daß Triptolemus mit geflügelten Drachen durch die Luft gefahren, oder daß Pan aus Arkadien gekommen sey den Griechen bey Marathon siegen zu helfen, oder daß die schöne Orithyia vom Nordwind entführt und durch ihn Mutter der geflügelten Zwillinge, Zetes und Kalais, worden sey: so muß man sich gefallen lassen, bey solchen Leuten für einen unvernünftigen und gottlosen Menschen zu passieren, der so weltkundige und unläugbare Thatsachen nicht glauben wolle. So groß ist die Macht der Lüge über den gemeinen Menschenverstand!
Philokles. Bey allem dem, Tychiades, kann sowohl den Dichtern als den Republiken hierin billig etwas zu gut gehalten werden: jenen, weil ihnen daran gelegen ist ihren Zuhörern, für welche das Wunderbare einen so großen Reiz hat, ihre Werke so angenehm als möglich zu machen; den Atheniensern und Thebanern, und allen übrigen die sich in ähnlichem Falle befinden, weil sie durch dergleichen Wunder-Geschichten ihrem Vaterlande desto mehr Glanz und Ansehen zu verschaffen glauben. Überdies, wenn man alle diese alte Fabeln aus Griechenland verbannen wollte, würden die wackern Leute, die davon leben daß sie den Reisenden die Merkwürdigkeiten ihres Ortes zeigen, Hungers sterben müssen, da die Fremden bloße Wahrheit nicht einmal umsonst anhören mögen. Aber, wenn es Leute gäbe, die ohne irgend einen solchen Beweggrund ihre Freude daran hätten, Lügen als geschehene Dinge zu erzählen, die wären unstreitig im höchsten Grade belachenswerth.5)
Ein herzlicher Dank an Volker für die Übersendung der Ursprungsdatei.
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