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Marc Aurel - Meditationen (Selbstbetrachtungen)

Mark Aurel (* 26. April 121 in Rom; † 17. März 180 in Vindobona oder Sirmium), auch Marc Aurel oder Marcus Aurelius, war von 161 bis 180 römischer Kaiser und als Philosoph der letzte bedeutende Vertreter der jüngeren Stoa. Als Princeps und Nachfolger seines Adoptivvaters Antoninus Pius nannte er sich selbst Marcus Aurelius Antoninus Augustus. Mit seiner Regierungszeit endete in mancherlei Hinsicht eine Phase innerer und äußerer Stabilität und Prosperität für das Römische Reich, die Ära der sogenannten Adoptivkaiser. Mark Aurel war der letzte von ihnen, denn in seinem Sohn Commodus stand ein leiblicher Erbe der Herrscherfunktion bereit.

Innenpolitische Akzente setzte Mark Aurel in Gesetzgebung und Rechtsprechung bei der Erleichterung des Loses von Benachteiligten der damaligen römischen Gesellschaft, vor allem der Sklaven und Frauen. Außergewöhnlichen Herausforderungen hatte er sich hinsichtlich einer katastrophalen Tiberüberschwemmung zu stellen sowie in der Konfrontation mit der Antoninischen Pest und angesichts spontaner Christenverfolgungen innerhalb des Römischen Reiches. An den Reichsgrenzen musste er nach einer längeren Friedenszeit wieder an mehreren Fronten gegen eindringende Feinde vorgehen. Insbesondere waren der Osten des Reiches durch die Parther, über die Mark Aurels Mitkaiser Lucius Verus triumphierte, und der Donauraum durch diverse Germanen-Stämme bedroht. Sein letztes Lebensjahrzehnt verbrachte Mark Aurel daher vorwiegend im Feldlager. Hier verfasste er die Selbstbetrachtungen, die ihn der Nachwelt als Philosophenkaiser präsentieren und die mitunter zur Weltliteratur gezählt werden. https://de.wikipedia.org/wiki/Mark_Aurel

 

Entstanden vermutlich zwischen 170 und 178 n. Chr. unter dem Titel »Tôn eis heauton biblia« (Die Bücher der Gedanken über sich selbst). Erstdruck, herausgegeben von W. Xylander: Zürich 1558 (1559?). Erste deutsche Übersetzung (in Versen) durch P. Stolte unter dem Titel »Allgemeiner Tugendspiegel oder Kern moralischer Gedanken Marci Aurelii Antonini Philosophi von und an sich selbst«: Rostock 1701. Der Text folgt der gekürzten Übersetzung durch F. C. Schneider von 1857.

 

Mark Aurel

(121 n. Chr.–180 n. Chr.)

Meditationen (aus dem Stoizismus)

Erstes Buch

1.


Von meinem Grossvater Verus weiss ich, was edle Sitten sind und was es heisst: frei sein von Zorn.

2.

Der Ruf und das Andenken, in welchem mein Vater steht, predigen mir Schamhaftigkeit und männliches Wesen.

3.

Der Mutter Werk ist es, wenn ich gottesfürchtig und mittheilsam bin; wenn ich nicht nur schlechte Handlungen, sondern auch schlechte Gedanken fliehe; auch dass ich einfach lebe und überhaupt nicht wie reiche Leute.

 

4.

Mein Urgrossvater litt nicht, dass ich die öffentlichen Disputirübungen besuchte, sorgte aber dafür, dass ich zu Hause von tüchtigen Lehrern unterrichtet wurde, und überzeugte mich, dass man zu solchem Zweck schon Etwas aufgehen lassen müsse.

5.

Mein Erzieher gab nicht zu, dass ich mich an den Wettfahrten betheiligte, weder in Grün noch in Blau, auch nicht, dass ich Ring- und Fechterkünste trieb. Er lehrte mich Mühen ertragen, Wenig bedürfen, selbstthätig sein, mich wenig kümmern um anderer Leute Angelegenheiten und einen Widerwillen haben gegen alles Aufschieben.

 

6.

Diognet bewahrte mich vor allen unnützen Beschäftigungen; vor dem Glauben an das, was Wunderthäter und Gaukler von Zauberformeln, vom Geisterbannen u.s.w. lehrten; davor, dass ich Wachteln hielt, und vor andern solchen Passionen. Er lehrte mich ein freies Wort vertragen; gewöhnte mich an philosophische Studien, schickte mich zuerst zu Bacchius, dann zu Tandasis und Marcian, liess mich schon als Knabe Dialoge verfassen und machte mir Lust zu den Ruhebetten und Pelzdecken, wie sie bei den Lehrern der griechischen Schule Mode sind.

7.

Dem Rusticus verdanke ich, dass es mir einfiel, in sittlicher Hinsicht für mich zu sorgen und an meiner Veredlung zu arbeiten; dass ich frei blieb von dem Ehrgeiz der Sophisten; dass ich nicht Abhandlungen schrieb über abstrakte Dinge, noch Reden hielt zum Zweck der Erbauung, noch prunkend mich als einen streng und wohlgesinnten jungen Mann darstellte, und dass ich von rhetorischen, poetischen und stilistischen Studien abstand; dass ich zu Hause nicht im Staatskleid einherging oder sonst so Etwas that, und dass die Briefe, die ich schrieb, einfach waren, so einfach und schmucklos wie der seinige an meine Mutter von Sinuessa aus. Ihm habe ich's auch zu danken, wenn ich mit denen, die mich gekränkt oder sonst sich gegen mich vergangen haben, leicht zu versöhnen bin, sobald sie nur selbst schnell bereit sind, wiederzukommen. Auch lehrte er mich, was ich las, genau lesen und mich nicht mit einer oberflächlichen Kenntniss begnügen, auch nicht gleich beistimmendem, was oberflächliche Beurtheiler sagen. Endlich war er's auch, der mich mit den Schriften Epiktets bekannt machte, die er mir aus freien Stücken mittheilte.

8.

Appollonius zeigte mir, was Freiheit sei und eine Festigkeit, die dem Spiel des Zufalls Nichts einräumt; dass man auf Nichts ohne Ausnahme so achten müsse, als auf die Gebote der Vernunft. Auch was Gleichmuth sei bei heftigen Schmerzen, bei Verlust eines Kindes, in langen Krankheiten, habe ich von ihm lernen können. – Er zeigte mir handgreiflich an einem lebendigen Beispiele, dass man der ungestümste und gelassenste Mensch zugleich sein kann, und dass man beim Studium philosophischer Werke die gute Laune nicht zu verlieren brauche. Er liess mich einen Menschen sehen, der es offenbar für die geringste seiner guten Eigenschaften hielt, dass er Uebung und Gewandtheit besass, die Grundgesetze der Wissenschaft zu lehren; und bewies mir, wie man von Freunden sogenannte Gunstbezeugungen aufnehmen müsse, ohne dadurch in Abhängigkeit von ihnen zu gerathen, aber auch ohne gefühllos darüber hinzugehen.

9.

An Sextus könnt' ich lernen, was Herzensgüte sei. Sein Haus bot das Muster eines väterlichen Regimentes dar, und er gab mir den Begriff eines Lebens, das der Natur entspricht. Er besass eine ungekünstelte Würde und war stets bemüht, die Wünsche seiner Freunde zu errathen. Duldsam gegen Unwissende hatte er doch keinen Blick für die, die an blossen Vorurtheilen kleben. Sonst wusste er sich mit Allen gut zu stellen, so dass er denselben Menschen, die ihm wegen seines gütigen und milden Wesens nicht schmeicheln konnten, zu gleicher Zeit die grösste Ehrfurcht einflösste. Seine Anleitung, die zum Leben nothwendigen Grundsätze aufzufinden und näher zu gestalten, war eine durchaus verständliche. Niemals zeigte er eine Spur von Zorn oder einer andern Leidenschaft, sondern er war der leidenschaftsloseste und der liebendste Mensch zugleich. Er suchte Lob, aber ein geräuschloses; er war hochgelehrt, aber ohne jede Ostentation.

10.

Von Alexander dem Grammatiker lernte ich, wie man sich jeglicher Scheltworte enthalten und es ohne Vorwurf hinnehmen kann, was Einem auf fehlerhafte, rohe oder plumpe Manier vorgebracht wird; ebenso aber auch, wie man sich geschickt nur über das, was zu sagen Noth thut, auszulassen habe, sei's in Form einer Antwort oder der Bestätigung oder der gemeinschaftlichen Ueberlegung über die Sache selbst, nicht über den Ausdruck, oder durch eine treffende anderweite Bemerkung.

 

11.

Durch Phronto gewann ich die Ueberzeugung, dass der Despotismus Missgunst, Unredlichkeit und Heuchelei in hohem Maasse zu erzeugen pflege, und dass der sogenannte Adel im Allgemeinen ziemlich unedel sei.

12.

Alexander der Platoniker brachte mir bei, wie ich nur selten und nie ohne Noth zu Jemand mündlich oder schriftlich äussern dürfe: ich hätte keine Zeit; und dass ich nicht so, unter dem Vorwande dringender Geschäfte, mich beständig weigern sollte, die Pflichten zu erfüllen, die uns die Beziehungen zu denen, mit denen wir leben, auferlegen.

 

13.

Catulus rieth mir, dass ich's nicht unberücksichtigt lassen sollte, wenn sich ein Freund bei mir über Etwas beklagte, selbst wenn er keinen Grund dazu hätte, sondern dass ich's versuchen müsste, die Sache in's Reine zu bringen. Wie man von seinen Lehrern heftig eingenommen sein kann, sah ich an ihm; ebenso aber auch, wie lieb man seine Kinder haben müsse.

14.

An Severus hatte ich häuslichen Sinn, Wahrheits- und Gerechtigkeitsliebe zu bewundern. Er machte mich mit Thraseas, Helvidius, Cato, Dio und Brutus bekannt und führte mich zu dem Begriff eines Staates, in welchem alle Bürger gleich sind vor dem Gesetz, und einer Regierung, die Nichts so hoch hält als die bürgerliche Freiheit. Ausserdem blieb er, um Anderes zu übergehen, in der Achtung vor der Philosophie sich immer gleich; war wohlthätig, ja in hohem Grade freigebig; hoffte immer das Beste und zweifelte nie an der Liebe seiner Freunde. Hatte er Etwas gegen Jemand, so hielt er damit nicht zurück, und seine Freunde hatten niemals nöthig, ihn erst auszuforschen, was er wollte oder nicht wollte, weil es offen am Tage lag.

15.

Von Maximus konnte ich lernen, mich selbst beherrschen, nicht hin- und herschwanken, guten Muthes sein in misslichen Verhältnissen oder in Krankheiten, auch wie man in seinem Benehmen Weisheit mit Würde verbinden muss, und an ein Werk, das rasch auszuführen ist, doch nicht unbesonnen gehen darf. Von ihm waren Alle überzeugt, dass er gerade so dachte wie er sprach, und was er that, in guter Absicht that. Etwas zu bewundern oder sich verblüffen zu lassen, zu eilen oder zu zögern, rathlos zu sein und niedergeschlagen oder ausgelassen in Freude oder Zorn oder argwöhnisch – das Alles war seine Sache nicht. Aber wohlthätig zu sein und versöhnlich, hielt er für seine Pflicht. Er hasste jede Unwahrheit und machte so mehr den Eindruck eines geraden als eines feinen Mannes. Niemals hat sich Einer von ihm verachtet geglaubt; aber ebensowenig wagte es Jemand, sich für besser zu halten als er war. Auch wusste er auf anmuthige Weise zu scherzen.

 

16.

Mein Vater hatte in seinem Wesen etwas Sanftes, aber zugleich auch eine unerschütterliche Festigkeit in dem, was er gründlich erwogen hatte. Er war ohne Ehrgeiz hinsichtlich dessen, was man gewöhnlich Ehre nennt. Er arbeitete gern und unermüdlich. Wer mit Dingen kam, die das gemeine Wohl zu fördern versprachen, den hörte er an und versäumte es nie, einem Jeden die Anerkennung zu zollen, die ihm gebührte. Wo vorwärts zu gehen und wo einzuhalten sei, wusste er. Er war herablassend gegen Jedermann; erliess den Freunden die Pflicht, immer mit ihm zu speisen oder, wenn er reiste, mit ihm zu gehen; und stets blieb er sich gleich auch gegen die, die er nothgedrungen zu Hause liess. Seine Erörterungen in den Rathsversammlungen waren stets von grosser Genauigkeit, und er hielt aus und begnügte sich nicht mit Ideen, die auf der flachen Hand liegen, blos um die Versammlung für geschlossen zu erklären. Er war sorgsam bemüht, sich seine Freunde zu erhalten, wurde ihrer niemals überdrüssig, verlangte aber auch nicht heftig nach ihnen. Er war sich selbst genug in allen Stücken und immer heiter. Er hatte einen scharfen Blick für das, was kommen würde, und traf für die kleinsten Dinge Vorbereitungen ohne Aufhebens zu machen, so wie er sich denn überhaupt jedes Beifall rufen und alle Schmeicheleien verbat. Was seiner Regierung nothwendig war, darüber wachte er stets, ging mit den öffentlichen Geldern haushälterisch um, und liess es sich ruhig gefallen, wenn man ihm darüber Vorwürfe machte. – Den Göttern gegenüber war er frei von Aberglauben, und was sein Verhältniss zu den Menschen betrifft, so fiel es ihm nicht ein um die Volksgunst zu buhlen, dem grossen Haufen sich gefällig zu erzeigen und sich bei ihm einzuschmeicheln, sondern er war in allen Stücken nüchtern, besonnen, taktvoll und ohne Sucht nach Neuerungen. Von den Dingen, die zur Annehmlichkeit des Lebens beitragen – und deren bot ihm das Glück eine Menge dar – machte er ohne zu prunken, aber auch ohne sich zu entschuldigen Gebrauch, so dass er, was da war, einfach nahm, was nicht da war, auch nicht entbehrte. Niemand konnte sagen, dass er ein Krittler, oder dass er ein gewöhnlicher Mensch oder ein Pedant sei, sondern man musste ihn einen reifen, vollendeten, über jede Schmeichelei erhabenen Mann nennen, der wohl im Stande sei, sich und Andern vorzustehen. Ausserdem: die ächten Philosophen schätzte er sehr, liess aber auch die Andern unangetastet, obschon er ihnen keinen Einfluss auf sich verstattete. In seinem Umgange ferner war er höchst liebenswürdig und witzig, ohne darin zu übertreiben. In der Sorge für seinen Leib wusste er das rechte Mass zu halten, nicht wie ein Lebenssüchtiger oder wie Einer, der sich schniegelt oder sich vernachlässigt; sondern er brachte es durch die eigene Aufmerksamkeit nur dahin, dass er den Arzt fast gar nicht brauchte und weder innere noch äussere Mittel nöthig hatte. – Vor Allem aber war ihm eigen, denen, die wirklich Etwas leisteten, sei's in der Beredtsamkeit oder in der Gesetzeskunde oder in der Sittenlehre oder in irgend einer anderen Disciplin, ohne Neid den Vorrang einzuräumen und sie wo er konnte zu unterstützen, damit ein Jeder in seinem Fache auch die nöthige Anerkennung fände. Wie seine Vorfahren regiert, so regierte er auch, ohne jedoch die Meinung hervorrufen zu wollen, als wache er über dem Althergebrachten. Er war nicht leicht zu bewegen oder von Etwas abzubringen, sondern wo er gerade war und wobei, da pflegte er auch gern zu bleiben. Nach den heftigsten Kopfschmerzen sah man ihn frisch und kräftig zu den gewohnten Geschäften eilen. Geheimnisse pflegte er nur äusserst wenige und nur in seltenen Fällen zu[8] haben und nur um des gemeinen Wohles willen. Verständig und mässig im Anordnen von Schauspielen, von Bauten, von Spenden an das Volk und dergl. mehr, zeigte er sich als ein Mann, der nur auf seine Pflicht sieht, um den Ruhm aber sich nicht kümmert, den seine Handlungen ihm verschaffen können. – Er badete nur zur gewöhnlichen Stunde, liebte das Bauen nicht, legte auf das Essen keinen Werth, auch nicht auf Kleider und deren Stoffe und Farben, noch auf schöne Sklaven. Seine Kleider liess er sich meist aus Lorium, dem unteren Landgute, oder aus Lanubium kommen und bediente sich dazu des Generalpächters in Tusculum, der ihn um diesen Dienst gebeten hatte. – In seiner ganzen Art zu sein war nichts Unschickliches oder gar Schamloses oder auch nur Gewaltsames oder was man sagt: »bis zur Hitze«, sondern Alles war bei ihm wohl überdacht, ruhig, gelassen, wohl geordnet, fest und mit sich selbst im Einklang. Man könnte auf ihn anwenden, was man vom Sokrates gesagt hat, dass er sowohl sich solcher Dinge zu enthalten im Stande war, deren sich Viele aus Schwachheit nicht enthalten können, als auch dass er geniessen durfte, was Viele darum nicht dürfen, weil sie sich gehen lassen. Das Eine gründlich vertragen, und in dem Andern nüchtern sein, das aber ist die Sache eines Mannes von starkem, unbesieglichem Geiste, wie er ihn z.B. auch in der Krankheit des Maximus an den Tag gelegt hat. –

 

17.

Den Göttern habe ich's zu danken, dass ich treffliche Vorfahren, treffliche Eltern, eine treffliche Schwester, treffliche Lehrer, treffliche Diener und fast lauter treffliche Verwandte und Freunde habe, und dass ich gegen keinen von ihnen fehlte, obgleich ich bei meiner Natur leicht hatte dahin kommen können. Es ist eine Wohlthat der Götter, dass die Umstände nicht so zusammentrafen, dass ich mir Schande auflud. Sie fügten es so, dass ich nicht länger von der Maitresse meines Grossvaters erzogen wurde; dass ich meine Jugendfrische mir erhielt und dass ich meinen fürstlichen Vater unterthan war, der mir allen Dünkel austreiben und mich überzeugen wollte, man könne bei Hofe leben ohne Leibwache, ohne kostbare Kleider, ohne Fackeln, ohne gewisse Bildsäulen und ähnlichen Pomp, und dass es sehr wohl anginge, sich soviel als möglich bürgerlich einzurichten, wenn man dabei nur nicht zu demüthig und zu sorglos würde in Erfüllung der Pflichten, die der Regent gegen das Ganze hat. – Die Götter haben mir einen Bruder gegeben, dessen sittlicher Wandel mich antrieb, auf mich selber Acht zu haben, und dessen Achtung und Liebe gegen mich mich glücklich machten. – Sie haben mir Kinder gegeben, die nicht ohne geistige Anlagen sind und von gesundem Körper. – Den Göttern verdanke ich's, dass ich nicht weiter kam in der Redekunst und in der Dichtkunst und in den übrigen Studien, welche mich völlig in Beschlag genommen haben würden, wenn ich gemerkt hätte, dass ich gute Fortschritte machte. Ebenso dass ich meine Erzieher frühzeitig schon so in Ehren hielt, wie sie's zu verlangen schienen, und ihnen nicht blos Hoffnung machte, ich würde das später thun, indem sie zu der Zeit ja noch so jung seien. Ferner, dass ich Appollonius, Rusticus und Maximus kennen lernte; dass ich das Bild eines naturgemässen Lebens so klar und so oft vor der Seele hatte, dass es nicht an den Göttern und an den Gaben, Hilfen und Winken, die ich von dorther empfing, liegen kann, wenn ich an einem solchen Leben gehindert worden bin; sondern wenn ich's bisher nicht geführt habe, muss es meine Schuld sein, indem ich die Erinnerungen der Götter, ich möchte sagen, ihre ausdrücklichen Belehrungen, nicht beherzigte. Den Göttern verdanke ich's, dass mein Körper ein solches Leben so lange ausgehalten hat; – dass ich weder die Benedicta noch den Theodot berührt habe, und dass ich später überhaupt von dieser Leidenschaft genas; dass ich in meinem heftigen Unwillen, den ich so oft gegen Rusticus empfand, Nichts weiter that, was ich hätte bereuen müssen; und dass meine Mutter, der ein früher Tod beschieden war, doch noch ihre letzten Jahre bei mir leben konnte. Auch fügten sie's, dass ich, so oft ich einen Armen oder sonst Bedürftigen unterstützen wollte, nie hören durfte, es fehle mir an den hierzu erforderlichen Mitteln, und dass ich selbst nie in die Nothwendigkeit versetzt wurde, bei einem Andern zu borgen; dann dass ich ein solches Weib besitze: so folgsam, zärtlich und in ihren Sitten so einfach, und dass ich – meinen Kindern tüchtige Erzieher geben konnte. Die Götter gaben mir durch Träume Hilfsmittel an die Hand gegen allerlei Krankheiten, so gegen Blutauswurf und Schwindel. Auch verhüteten sie, als ich das Studium der Philosophie anfing, dass ich einem Sophisten in die Hände fiel oder mit einem solchen Schriftsteller meine Zeit verdarb, oder mit der Lösung ihrer Syllogismen mich einliess, oder mit der Himmelskunde mich beschäftigte. Denn zu allen diesen Dingen bedarf es der helfenden Götter und des Glückes.

 

18.

Man muss sich bei Zeiten sagen: ich werde einem vorwitzigen, einem undankbaren, einem schmähsüchtigen, einem verschlagenen oder neidischen oder unverträglichen Menschen begegnen. Denn solche Eigenschaften liegen Jedem nahe, der die wahren Güter und die wahren Uebel nicht kennt. Habe ich aber eingesehen, einmal, dass nur die Tugend ein Gut und nur das Laster ein Uebel, und dann, dass der, der Böses thut, mir verwandt ist, nicht sowohl nach Blut und Abstammung, als in der Gesinnung und in dem, was der Mensch von den Göttern hat, so kann ich weder von Jemand unter ihnen Schaden leiden – denn ich lasse mich nicht verführen – noch kann ich dem, der mir verwandt ist, zürnen oder mich feindlich von ihm abwenden, da wir ja dazu geboren sind, uns gegenseitig zu unterstützen, wie die Füsse, die Hände, die Augenlider, die Reihen der oberen und unteren Zähne einander dienen. Also ist es gegen die Natur, einander zuwider zu leben. Und das thun die doch, die auf einander zürnen oder sich von einander abwenden.

 

19.

Was ich bin, ist ein Dreifaches: Fleisch und Seele und was das Ganze beherrscht. – Lege bei Seite, was Dich zerstreut, die Bücher und Alles, was hier zu Nichts führt; sondern einmal: des Fleischlichen achte gering wie ein Sterbender! Es ist Blut und Knochen und ein Geflecht aus Nerven, Adern und Gefässen gewebt. Dann betrachte Deine Seele, und was sie ist: ein Hauch; nicht immer dasselbe, sondern fortwährend ausgegeben und wieder eingesogen. Drittens also das, was die Herrschaft führt! Da sei doch kein Thor, Du bist nicht mehr jung: so lass auch nicht länger geschehen, dass es diene; dass es hingenommen werde von einem Zuge, der Dich dem Menschlichen entfremdet; dass es dem Verhängniss oder dem gegenwärtigen Augenblicke grolle oder ausweiche dem, was kommen soll!

 

20.

Das Göttliche ist vorsehungsvoll, das Zufällige nach Art, Zusammenhang und Verflechtung nicht zu trennen von dem durch die Vorsehung Geordneten. Alles fliesst von hier aus. Daneben das Nothwendige und was dem ganzen Universum, dessen Theil Du bist, zuträglich ist. Jedem Theile der Natur- aber ist das gut, was seinen Halt an der Natur des Ganzen hat und wovon diese wiederum getragen wird. Die Welt aber wird getragen wie von den Verwandlungen der Grundstoffe so auch von denen der zusammengesetzten Dinge. – Das muss Dir genügen und fest stehen für immer. Nach der Weisheit, wie sie in Büchern zu finden ist, strebe nicht, sondern halte sie Dir fern, damit Du ohne Seufzer, mit wahrer Seelenruhe und den Göttern von Herzen dankbar sterben kannst. –

Quelle:
Mark Aurel's Meditationen. Breslau 1875, S. 1-14.

 

Mark Aurel

(121 n. Chr.–180 n. Chr.)

Meditationen

Zweites Buch

1.


Erinnere Dich, seit wann Du das nun schon aufschiebst, und wie oft Dir die Götter Zeit und Stunde dazu gegeben haben, ohne dass Du sie nutztest. Endlich solltest Du doch einmal einsehen, was das für eine Welt ist, der Du angehörst, und wie der die Welt regiert, dessen Ausfluss Du bist; und dass Dir die Zeit zugemessen ist, die, wenn Du sie nicht brauchst Dich abzuklären, hin sein wird, wie Du selbst, und die nicht wiederkommt.

2.

Immer sei darauf bedacht, wie es einem Manne geziemt, bei Allem was es zu thun giebt eine strenge und ungekünstelte Gewissenhaftigkeit, Liebe, Freimüthigkeit und Gerechtigkeit zu üben, und Dir dabei alle Nebengedanken fern zu halten. Und Du wirst sie Dir fern halten, sobald Du jede Deiner Handlungen als die letzte im Leben ansiehst: fern von jeder Unbesonnenheit und der Erregtheit, die Dich taub macht gegen die Stimme der richtenden Vernunft, frei von Verstellung, von Selbstliebe und von Unwillen über das, was das Schicksal daran hängt. – Du siehst, wie Wenig es ist, was man sich aneignen muss, um ein glückliches und gottgefälliges Leben zu führen. Denn auch die Götter verlangen von dem, der dies beobachtet, nicht Mehr.

3.

Fahre nur immer fort, Dir selbst zu schaden, liebe Seele! Dich zu fördern wirst Du kaum noch Zeit haben. Denn das Leben flieht einen Jeglichen. Für Dich ist es aber schon so gut als zu Ende, der Du ohne Selbstachtung Dein Glück ausser Dich verlegst in die Seelen Anderer.

4.

Trotz Deines Bestrebens, an Erkenntniss zu wachsen und Dein unstätes Wesen aufzugeben, zerstreuen Dich die Aussendinge noch immer? Mag sein, wenn Du jenes Streben nur festhältst. Denn das bleibt die grösste Thorheit, sich müde zu arbeiten ohne ein Ziel, auf das man all sein Dichten und Trachten hinrichtet.

5.

Wenn man nicht herausbringen kann, was in des Andern Seele vorgeht, so ist das schwerlich ein Unglück; aber nothwendig unglücklich ist man, wenn man über die Regungen der eigenen Seele im Unklaren ist.

6.

Daran musst Du immer denken, was das Wesen der Welt und was das Deinige ist, und wie sich beides zu einander verhält, nämlich was für ein Theil des Ganzen Du bist und zu welchem Ganzen Du gehörst, und dass Dich Niemand hindern kann, stets nur das zu thun und zu reden, was dem Ganzen entspricht, dessen Theil Du bist.

 

7.

Theophrast in seiner Vergleichung der menschlichen Fehler – wie diese denn allenfalls verglichen werden können – sagt: schwerer seien die, die aus Begierde, als die, welche aus Zorn begangen werden. Und wirklich erscheint ja der Zornige als ein Mensch, der nur mit ein ein gewissen Schmerze und mit innerem Widerstreben von der Vernunft abgekommen ist, während der aus Begierde Fehlende, weil ihn die Lust überwältigt, zügelloser erscheint und schwächer in seinen Fehlern. Wenn er nun also behauptet: es zeuge von grösserer Schuld, einen Fehler zu begehen mit Freuden als mit Bedauern, so ist das gewiss richtig und der Philosophie nur angemessen. Man erklärt dann überhaupt den Einen für einen Menschen, der gekränkt worden ist und zu seinem eigenen Leidwesen zum Zorn gezwungen wird, während man bei dem Andern, der Etwas aus Begierde thut, die Sache so ansieht, als begehe er das Unrecht aus heiler Haut.

8.

Jegliches thun und bedenken wie Einer, der im Begriff ist das Leben zu verlassen, das ist das Richtige. Das Fortgehen von den Menschen aber, wenn es Götter giebt, ist kein Unglück. Denn das Uebel hört dann doch wohl gerade auf. Giebt es aber keine, oder kümmern sie sich nicht um die menschlichen Dinge, was soll mir das Leben in einer götterleeren Welt, in einer Welt ohne Vorsehung? Doch sie sind und sie kümmern sich um die menschlichen Dinge. Noch Mehr. Sie haben es, was die Uebel betrifft, und zwar die eigentlichen, ganz in des Menschen Hand gelegt, sich davor zu bewahren. Ja auch hinsichtlich der sonstigen Uebel, kann man sagen, haben sie es so eingerichtet, dass es nur auf uns ankommt, ob sie uns widerfahren werden. Denn wobei der Mensch nicht schlimmer wird, wie sollte dies sein Leben verschlimmern? Selbst die blosse Natur – sei es, dass wir sie uns ohne Bewusstsein oder mit Bewusstsein begabt vorstellen; gewiss ist, dass sie nicht vermag, dem Uebel vorzubeugen oder es wieder gut zu machen – auch sie hätte dergleichen nicht übersehen, hätte nicht in dem Grade gefehlt aus Ohnmacht oder aus Mangel an Anlage, dass sie Gutes und Böses in gleicher Weise guten und bösen Menschen unterschiedslos zu Theil werden Hesse. Tod aber und Leben, Ruhm und Ruhmlosigkeit, Leid und Freude, Reichthum und Armuth und alles dieses wird den guten wie den bösen Menschen ohne Unterschied zu Theil, als Dinge, die weder sittliche Vorzüge noch sittliche Mängel begründen: also sind sie auch weder gut noch böse (weder ein Glück noch ein Unglück).

9.

Wie doch Alles so schnell verbleicht! in der sichtbaren Welt die Leiber, in der Geisterwelt deren Gedächtniss! Was ist doch alles Sinnliche, zumal was durch Vergnügen anlockt oder durch Schmerz abschreckt oder in Stolz und Hochmuth sich breit macht! wie nichtig und verächtlich, wie schmutzig, hinfällig, todt! – Man folge dem Zuge des Geistes; man frage nach denen, die sich durch Werke des Geistes berühmt gemacht haben; man untersuche, was eigentlich sterben heisst (und man wird, wenn man der Phantasie keinen Einfluss auf seine Gedanken verstattet, darin nichts Anderes als ein Werk der Natur erkennen: kindisch aber wäre es doch, vor einem Werke der Natur, das derselben ohnehin auch noch zuträglich ist, sich zu fürchten); man mache sich klar, wie der Mensch Gott ergreift und mit welchem Theile seines Wesens, und wie es mit diesem Theile des Menschen bestellt ist, wenn er Gott ergriffen hat.

10.

Nichts Elenderes als ein Mensch, der um Alles und Jedes sich kümmert, auch um das, woran sonst Niemand denkt, der nicht aufhört über die Vorgänge in der Seele des Nächsten seine Conjecturen zu machen und nicht begreifen mag, dass es genug ist, für den Gott in der eignen Brust zu leben und ihm zu dienen, wie sich's gebührt. Das aber ist sein Dienst: ihn rein zu erhalten von Leidenschaft, von Unbesonnenheit und von Unlust über das, was von Göttern und Menschen geschieht. Denn die Handlungen der Götter zu ehren, gebietet die Tugend und mit denen der Menschen sich zu befreunden die Gleichheit der Abkunft, obwohl die letzteren allerdings auch zuweilen etwas Klägliches haben, weil so Viele nicht wissen, was Güter und was Uebel sind, – eine Blindheit, nicht geringer als die, wenn man Schwarz und Weiss nicht unterscheiden kann.

 

11.

Und wenn Du 3000 Jahre leben solltest, ja noch 10 Mal mehr, es hat ja doch Niemand ein anderes Leben zu verlieren, als eben das, was erlebt, so wie Niemand ein anderes lebt, als was er einmal verlieren wird. Und so läuft das längste wie das kürzeste auf dasselbe hinaus. Denn das Jetzt ist das Gleiche für Alle, wenn auch das Vergangene nicht gleich ist, und der Verlast des Lebens erscheint doch so als ein Jetzt, indem Niemand verlieren kann weder was vergangen noch was zukünftig ist. Oder wie sollte man Einem Etwas abnehmen können, was er nicht besitzt? – An die beiden Dinge also müssen wir denken: einmal, dass Alles seiner Idee nach unter sich gleichartig ist und von gleichem Verlauf, und dass es keinen Unterschied macht, ob man 100 oder 200 Jahre lang oder ewig Ein und Dasselbe sieht. Und dann, dass auch der, der am Längsten gelebt hat, doch nur dasselbe verliert, wie[19] der, der sehr bald stirbt. Denn nur das Jetzt ist es, dessen man beraubt werden kann, weil man nur dieses besitzt, und Niemand verlieren kann, was er nicht hat.

 

12.

Die Seele des Menschen thut sich selbst den grössten Schaden, wenn sie sich von der Natur abzusondern, gleichsam aus ihr herauszuwachsen strebt. So, wenn sie unzufrieden ist über irgend Etwas, das sich ereignet. Es ist dies ein entschiedener Abfall von der Natur, in der ja diese eigenthümliche Verkettung der Umstände begründet ist. Ebenso, wenn sie Jemand verabscheut oder anfeindet oder im Begriff ist, Jemand weh zu thun, wie allemal im Zorn. Ebenso wenn sie von Lust oder von Schmerz sich hinnehmen lässt; oder wenn sie heuchelt, heuchlerisch und unwahr Etwas thut oder spricht; oder wenn ihre Handlungen und Triebe keinen Zweck haben, sondern in's Blaue hinausgehen und über sich selbst völlig im Unklaren sind. Denn auch das Kleinste muss in Beziehung zu einem Zweck gesetzt werden. Der Zweck aber aller vernunftbegabten Wesen ist: den Principien und Normen des ältesten Gemeinwesens Folge zu leisten.

 

13.

Das menschliche Leben ist, was seine Dauer betrifft, ein Punkt; des Menschen Wesen flüssig, sein Empfinden trübe, die Substanz seines Leibes leicht verweslich, seine Seele – einem Kreisel vergleichbar, sein Schicksal schwer zu bestimmen, sein Ruf eine zweifelhafte Sache. Kurz, alles Leibliche an ihm ist wie ein Strom, und alles Seelische ein Traum, ein Rauch: sein Leben Krieg und Wanderung, sein Nachruhm die Vergessenheit. Was ist es nun, das ihn über das Alles zu erheben vermag? Einzig die Philosophie, sie, die uns lehrt, den göttlichen Funken, den wir in uns tragen, rein und unverletzt zu erhalten, dass er Herr sei über Freude und Leid, dass er Nichts ohne Ueberlegung thue, Nichts erlüge und erheuchele und stets unabhängig sei von dem, was Andere thun oder nicht thun, dass er Alles, was ihm widerfährt und zugetheilt wird, so aufnehme, als komme es von da, von wo er selbst gekommen, und dass er endlich den Tod mit heiterem Sinn erwarte, als den Moment der Trennung aller der Elemente, aus denen jegliches lebendige Wesen besteht. Denn wenn den Elementen dadurch nichts Schlimmes widerfährt, dass sie fortwährend in einander übergehen, weshalb sollte man sich scheuen vor der Verwandlung und Lösung aller auf einmal? Vielmehr ist dies das Naturgemässe, und das Naturgemässe ist niemals vom Uebel.

Quelle:
Mark Aurel's Meditationen. Breslau 1875, S. 14-21.

 

Mark Aurel

(121 n. Chr.–180 n. Chr.)

Meditationen

Drittes Buch

1.


Wir müssen uns nicht blos sagen, dass das Leben mit jedem Tage schwindet und ein immer kleinerer Theil davon übrig bleibt, sondern auch bedenken, dass es ja ungewiss ist, wenn man ein längeres Leben vor sich hat, ob sich die Geisteskräfte immer gleichbleiben und zum Verständniss der Dinge, so wie zu all' den Wahrnehmungen und Betrachtungen hinreichen werden, welche uns auf dem Gebiete des Göttlichen und Menschlichen erfahren machen. Denn wie Viele werden im Alter nicht kindisch! und bei wem ein solcher Zustand eingetreten ist, dem fehlt es zwar nicht an der Fähigkeit zu athmen, sich zu nähren, sich Etwas vorzustellen und Etwas zu begehren; aber das Vermögen, sich frei zu bestimmen, die Reihe der Pflichten, die ihm obliegen, zu überschauen, die Erscheinungen sich zu zergliedern und darüber, ob's Zeit zum Sterben sei oder was sonst einer durchaus geweckten Denkkraft bedarf, sich klar zu werden – das ist bei ihm erloschen. Also eilen muss man, nicht blos weil uns der Tod mit jedem Tage näher tritt, sondern auch weil die Fähigkeit, die Dinge zu betrachten und zu verfolgen, oft vorher aufhört.

2.

Merkwürdig ist, wie an den Erzeugnissen der Natur auch das, was nur beiläufige Merkmale sind, einen gewissen Reiz ausübt. So machen z.B. die Risse und Sprünge im Brot, die gewissermassen gegen die Absicht des Bäckers sind, die Esslust besonders rege. Ebenso bei den Feigen, die, wenn sie überreif sind, aufbrechen, und bei den Oliven, die gerade wegen der Stellen geschätzt werden, wo sie nahe daran sind faul zu werden. Die niederhängenden Aehren, die Stirnfalte des Löwen, der Schaum am Munde des Ebers und manches Andere dergleichen hat freilich keinen Reiz, wenn man's für sich betrachtet; aber weil es uns an den Werken der Natur und im Zusammenhange mit ihnen entgegentritt, erscheint es als eine Zierde und wirkt anziehend. Fehlt es uns also nur nicht an Empfänglichkeit und an Tiefe des Blicks in die Welt der Dinge, so werden wir kaum Etwas von solchen Nebenumständen auffinden, was uns nicht angenehm däuchte. Ebenso werden wir dann aber auch z.B. wirkliche Thierkämpfe nicht weniger gern ansehen, als die Darstellungen, die uns Maler und Bildhauer davon geben; und unser keusches Auge wird mit gleichem Wohlgefallen auf der würdigen Gestalt des Greises wie auf der liebreizenden des Mädchens ruhen. Doch gehört dazu eben eine innige Vertrautheit mit der Natur und ihren Werken. –

3.

Hippokrates hat viele Krankheiten geheilt, dann ist er selbst an einer Krankheit gestorben. Die Chaldäer weissagten Vielen den Tod, dann hat sie selber das Geschick ereilt. Alexander, Pompejus, Cäsar – nachdem sie so manche Stadt von Grund aus zerstört und in der Schlacht so viele Tausende ums Leben gebracht, schieden sie selbst aus dem Leben. Heraklit, der über den Weltbrand philosophirt, starb an der Wassersucht, den Demokrit brachte das Ungeziefer um, den Sokrates – ein Ungeziefer anderer Art. Kurz, zu einem Jeden heisst es einmal: Du bist eingestiegen, gefahren, im Hafen eingelaufen: so steige nun aus! Geht's in ein anderes Leben – gewiss in kein's, das ohne Götter ist. Ist's aber ein Zustand der Unempfindlichkeit – auch gut: wir hören auf von Leid und Freude hingehalten zu werden und verlassen ein Behältniss von um so schlechterer Art je edler der Eingeschlossene, denn der ist Geist und göttlichen Wesens, jenes aber Staub und Materie.

4.

Verschwende Deine Zeit nicht mit Gedanken über das, was Andere angeht, es sei denn, dass Du. Jemand damit erspriesslich sein kannst. Du versäumst offenbar nothwendigere Dinge, wenn Dich Nichts weiter beschäftigt, als was Der und Teuer macht und aus welchem Grunde er so handelt, was er sagt oder will oder anstellt. So Etwas zieht den Geist nur ab von der Beobachtung seiner selbst. Man muss alles Eitle und Vergebliche aus der Kette der Gedanken zu entfernen suchen, vorzüglich alle müssige und nichtswürdige Neugier, und sich nur an solche Gedanken gewöhnen, über die wir sofort, wenn uns Jemand fragt, was wir gerade denken, gern und mit aller Offenheit Rechenschaft geben können, so dass man gleich sieht: hier ist Alles lauter und gut und so wie es einem Gliede der menschlichen Gesellschaft geziemt, hier wohnt Nichts von Genusssucht und Lüsternheit, Nichts von Zank oder Neid oder Misstrauen, Nichts von alle dem, wovon der Mensch nur mit Erröthen gestehen kann, dass es seine Seele beschäftige. Und ein solcher Mensch – dem es nun ja auch nicht an dem Streben nach Auszeichnung fehlen kann – ist ein Priester und Diener der Götter, der des Gottes in ihm zu gebrauchen weiss, so dass ihn keine Lust beflecken, kein Schmerz verwunden, kein Stolz berücken, nichts Böses überhaupt ihn reizen kann; er ist ein Held in jenem grossen Kampfe gegen die Leidenschaft, und eingetaucht in das Wesen der Gerechtigkeit vermag er jegliches Geschick von ganzer Seele zu begrüssen. Ein solcher Mensch aber denkt selten und nur, wenn es das allgemeine Beste erfordert, an das was Andere sagen oder thun oder meinen. Sondern die eigene Pflicht ist der einzige Gegenstand seines Thuns, so wie was ihm das Schicksal gesponnen im Gewebe des Ganzen der Hauptgegenstand seines Nachdenkens. Dort hält er Tugend, hier den guten Glauben. Und in der That ist Jedem zuträglich, was sich mit ihm zuträgt nach dem Willen des Schicksals. Stets ist er eingedenk, dass alle Vernunftwesen einander verwandt sind, und dass es zur menschlichen Natur gehört für Andere zu sorgen. Nach Ansehen strebt er nur bei denen, die ein naturgemässes Leben führen, da er ja weiss, was die, die nicht so leben, sind, wie sie's zu Hause und ausser dem Hause, am Tage und bei Nacht und mit wem sie ihr Wesen treiben. Das Lob derer also, die nicht sich selber zu genügen wissen, kann ihm Nichts sein.

 

5.

Thue Nichts mit Widerwillen, Nichts ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl, Nichts ungeprüft, Nichts wobei Du noch ein Bedenken hast. Drücke Deine Gedanken aus ohne Ziererei. Sei kein Schwätzer und kein Vielthuer. Sondern mit einem Worte: der Göttin Dir führe das Regiment, welchem Geschlecht, Alter, Beruf, welcher Abkunft und Stellung Du nun auch angehören magst, so dass Du immer in der Verfassung bist, wenn Du abgerufen werden solltest, gern und willig Zufolgen. – Eidschwur und Zeugenschaft musst Du immer entbehren können. – Innerlich aber sei heiter, nicht bedürfend, dass die Hilfe von Aussen Dir komme, auch nicht des Friedens bedürftig, den Andere uns geben können. – Steh', heisst es, nicht: lasse Dich stellen!

 

6.

Kannst Du im menschlichen Leben etwas Besseres finden als Gerechtigkeit, Wahrheit, Mässigung, Tapferkeit oder mit einem Wort: als den Zustand der Seele, wo Du in Allein, was eine Sache der Vernunft und Selbstbestimmung ist, mit Dir selbst, in dem aber, was ohne Dich geschieht, mit dem Schicksale zufrieden bist; kannst Du, sage ich, Etwas entdecken, was noch besser ist als dies, so wende Dich dem mit ganzer Seele zu und freue Dich, dass Du das Beste aufgefunden hast. Sollte es aber in Wahrheit nichts Besseres geben, als den in Dir wohnenden Gott, der Deine Begierden sich unterthänig zu machen weiss, der die Gedanken prüft, den sinnlichen Empfindungen, wie Sokrates sagt, sich zu entziehen sucht, und der sich selbst – den Göttern unterwirft und für das Wohl der Menschen Sorge trägt: solltest Du finden, dass gegen dieses alles Andere gering ist und verschwindet, so folge nun auch keiner anderen Stimme und lass in Deine Seele Nichts eindringen, was, wenn es Dich einmal angezogen, Dich an der ungetheilten Pflege jenes herrlichen Schatzes, Deines Eigenthums, hindert. Denn diesem Gute, dem höchsten nach Wesen und Wirkung, irgend etwas Anderes wie Ehre, Herrschaft, Reichthum, Genuss an die Seite setzen zu wollen, wäre Thorheit, weil uns alles dieses, selbst wenn wir es nur ein Wenig anziehend finden, dann mit einem Male ganz in Beschlag nimmt und verführt. Darum sage ich, man solle einfach und unbedingt das Bessere wählen und ihm anhängen. Das Bessere ist aber auch immer zugleich das Zuträgliche, sei es, dass es uns frommt als denkenden oder als empfindenden Wesen. Finden, wir nun Etwas, das uns als Vernunftwesen zu fördern verspricht, so müssen wir's festhalten und pflegen. Ist es aber nur für unser Empfinden zuträglich, so haben wir es mit Bescheidenheit und schlichtem Sinn hinzunehmen, und nur dafür zu sorgen, dass wir uns unser gesundes Urtheil bewahren und fortgesetzt die Dinge gehörig prüfen. –

7.

Bilde Dir nie ein, dass Etwas gut für Dich sein könnte, was Dich nöthigt, einmal die Treue zu brechen, die Scham hintanzusetzen, Jemand zu hassen, argwöhnisch zu sein, in Verwünschungen auszubrechen, Dich zu verstellen oder Dinge zu begehren, bei denen man Vorhänge und verschlossene Thüren braucht. Derjenige, welcher die Vernunft, seinen Genius und deren Kultus jederzeit die erste Rolle spielen lässt, wird nie zu einer Tragödie Anlass geben oder seufzen oder die Einsamkeit oder grosse Gesellschaft suchen; er wird leben im höchsten Sinne des Worts und weder auf der Jagd noch auf der Flucht. Ob seine Seele auf lange oder kurze Zeit im Leibe eingeschlossen bleiben soll, kümmert ihn wenig; er würde, auch wenn er bald scheiden müsste, dazu ganz ebenso sich auf den Weg machen, wie wenn es gelte, irgend etwas Anderes mit Anstand und mit edlem Wesen auszuführen; sondern wofür er durch's ganze Leben Sorge trägt, ist nur das, dass seine Seele sich stets in einem Zustande befinde, der einem auf das Zusammenleben mit Andern angewiesenen vernünftigen Wesen geziemt.

8.

In der Seele eines Menschen, der in Zucht und Schranken gehalten worden und so gehörig geläutert ist, findet man nun auch jene Wunden und Schäden nicht mehr, die so häufig unter einer gesunden Oberfläche heimlich fortwuchern. Nichts Knechtisches ist in ihm und nichts Geziertes; sein Wesen hat nichts besonders Verbindliches, aber auch nichts Abstossendes; ihn drückt keine Schuld und Nichts, was ihn zu Heimlichkeiten nöthigte. Auch hat ein solcher Mensch wirklich »vollendet«, wenn ihn das Schicksal ereilt, was man von Andern oft nur mit demselben Rechte sagt, wie von dem Helden eines Drama's, dass er ein tragischer sei, noch die das Stück geendet hat.

9.

Was die Fähigkeit zu urtheilen und Schlüsse zu machen anbetrifft, so musst Du sie in Ehren halten. Denn es wohnt ihr die Kraft bei, zu verhüten, dass sich in Deiner Seele irgend eine Ansicht festsetze, welche widernatürlich ist oder einem vernunftbegabten Wesen unangemessen. Ihre Bestimmung ist, uns geistig unabhängig zu machen, den Menschen zugethan und den Göttern gehorsam. –

10.

Alles Uebrige ist Nebensache. Das Wenige, was ich gesagt habe, reicht völlig hin. Dabei bleibe man sich bewusst, dass Jeder eigentlich nur dem gegenwärtigen Augenblicke lebe. Denn alles Uebrige ist entweder durchlebt oder in Dunkel gehüllt. Also ein Kleines ist's, was Jeder lebt, und ein Kleines, wo er lebt – das Winkelchen Erde, und ein Kleines der Ruhm, auch der grösste, den er hinterlässt: damit er sich forterbe in der Kette dieser Menschenkinder, die so geschwind sterben müssen und die nicht einmal sich selbst begreifen, geschweige den, der längst vor ihnen gestorben!

11.

Den aufgestellten Maximen ist aber noch eine hinzuzufügen. Von jedem Gegenstande, der sich Deinem Nachdenken darbietet, suche Dir stets einen klaren und bestimmten Begriff zu machen, so dass Du weisst, was er an sich und was er nach allen seinen Beziehungen ist, damit Du ihn selbst sowohl wie seine einzelnen Momente nennen und bezeichnen kannst. Denn Nichts erzeugt in dem Grade hohen Sinn und edle Denkungsart, als wenn man im Stande ist, sich von jeder im Leben gemachten Erfahrung, dem Wesen ihres Gegenstandes und ihrer Vermittlung nach, Rechenschaft zu geben, und alle Begebenheiten so anzusehen, dass man bei sich überlegt, in welchem Zusammenhange sie erscheinen und welche Stelle sie in demselben einnehmen, welchen Werth sie für das Ganze haben und was sie dem Menschen bedeuten, diesem Bürger eines höchsten Reiches, zu dem sich die übrigen Reiche wie die einzelnen Häuser zu der ganzen Ortschaft verhalten; dass man weiss, was man jedesmal vor sich hat, wo es sich herschreibt und wie lange es bestehen wird, und wie sich der Mensch dazu zu verhalten habe, ob milde oder tapfer, zweifelhaft oder vertrauensvoll, hingebend oder auf sich selbst beruhend; so dass man sich von jedem Einzelnen sagen muss, entweder: es kommt von Gott, oder: es ist ein Stück jenes grossen Gewebes, das das Schicksal spinnt, und so und so gefügt, oder endlich: es kommt von einem unsrer Genossen und Brüder, der nicht gewusst hat, was naturgemäss ist. Du aber weisst es, und darum begegnest Du ihm, wie es das natürliche Gesetz der Gemeinschaft fordert, mit Liebe und Gerechtigkeit. Und auch in gleichgültigen Dingen zeigst Du ein ihrem Werth entsprechendes Verhalten.

12.

Wenn Du der gesunden Vernunft folgst und bei dem, was Dir zu thun gerade obliegt, mit Eifer, Kraft und Liebe thätig bist, ohne dass Dich ein anderer Gedanke dabei leitet, als der, Dein Inneres rein zu erhalten, als solltest Du bald Deinen Geist aufgeben; wenn Du Dich auf diese Weise zusammen nimmst und dabei weder zögerst noch eilst, sondern Dir genügen lassest an der Dir von Natur zu Gebote stehenden Energie und an der Wahrhaftigkeit, die aus jedem Deiner Worte hervorleuchten muss, so wirst Du ein glückliches Leben führen. Und ich wüsste nicht, wer Dich daran hindern sollte. –

13.

Wie die Aerzte zu raschen Curen stets ihre Instrumente und Eisen zur Hand haben, so musst Du Behufs der Erkenntniss göttlicher und menschlicher Dinge die Lehren der Philosophie in steter Bereitschaft halten, damit Du in Allem, auch im Kleinsten, immer so handelst wie Einer, der sich des Zusammenhanges beider bewusst ist. Denn Menschliches lässt sich ebensowenig richtig behandeln ohne Beziehung auf Göttliches als umgekehrt.

14.

Höre endlich auf, Dich selbst zu verwirren! Es ist nicht daran zu denken, dass Du dazu kommst, was Du Dir für spätere Zeiten Deines Lebens aufbehalten hattest, Dies und Jenes zu treiben und zu lesen und wieder hervorzusuchen. Darum gieb solche thörichte Pläne auf, und wenn Du Dich selber lieb hast, schaffe Dir – noch vermagst Du's – eiligst die Hilfe, deren Du bedarfst!

15.

In manchem Wort, das unbedeutend scheint, liegt oft ein tieferer Sinn. Wie Mancher sagt: »ich will doch sehen, was es giebt«, und denkt nicht daran, dass es dazu eines anderen Schauens bedarf, als das der Augen.

16.

Leib, Seele, Geist – das war jene Dreiheit: der Leib mit seinen Empfindungen, die Seele mit ihren Begierden und der Geist mit seinen Erkenntnissen. Aber Bilder und Vorstellungen haben auch unsere Hausthiere; von Begierden in Bewegung gesetzt werden auch die wilden Thiere oder Menschen, die nicht mehr Menschen sind, ein Phalaris, ein Nero; in Allem, was vortheilhaft scheint, sich vom Geiste leiten zu lassen, ist auch die Sache Solcher, welche das Dasein der Götter leugnen, welche das Vaterland verrathen, welche die schändlichsten Dinge thun, sobald es nur Niemand sieht. Wenn soweit also Jenes etwas Allen Gemeinsames ist, so bleibt als das dem Guten Eigenthümliche nur übrig, das ihm vom Schicksal Bestimmte will kommen zu heissen, das Heiligthum in seiner Brust nicht zu entweihen, sich nicht durch Gedankenmenge zu verwirren, sondern im Gleichmass zu verharren, der Stimme des Gottes zu folgen, Nichts zu reden wider die Wahrheit und Nichts zu thun wider die Gerechtigkeit. Und dass man dabei ein einfaches, züchtiges und wohlgemuthes Leben führt, daran sollte eigentlich Niemand zweifeln. Geschähe es aber, wir würden deshalb doch Keinem zürnen, noch von dem Wege weichen, der an das Ziel des Lebens führt, bei welchem wir unbefleckt, gelassen, wohlgerüstet und willig dem Schicksal gehorchend ankommen müssen.

Quelle:
Mark Aurel's Meditationen. Breslau 1875, S. 21-33.

 

 

 

Mark Aurel

(121 n. Chr.–180 n. Chr.)

Meditationen

Viertes Buch

1.

Wenn der in uns herrschende Geist ist wie er soll, so kann es uns – den Ereignissen gegenüber – nicht schwer fallen, auf jede Möglichkeit vorbereitet zu sein und das Gegebene hinzunehmen. Das Festbestimmte, Abgemachte ist es dann überhaupt nicht, wofür wir Interesse haben, sondern: was uns gut und wünschenswerth scheint, ist doch immer nur mit Vorbehalt ein Gegenstand unseres Strebens; was sich uns aber geradezu in den Weg stellt, betrachten wir als ein Mittel zu unsrer Uebung –: der Flamme gleich, die sich auch solcher Stoffe zu bemächtigen weiss, deren Berührung ein kleineres Licht verlöschen würde, aber ein helles Feuer nimmt in sich auf und verzehrt, was man ihm zuführt, und wird nur grösser dadurch.

2.

Bei Allem, was Du thust, gehe besonnen zu Werke und so, dass Du dabei die höchsten Grundsätze im Auge hast!

3.

Man liebt es, sich zu Zeiten aufs Land, in's Gebirge, an die See zurückzuziehn. Auch Du sehnst Dich vielleicht dahin. Im Grunde genommen aber steckt dahinter eine grosse Beschränktheit. Es steht Dir ja frei, zu jeglicher Stunde Dich in Dich selbst zurückzuziehn, und nirgends finden wir eine so friedliche und ungestörte Zuflucht als in der eignen Seele, sobald wir nur Etwas von dem in uns tragen, was wir nur anzuschauen brauchen, um uns in eine vollkommen ruhige und glückliche Stimmung versetzt zu sehn – eine Stimmung, die nach meiner Ansicht freilich ein anständiges, sittliches Wesen bedingt. Auf diese Weise also ziehe Dich beständig zurück, um Dich immer wieder aufzufrischen. Einfach und klar und bestimmt aber seien jene Ideen, deren Vergegenwärtigung aus Deiner Seele so Manches hinwegspülen und Dir eine Zuflucht schaffen soll, aus der Du nicht übellaunisch zurückkehrst. Und was sollte Dich auch alsdann verdriessen können? »Die Schlechtigkeit der Menschen?« Aber wenn Du bedenkst, dass die vernünftigen Wesen für einander geboren sind, dass das Ertragen des Unrechts zur Gerechtigkeit gehört, dass die Menschen unfreiwillig sündigen, und dann – wie viel streitsüchtige, argwöhnische, gehässige und gewaltthätige Menschen dahin gemusst haben und nun ein Raub der Verwesung sind – wirst Du da Deine Abneigung nicht los werden? »Oder ist es Dein Schicksal?« So erinnere Dich nur jenes Zwiefachen: entweder wir sagen: es giebt eine Vorsehung, oder: wir sehen uns als Theile und Glieder eines Ganzen an, und unserer Betrachtung der Welt liegt die Idee eines Reiches zu Grunde. »Oder ist es Dein Leib, der irgendwie afficirt wird?« Aber Du weisst ja, der Geist, wenn er sich selbst begriffen und seine Macht kennen gelernt hat, hängt nicht ab von sanfteren oder rauheren Lüften; auch weisst Du, wie wir über Schmerz und Freude denken, und bist einverstanden damit. »Oder macht Dir der Ehrgeiz zu schaffen?« Aber wie schnell breitet Vergessenheit über Alles ihren Schleier! wie unablässig drängt Eins das Andere in dieser Welt ohne Anfang und ohne Ende! Wie nichtig ist jeder Nachklang unseres Thuns! wie veränderlich und wie urtheilslos jede Meinung die sich über uns bildet und wie eng der Kreis, in dem sie sich bildet! Die ganze Erde ist ja nur ein Punkt im All, und wie klein nun wieder der Winkel auf ihr, wo von uns die Rede sein kann! Wie Viele können es sein, und was für welche, die unsern Ruhm verkünden? In der That also gilt es sich zurückzuziehen auf eben diesen kleinen Raum, der unser ist, und hier sich weder zerstreuen, noch einspannen zu lassen, sondern sich frei zu bewegen und die Dinge anzusehen wie ein Mensch, wie ein Glied der Gesellschaft, wie ein sterbliches Wesen. Unter allen den Wahrheiten aber, die Dir am Geläufigsten sind, müssen jedenfalls die[35] beiden sein: die eine: dass die Aussendinge die Seele nicht, berühren dürfen, sondern wirklich Aussendinge sein und bleiben müssen. Denn Widerwärtigkeiten giebt es nur für den, der sie dafür hält. Die andere: dass Alles, was Du siehst, sich bald verwandeln und nicht mehr sein werde, wie Du selbst schon eine Menge Wandlungen durchgemacht hast. Mit einem Wort: dass die Welt auf dem Wechsel, das Leben auf der Meinung beruhe.

 

4.

Haben wir Alle das Denkvermögen gemein, dann auch die Vernunft; dann auch die Stimme, die uns sagt, was wir thun und lassen sollen; dann auch eine Gesetzgebung; wir sind also Alle Bürger eines und desselben Reiches. Und so würde folgen, dass die Welt ein Reich ist. Denn welches Reich wäre sonst dem menschlichen Geschlecht gemein? – Stammt nun etwa jene Denkkraft, jenes Vernünftige und Gesetzgebende aus diesem uns Allen gemeinsamen Reiche oder sonst woher? Denn gleichwie die verschiedenen Stoffe, jeder seine besondere Quelle hat (denn es ist Nichts, was aus dem Nichts entstände, so wenig wie Etwas in das Nichts übergeht), so muss auch das Geistige irgendwoher stammen.

5.

Mit dem Tode verhält sich's wie mit der Geburt: beides Geheimnisse der Natur. Dieselben Elemente, welche hier sich einigen, werden dort gelöst. Und das ist Nichts, was uns unwürdig vorkommen könnte. Es widerspricht weder dem vernünftigen Wesen selbst, noch dem Princip seiner Bildung.

6.

Es liegt freilich in der Natur der Sache, dass gewisse Leute einen solchen Widerspruch darin finden. Aber wer dies nicht will, will nicht, dass die Traube Saft habe.

7.

Aendere Deine Ansicht und – Du hörst auf Dich zu beklagen. Beklagst Du Dich nicht mehr, ist auch das Uebel weg.

8. 9.

Der Begriff des Heilsamen und des Schädlichen schliesst es schon in sich, dass was den Menschen nicht verdirbt, auch sein Leben nicht verderben oder verbittern kann weder äusserlich noch innerlich.

 

10.

Alles was geschieht, geschieht mit Recht; einer genauen Beobachtung kann das nicht entgehen. Auch sage ich nicht blos: es ist in der Ordnung, sonder: es ist recht, d.h. so, als käme es von Einem, der Alles nach Recht und Würdigkeit austheilt. Setze Deine Beobachtungen nur fort, und Du selbst – was Du auch thust, sei gut! gut im eigentlichsten Sinne des Worts! Denke daran bei jeder Deiner Handlungen!

11.

Wie derjenige denkt, der Dich verletzt, oder wie er will, dass Du denken sollst, so denke gerade nicht. Sondern sieh die Sache an, wie sie in Wahrheit ist.

 

12.

Zu Zweierlei müssen wir stets bereit sein: einmal, zu handeln einzig den Forderungen gemäss, welche das in uns herrschende Gesetz an uns stellt – und das heisst immer auch zugleich zum Nutzen der Menschen handeln. Sodann: auf unserer Meinung nicht zu beharren, wenn Einer da ist, der sie berichtigen und uns so von ihr abbringen kann. Doch muss jede Sinnesänderung davon ausgehen, dass die neue Ansicht die richtige und gute sei, nicht davon, dass sie Annehmlichkeiten und äussere Vortheile verschaffe.

13.

Wenn Du Vernunft hast, warum gebrauchst Du sie nicht? Thut sie das Ihrige, was kannst Du Mehr verlangen?

 

14.

Was Du bist, ist doch nicht das Ganze. So wirst Du denn auch einst aufgehen in den, der Dich erzeugte; oder vielmehr, nach geschehener Wandlung wirst Du wieder aufgenommen werden in seine Erzeugernatur.

15.

Weihrauch auf dem Altar der Gottheit – das ist des Menschen Leben. Wie Viel davon gestreut schon ist, wie Viel noch nicht, was liegt daran?

16.

Sobald Du Dich zu den Grundsätzen und dem Dienst der Vernunft bekehrst, kannst Du denen ein Gott sein, denen Du jetzt so verächtlich erscheinst.

 

17.

Richte Dich nicht ein, als solltest Du Hunderte alt werden. Denn wie nahe vielleicht ist Dein Ende! Aber so lange Du lebst, so lange es in Deiner Macht steht – sei gut!

18.

Welch ein Gewinn, wenn man auf anderer Leute Worte, Angelegenheiten und Gedanken nicht achtet, sondern nur merkt auf das eigene Thun, ob es gerecht und fromm und gut sei,

» – das Auge abgewendet
vom Pfuhl des Lasters, nur der eignen Bahn
nachgehend, grad' und unverrückt.«

 

19.

Der Ruhmbegierige bedenkt nicht, dass auch die in aller Kürze nicht mehr sein werden, die seiner gedenken, und dass es sich mit jedem folgenden Geschlecht ebenso verhält, bis endlich die Erinnerung, durch Solche fortgepflanzt, die nun erloschen sind, selber erlischt. Aber gesetzt auch, sie wären unsterblich, die Deinen Namen nennen, und unsterblich dieses Namens Gedächtniss: was nutzt Dir's? Dir, der Du bereits gestorben bist? Aber auch, was nutzt Dir's bei Deinem Leben? Es sei denn, dass Du ökonomische Vortheile dabei hast. Sind also Ruhm und Ehre Dir zu Theil geworden, achte dieser Gabe nicht! sie macht Dich eitel und abhängig vom Geist und Wort der Andern.

20.

Jegliches Schöne ist schön durch sich selbst und in sich vollendet, so dass für ein Lob kein Raum in ihm ist. Wird es doch durch Lob weder schlechter noch besser. Dies gilt auch von dem, was man in der Regel schön nennt, von dem körperlich Schönen und den Werken der Kunst. Das wahrhaft Schöne bedarf des Lobes ebenso wenig als das göttliche Gesetz, die Wahrheit, die Güte, die Scham. Oder vermag daran etwa das Lob Etwas zu bessern oder der Tadel Etwas zu verderben? Wird die Schönheit des Edelsteins, des Purpurs, des Goldes, des Elfenbeins, die Schönheit eines Instruments, einer Blüthe, eines Bäumchens geringer dadurch, dass man sie nicht lobt?

21.

Wenn die Seelen fortdauern, wie vermag sie der Luftraum von Ewigkeit her zu fassen? Aber wie ist denn die Erde im Stande, die todten Leiber so vieler Jahrtausende zu fassen? Die Leiber, nachdem sie eine Zeit lang gedauert haben, verwandeln sie sich und lösen sich auf, und so wird andern Leibern Platz gemacht. Ebenso die in den Aether versetzten Seelen. Eine Zeit lang halten sie zusammen, dann verändern sie sich, dehnen sich aus, verbrennen und gehen in das allgemeine Schöpferwesen auf, so dass ein Raum für neue Bewohner entsteht. So etwa liesse sich die Ansicht von der Fortdauer der Seelen erklären. Was aber die Leiber betrifft, so kommt hier nicht blos die Menge der auf jene Weise untergebrachten, sondern auch die der täglich von uns und von den Thieren verzehrten Leiber in Betracht. Welch eine Menge verschwindet und wird so gleichsam begraben in den Leibern derer, die sich davon nähren, und immer derselbe Raum ist's, der sie fasst, durch Verwandlung in Blut, in Luft- und Wärmestoffe. Das Princip oder die Summe aller dieser Erscheinungen ist also: die Auflösung in die Materie und in den Urgrund aller Dinge.

22.

Stets entschieden, gilt es, zu sein und das Rechte im Auge zuhaben bei jeglichem Streben. Indem Gedankenleben aber sei das Begreifliche Dein Leitstern.

23.

Was Dir harmonisch ist, o Welt, ist's auch für mich! Nichts kommt zu früh für mich und Nichts zu spät, wenn's bei Dir heisst: »zu guter Stunde.« Eine süsse Frucht ist mir Alles, was Du gezeitigt hast, Natur. Von Dir und in Dir und zu Dir ist Alles. – Als jener Theben wiedersah, rief er: »du liebe Stadt des Cekrops!« und ich, ich sollte mit dem Blick auf Dich nicht sagen: »du liebe Stadt des höchsten Gottes?«

 

24.

Nur auf wenig Dinge, heisst es, darf sich Deine Thätigkeit erstrecken, wenn Du Dich wohl befinden willst. Aber wäre es nicht besser, sie auf das Nothwendige zu richten? auf das, was wir als Wesen, die auf das Leben in Gemeinschaft angewiesen sind, thun sollen? Denn das hiesse nicht blos das Vielerlei, sondern auch das Schlechte vermeiden und müsste uns also doppelt glücklich machen. Gewiss würden wir ruhiger und zufriedener sein, wenn wir das Meiste von dem, was wir zu reden und zu thun pflegen, als überflüssig Hessen. Ist es doch durchaus nothwendig, dass wir in jedem einzelnen Falle, ehe wir handeln, eine Stimme der Warnung vernehmen; und sollte die von Etwas ausgehen können, das an sich selbst unnöthig ist? Zuerst aber befreie Deine Gedanken von Allem, was unnütz ist, dann' wirst Du auch nichts Unnützes thun.

 

25.

Mache den Versuch – vielleicht gelingt Dir's – zu leben wie ein Mensch, der mit seinem Schicksal zufrieden ist, und, weil er recht handelt und liebevoll gesinnt ist, auch den inneren Frieden besitzt.

26.

Willst Du? so höre noch dies: Rege Dich nicht selbst auf, und bleibe immer bei Dir. Hat sich Jemand an Dir vergangen: an sich selbst hat er sich vergangen. Ist Dir etwas Trauriges widerfahren: es war Dir von Anfang an bestimmt; was geschieht, ist Alles Fügung. Und in Summa: das Leben ist kurz. Die Gegenwart ist's, die wir nutzen sollen, durch rechtschaffenes und überlegtes Handeln, und wenn wir ausruhen wollen, durch ein besonnenes Ausruhen.

 

27.

Wenn der ein Fremdling ist in der Welt, der nicht weiss, was auf ihr ist und geschieht, so nenne ich den einen Flüchtling, der sich den Ansprüchen des Staates entzieht; einen Blinden, der das Auge seines Geistes schliesst; einen Bettler, der eines Andern bedarf und nicht in sich alles zum Leben Nöthige trägt; einen Auswuchs des Weltalls, der von dem Grundgesetz der Allnatur abweicht und – hadert mit dem Schicksal! als hätte sie, die Dich hervorgebracht, nicht auch dieses erzeugt; ein abgehauenes Glied der menschlichen Gesellschaft, der mit seiner Seele von dem Lebensprincip der einen alle Vernunftwesen umfassenden Gemeinde geschieden ist.

28.

Es giebt Philosophen, die keinen Rock anzuziehen haben und halbnackt einhergehen. »Nichts zu essen,[43] aber treu der Idee.« Auch für mich ist die Philosophie kein Brotstudium.

 

29.

Liebe immerhin die Kunst, die Du gelernt hast, und ruhe Dich aus in ihr. Doch gehe durch's Leben nicht anders wie Einer, der Alles, was er hat von ganzem Herzen den Göttern weiht, Niemandes Tyrann und Niemandes Knecht.

30.

Betrachten wir die Geschichte, z.B. die Zeiten Vespasians, so finden wir Menschen, die sich freien, Kinder zeugen, krank liegen, sterben, Krieg führen, Feste feiern, Handel treiben, Acker bauen; finden Schmeichler, Freche, Misstrauische, Listige, oder solche, die ihr Ende herbeiwünschen, die sich über die schlimmen Zeiten beklagen; finden Liebhaber, Geizhälse, Ehrgeizige, Herrschsüchtige. Denn etwas Anderes tritt uns doch wahrlich nicht entgegen. Gehen wir über auf die Zeiten des Trajan: Alles ganz ebenso, und auch diese Zeit ging zu Grabe. – So betrachte die Grabschriften aller Zeiten und Völker, damit Du siehst, wie Viele, die sich aufschwangen, nach kurzer Zeit wieder sanken und vergingen. Namentlich muss man immer wieder an die denken, bei denen wir's mit eignen Augen gesellen haben, wie sie nach eitlen Dingen trachteten, wie sie nicht thaten, was ihrer Bildung entsprach, daran nicht unablässig fest hielten und sich daran nicht genügen Hessen. Und fällt uns dann die Regel ein, dass die Behandlung einer Sache ihren Massstab in dem Werth der Sache selbst hat, so wollen wir sie doch ja beobachten, damit wir uns vor dem Ekel bewahren, der die nothwendige Folge davon ist, dass man den Dingen mehr Werth beilegt, als sie verdienen.

31.

Worte, die ehemals in Gebrauch waren, sind nun veraltet. So sind auch die Namen einst hochberühmter Männer, eines Camill, Scipio, Cato, dann eines Augustus, dann Hadrians, dann Antoninus Pius, später gleichsam veraltete Worte. Sie verbleichen bald und nehmen das Gewand der Sage an, bald sind sie gar versunken in Vergessenheit. Dies gilt von denen, die ehemals so wunderbar geleuchtet haben. Denn von den Andern, sind sie nur todt, weiss man Nichts mehr, hat man nie Etwas gehört. Also ist Unvergesslichkeit ein leeres Wort. Aber was ist es denn nun, wonach sich's lohnt zu streben? Nur das Eine: eine tüchtige Gesinnung, ein Leben zum Besten Anderer, Wahrheit in jeder Aeusserung, ein Zustand des Gemüths, wonach Dir Alles, was geschieht, nothwendig scheint und Dir befreundet, aus einer Quelle fliessend, mit der Du vertraut bist.

32.

Gieb Dich dem Schicksal willig hin, und erlaube ihm, Dich mit den Dingen zu verflechten, die es Dir irgend zuerkennt.

33.

Eintagsfliegen sind Beide, der Gedenkende und der, dessen gedacht wird.

34.

Alles entsteht durch Verwandlung, und die Natur liebt Nichts so sehr, als das Vorhandene umzuschaffen und Neues von ähnlicher Art zu erzeugen. Jedes Einzelwesen ist gewissermassen der Same eines zukünftigen, und es wäre eine grosse Beschränktheit, nur das als ein Samenkorn anzusehen, was in die Erde oder in den Mutterschoss geworfen wird.

35.

Wie bald wirst Du todt sein, und noch immer bist Du nicht ohne Falsch, nicht ohne Leidenschaft, nicht frei von dem Vorurtheil, dass Aeusseres dem Menschen schaden könne, nicht sanftmüthig gegen Jedermann, und noch immer nicht überzeugt, dass Gerechtigkeit die einzig wahre Klugheit sei.

36.

Sieh sie Dir an diese weisen Männer und wie ihre Geister beschaffen sind, was sie fliehen und was sie verfolgen.

 

37.

In der Seele eines Andern sitzt es nicht, was Dich unglücklich macht, auch nicht in der Wendung Deiner äusseren Verhältnisse. Wo denn, fragst Du? In Deinem Urtheil! Halte es nicht für ein Unglück, und Alles steht gut. Und wenn, was Dich zunächst umgiebt, Deine Haut verwundet, geschnitten, gebrannt wird, doch muss der Theil Deines Wesens, der über solche Dinge urtheilt, in Ruhe sein, d.h. er muss denken, dass das, was ebenso den Guten wie den Bösen treffen kann, unser Unglück oder unser Glück unmöglich ausmacht. Denn was bald der erfährt, der gegen die Natur lebt, bald wieder der, der ihrer Stimme folgt, das kann doch selbst nicht widernatürlich oder natürlich heissen.

38.

Die Welt ist ein einiges lebendiges Wesen, ein Weltstoff und eine Weltseele. In dieses Weltbewusstsein wird Alles absorbirt, so wie aus ihm Alles hervorgeht, so jedoch, dass von den Einzelwesen eines des anderen Mitursache ist und auch sonst die innigste Verknüpfung unter ihnen stattfindet.

39.

Nach Epiktet ist der Mensch – eine Seele mit einem Todten auf dem Rücken.

40.

Was zu dem Wandelungsprozesse gehört, dem wir Alle unterworfen sind, das kann als solches weder gut noch böse sein.

41.

Ein Strom des Werdens, wo Eins das Andre jagt, ist diese Welt. Denn ein jegliches Ding – verschlungen ist's, kaum da es aufgetaucht. Aber kaum ist das Eine dahin, trägt die Woge schon wieder ein Anderes her.

 

42.

Wie die Rose des Sommers Vertraute und die Früchte die Freunde des Herbstes sind, so ist das Schicksal uns freundlich gesinnt, mag es nun Krankheit oder Tod oder Schimpf und Schande heissen. Denn Kummer machen solche Dinge nur dem Thoren.

43.

Das Folgende entspricht immer dem Vorangehenden, nicht in der Weise des Nacheinander mit blos äusserer Verknüpfung, sondern durch ein inneres geistiges Band. Denn wie im Reiche des Gewordenen Alles harmonisch gefügt ist, so tritt uns auch auf dem Gebiete des Werdens keine blosse Aufeinanderfolge, sondern eine wunderbare innere Verwandtschaft entgegen.

 

44.

Mag es richtig sein, was Heraklit sagt, dass in der Natur das Eine des Andern Tod sei, der Erde Tod das Wasser, des Wassers die Luft, der Luft das Feuer und umgekehrt; doch hat er nicht gewusst, wohin Alles führt. Aber es lässt sich auch von solchen Leuten lernen, die das Ziel ihres Weges aus dem Gedächtniss verloren haben, auch von solchen, die, je mehr sie mit dem Alles beherrschenden Geiste verkehren, thatsächlich sich desto mehr von ihm entfernen, auch von denen, welchen gerade das fremd ist, was sie täglich beschauen, oder die wie im Traume handeln und reden (denn auch das nennt man noch Thätigkeit), oder endlich von solchen, die wie die kleinen Kinder Alles nachmachen.

45.

Wenn Dir ein Gott weissagte, Du werdest morgen, höchstens übermorgen sterben, so könntest Du Dich über dieses »Uebermorgen« doch nur freuen, wenn gar nichts Edles in Dir stecke. Denn was ist's für ein Aufschub! Ebenso gleichgültig aber müsste es Dir sein, wenn man Dir prophezeite: nicht morgen, sondern erst nach langen Jahren!

46.

Wie viele Aerzte sind gestorben, nachdem sie an wie vielen Krankenbetten bedenklich den Kopf geschüttelt; wie viele Astrologen, die erst Andern mit grosser Wichtigkeit den Tod verkündigten; wie viele Philosophen, nachdem sie über Tod und Unsterblichkeit ihre tausenderlei Gedanken ausgekramt; wie viele Kriegshelden mit dem Blute Anderer bespritzt; wie viele Fürsten, die ihres Rechtes über Leben und Tod mit grossem Uebermuthe brauchten, als wären sie selbst nicht auch sterbliche Menschen; wie viele Städte – Helion, Pompeji, Herkulanum und unzählige andere – sind, dass ich so sage, gestorben! Dann die Du selbst gekannt hast, Einer nach dem Andern! Der jenen begrub, wurde dann selbst begraben, und das binnen Kurzem. Denn alles Menschliche ist nichtig und vorübergehend, das Gestern eine Seifenblase, das Morgen – erst eine einbalsamirte Leiche, dann ein Haufen Asche. Darum nutze das Heute so wie Du sollst, dann scheidet sich's leicht: wie die Frucht, wenn sie reif gewollt abfällt – preisend den Zweig, an dem sie hing, dankend dem Baum, der sie hervorgebracht!

47.

Wie der Fels im Meere, an dem die Wellen unaufhörlich rütteln – aber er steht, und ringsum legt sich der Brandung Ungestüm: so stehe auch Du! Nenne Dich nicht unglücklich, wenn Dir ein »Unglück« widerfuhr! Nein, sondern preise Dich glücklich, dass, obwohl es Dir widerfahren ist, der Schmerz Dir doch nichts anhat und weder Gegenwärtiges Dich mürbe machen, noch Zukünftiges Dich ängstigen kann. Jedem könnt' es begegnen, aber nicht Jeder hätte es so ertragen. Und warum nennst Du das Eine ein Unglück, das Andere ein Glück? Nennst Du nicht das ein Unglück für den Menschen, was ein Fehlgriff seiner Natur ist? Aber wie sollte das ein Fehlgriff der menschlichen Natur sein können, was nicht wider ihren Willen ist? Und Du kennst doch ihren Willen? Kann Dich denn irgend ein Schicksal hindern, gerecht zu sein, hochherzig, besonnen, klug, selbstständig in Deiner Meinung, wahrhaft in Deinen Reden, sittsam und frei in Deinem Betragen, hindern an dem, was wenn es vorhanden ist so recht dem Zweck der Menschen-Natur entspricht? So oft also etwas Schmerzhaftes Dir nahe tritt: denke, es sei kein Unglück; aber ein Glück sei's, es mit edlem Muthe zu tragen.

48.

Es ist zwar ein lächerliches aber wirksames Hilfsmittel, wenn man den Tod will verachten lernen, sich die Menschen zu vergegenwärtigen, welche mit aller Inbrunst am Leben hingen. Denn was war ihr Loos, als dass sie zu früh starben? Begraben liegen sie Alle, die Fabius, Julianus, Lepidus oder wie sie heissen mögen, die allerdings so manche Andere überlebten, dann aber doch auch an die Reihe mussten. – Wie klein ist dieser ganze Lebensraum, und unter wie viel Mühen, mit wie schlechter Gesellschaft, in wie zerbrechlichem Körper wird er zurückgelegt! Es ist nicht der Rede werth. Hinter Dir eine Ewigkeit und vor Dir eine Ewigkeit: dazwischen – was für ein Unterschied, ob Du 3 Tage oder 3 Jahrhunderte zu leben hast?

49.

Daher begrenze den Weg, den Du zu gehen hast! Du wirst Dich auf diese Weise von mancher Sorge und von manchem Ballast befreien. Das Begrenzte ist der Natur gemäss, Begrenzung die Gesundheit unseres Thuns und Denkens!

Quelle:
Mark Aurel's Meditationen. Breslau 1875, S. 33-51.

 

 

 

Mark Aurel

(121 n. Chr.–180 n. Chr.)

Meditationen

Fünftes Buch

1.


Früh, wenn's Dir Leid thut schon aufgewacht zu sein, sage Dir gleich, Du seist erwacht Dich menschlich zu bethätigen. Um der Thätigkeit willen bist Du geboren und in die Welt gekommen, und Du wolltest verdriesslich sein, dass Du an's Werk gehen musst? Oder bist Du bereitet worden, in den Federn liegend Dich zu pflegen? Freilich ist dies angenehmer; aber bist Du um des Vergnügens willen da, nicht vielmehr um Etwas zu schaffen und Dich anzustrengen? Siehe alle Kreaturen, die Sperlinge, die Ameisen, die Spinnen, die Bienen, wie jedes sein Werk vollbringt und jedes in seiner Weise an der Aufgabe des Universums arbeitet! Und Du wolltest das Deinige nicht thun? nicht laufen den Weg, den die menschliche Natur Dir vorschreibt? – Man muss doch auch ausruhen, sagst Du. Freilich muss man. Nur in dem Masse eben, das die Natur Dir selbst an die Hand giebt, ebenso wie für das Essen und Trinken. Darin aber willst Du die Grenze überschreiten und Mehr thun als nöthig ist, nur in der Thätigkeit dahinten bleiben? Da sieht man, dass Du Dich selbst nicht lieb hast, sonst würdest Du die menschliche Natur und deren Willen lieb haben. Andere, die mit Liebe die Kunst betreiben, die sie gelernt haben, sind oft so versessen darauf, dass sie darüber vergessen sich zu waschen oder zu frühstücken. Du aber ehrst die Menschheit in Dir nicht einmal so hoch wie jene ihre Kunst, wie der Drechsler seine Drechselei, der Tänzer seine Sprünge, der Geizhals sein Geld, der Ehrgeizige seinen Ruhm. Denn sobald solche Leute ihrem Beruf mit Eifer hingegeben sind, liegt ihnen am Essen und Schlafen weit weniger, als daran, dass sie's weiter bringen in dem, was ihres Amtes ist. Und Du bist im Stande, das für Andere Thätigsein niedriger zu stellen und eines solchen Eifers nicht für werth zu halten?

2.

Es ist wahrlich nicht so schwer, jeden beunruhigenden und unziemlichen Gedanken, der sich aufdrängt, wieder loszuwerden und hinwegzutilgen, so dass die vollkommene Stille und Heiterkeit des Gemüths gleich wieder hergestellt ist.

 

3.

Erkenne, dass Du jeder echt menschlichen Aeusserung in Wort und Werk würdig bist, und lass Dich von keinem Tadel oder Stichelrede, die Andere Dir nachsenden, beschwatzen. Was edel ist zu sagen und zu thun, dessen bist Du niemals unwürdig. Jene haben ihre eigenen Grundsätze, denen sie folgen, und ihren eigenen Sinn. Darauf darfst Du keine Rücksicht nehmen, sondern musst den geraden Weg gehen, den Deine und die allgemein menschliche Natur Dir vorschreibt. Und es ist in der That nur ein Weg, den diese beiden Dir weisen.

4.

So lass uns durch's Leben gehen, bis wir verfallen und uns zur Ruhe begeben, den Geist dahin aushauchend, von wo wir ihn tagtäglich eingesogen, dahin zurücksinkend, woher der Keim zu unserm Dasein stammt, woher wir durch so viele Jahre Speise und Trank nahmen, was uns durch's Leben trug und wovon wir oft genug einen schlechten Gebrauch gemacht haben.

5.

Dein Scharfsinn ist es nicht, weswegen man Dich bewundern muss. Aber gesetzt auch, er könnte Dir nicht abgesprochen werden, so wirst Du doch gestehen müssen, dass vieles Andere mehr in Deiner Natur liegt. Und dies ist es nun, was Du vor Allem pflegen und kundgeben musst, z.B. Deine Lauterkeit und Deinen Ernst, Deine Standhaftigkeit und Deine Abneigung gegen sinnlichen Genuss, Deine Zufriedenheit mit Deinem Schicksal, Deine Mässigkeit, Güte, Freisinnigkeit, Einfachheit, Dein gesetztes würdevolles Wesen. Und fühlst Du nicht, was Du Alles hättest sein können? was Deine Natur und angeborenes Geschick so wohl zugelassen hätten, und bist es dennoch schuldig geblichen? Oder war es die Mangelhaftigkeit Deiner Naturanlage, was Dich zwang, mürrisch zu sein und knickerig und ein Schmeichler, ein Feind oder Sklave Deines eigenen Leibes, ein eitler und ehrgeiziger Mensch? Wahrlich, nein. Du könntest laugst von diesen Fehlern frei sein. Ist es aber wahr, dass Du von Natur etwas schwerfällig bist und langsam von Begriffen, so gilt es auch darin sich anzustrengen und zu üben, nicht, diese Schwäche unberücksichtigt zu lassen oder gar sich darin zu gefallen.

6.

Es giebt Menschen, die, wenn sie Jemand einen Gefallen gethan haben, dies gleich als eine Gunstbezeugung[54] angesehen wissen wollen; ferner solche, die wenn sie auch nicht gerade solche Ansprüche erheben, doch sehr genau wissen wollen, was sie gethan haben, und den, dem sie wohl gethan, bei sich selbst wenigstens als ihren Schuldner betrachten; endlich solche, die gewissermassen nicht wissen, was sie thaten – dem Weinstock gleich, der seine Trauben trägt und Nichts weiter will, nachdem er die ihm eigenthümliche Frucht einmal hervorgebracht hat. Das Pferd, das seinen Weg gelaufen ist, der Hund, der das Wild erjagt, und die Biene, die ihren Honig bereitet hat, erhebt kein Geschrei, ruft Niemand zu: seht, das hab' ich gethan, sondern geht gleich zu etwas Anderem über, wie der Baum wieder neue Früchte ansetzt zu seiner Zeit. Und so soll's auch beim Menschen sein, wenn er ein gutes Werk vollbracht hat. – Also wirklich, zu denen soll man gehören, die, was sie thun, gleichsam auf unbegreifliche Weise thun? Ja; aber dass wir zu ihnen gehören, soll man begreifen! Du sagst: ein Wesen, das zur Gemeinschaft geboren ist, müsse doch wissen, wenn es seiner Bestimmung gemäss, d. i. wenn es für Andere handelt, und wahrlich doch auch wollen, dass dies der Andere merke. Wohl wahr, aber Du machst davon nicht die richtige Anwendung, und darum bist Du nun einmal Einer von denen, die ich eben beschrieben habe, denn auch bei jenen ist es der Schein von Wahrheit, der sie irre leitet. Jedenfalls aber würdest Du mich missverstehen, wenn Du aus irgend einem Grunde es unterlassen wolltest, Etwas zum Wohle Anderer zu thun.

7.

Die Athener beteten: »regne, regne, lieber Zeus, auf die Aecker und Wiesen der Athener!« Und man bete entweder gar nicht oder nur in dieser Weise, einfältig und geradezu!

8.

Gerade, wie man sagt, dass Aeskulap dem Einen das Reiten, dem Andern kalte Bäder, dem Dritten barfuss zu gehen verordnete, ebenso muss man auch sagen, dass die Natur bald Krankheit, bald Verletzung, bald schmerzliche Verluste zu verordnen pflegt. Dort wendet man den Ausdruck an, um zu bezeichnen, dass er den Menschen jene Mittel als der Gesundheit entsprechend gegeben habe, und hier gilt es ja auch, dass alles das, was Einem widerfährt, ihm als dem allgemeinen Schicksal entsprechend gegeben wird. Ebenso brauchen wir von unsern Schicksalen den Ausdruck »sich fügen«, wie ihn die Baumeister brauchen von den Quadern, die bei Mauer- oder Pyramidenbauten sich schönstens zusammenordnen. Denn durch Alles geht eine grosse Harmonie, und wie im Reiche der Natur die Natur eines Einzelwesens nicht begriffen werden kann ausser im Zusammenhange aller andern Einzelwesen, so auch auf dem Gebiete des Geschehens kein einzelner Umstand und Grund abgesehen von allen übrigen: was denn auch der Sinn jener vulgären Ausdrucksweise ist, wenn man sagt; es »trug sich zu«, oder, es war ihm »beschieden«. Lasset uns also dergleichen hinnehmen, gleichwie jene nahmen, was Aeskulap ihnen verordnet; denn auch davon war Manches bitter und wurde süss nur durch die Hoffnung auf Genesung. Dieselbe Bedeutung aber, welche für Dich Deine Gesundheit hat, muss auch die Erfüllung und Vollendung dessen für Dich haben, was im Sinne des Universums liegt, und Du musst Alles, was geschieht, und wäre es auch noch so wenig freundlich, willkommen heissen, weil seine Tendenz ja nichts Anderes ist als die Gesundheit der Welt, das Glück und Wohlbefinden des höchsten Gottes. Hätte es sich doch gar nicht zugetragen, wenn es nicht für das Ganze zuträglich gewesen wäre; hätte es doch kein Zufall so gefügt, fügte es sich nicht harmonisch in die Verwaltung aller Dinge. Also zwei Gründe sind, weshalb Dir Dein Schicksal gefallen muss. Der eine; weil es Dein Schicksal ist, weil es Dir verordnet ward mit Rücksicht auf Dich – von Oben her in ursächlicher Verkettung mit dem ersten Grunde. Der andere: weil es der Grund des vollkommenen Glückes, ja fürwahr auch des Bestehens dessen ist, der Alles regiert. Denn es ist eine Verletzung des Ganzen in seiner Vollständigkeit, wenn Du den geringsten seiner Bestandtheile – – und seine Bestandtheile sind immer auch zugleich Ursachen – aus seiner Verbindung und seinem Zusammenhange reissest. Und – so weit das in Deiner Hand steht, reissest Du wirklich los und trennst das Zusammengehörige, sobald Du murrst über Dein Schicksal.

9.

Du darfst nicht unwillig werden, den Muth nicht sinken lassen oder gar verzweifeln, wenn es Dir nicht vollständig gelingt, immer nach richtigen Grundsätzen zu handeln. Bist Du von Deiner Höhe heruntergefallen, erhebe Dich wieder, sei zufrieden, wenn nur wenigstens das Meiste an Dir nach achter Menschen Art ist, und lass Dich beglücken von dem, was Dir von Neuem gelang. Meine nicht, dass die Philosophie ein Zuchtmeister sei. Greife zu ihr nur so wie die Augenkranken zum Schwamm oder zum Ei, wie Andere zum Pflaster oder zur Begiessung. Denn Nichts wird Dich zwingen der Vernunft zu gehorchen. Man muss sich ihr vielmehr vertrauensvoll hingeben. Du weisst die Philosophie will nichts Anderes, als was Deine Natur auch will. Du aber hast etwas Anderes gewollt, etwas ihr Widerstreitendes, weil es Dir angenehmer schien. Die Lust macht uns solche Vorspiegelungen. Aber besinne Dich, ob Hochherzigkeit, Freiheit des Geistes, Einfalt, Gleichmuth, Sittenreinheit nicht doch das Angenehmere sind. Oder was ist angenehmer als Weisheit, wenn man darunter das nie Anstossende, glatt Hinfliessende der geistigen Kraft versteht?

10.

Das Wesen und die Bedeutung der Verhältnisse dieses Lebens sind im Allgemeinen in ein solches Dunkel gehüllt, dass sie nicht wenig Philosophen und nicht blos den gewöhnlichen als völlig unbegreiflich erscheinen. Auch die Stoiker bekennen, dass sie sie kaum verstehen. Dann sind auch unsere Ansichten so höchst veränderlich. Es giebt ja keinen Menschen, der sich in seinen Ansichten gleichbliebe. Ferner was nun die »Güter« dieses Lebens anlangt, wie vergänglich und nichtig sind sie! Können sie doch das Eigenthum jedes Nichtswürdigen werden! Aber nicht minder elend steht es mit dem Geist der Zeit. Selbst die beste seiner Aeusserungen, welche Mühe hat man sie zu ertragen, ja es kostet nicht Wenig, sich selber zu ertragen. Bei solcher Taubheit und Verkommenheit der Zustände, bei diesem ewigen Wechsel des Wesens und der Form, bei dieser Unberechenbarkeit der Richtung, die die Dinge nehmen – was da der Liebe und des Strebens noch werth sein soll, vermag ich nicht zu sehen. Im Gegentheil, es ist der einzige Trost, dass man der allgemeinen Auflösung entgegengeht. – Drum trage geduldig die Zeit, die noch dazwischen liegt, und beherzige nur das, dass Nichts Dir widerfahren kann, was nicht in der Natur des Ganzen begründet liegt, und dann: dass Du die Freiheit hast, Alles zu unterlassen, was wider die Stimme Deines Genius ist. Denn die zu überhören kann Dich Niemand zwingen.

 

11.

Wozu gebrauchst Du jetzt Deine Seele? So muss man sich bei jeder Gelegenheit fragen. Oder, was gellt jetzt vor in dem Theile Deines Wesens, den man den vornehmsten nennt? Oder was für eine Seele hast Du jetzt, die eines Kindes oder eines Jünglings, eines[59] Weibes, eines Tyrannen, eines zahmen oder eines wilden Thieres?

12.

Wie es im Grunde damit steht, was bei der Menge als das Gute gilt, kann man auch daraus erkennen, dass jenes Wort eines alten Komikers: »denn für den Edlen ziemt sich Solches nicht« auf alle diese Scheingüter, wie Reichthum, Luxus, Ehre, anwendbar ist (wiewohl die Leute das allerdings nicht gelten lassen werden), während es auf wahre Güter, wie Klugheit, Mässigkeit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, angewendet vollkommen widersinnig wäre.

 

13.

Woraus wir bestehen, ist Form und Materie. Keins von Beiden aber wird in's Nichts verschwinden, so wenig wie es aus dem Nichts hervorgegangen ist. Sondern jeder Theil unseres Wesens wird durch Verwandlung übergeführt in irgend einen Theil des Weltganzen; dieser geht dann wieder in einen andern über und so in's Unendliche. Durch diesen Verwandlungsprozess erhalte ich meine Existenz, durch ihn erhielten sie auch die, die mich erzeugten, und so wieder rückwärts in's Unendliche. Denn »in's Unendliche« darf man wirklich sagen, wenn auch der Weltlauf seine fest begrenzten Zeiträume hat.

14.

Die Vernunft und ihre Praxis sind Kräfte, die sich selbst genügen und die keinen andern Richter über ihre Aeusserungen haben als sich selbst. Sie haben ihr Princip und ihre Tendenz in sich, und richtig heissen ihre Handlungen, weil durch sie der rechte Weg offenbar wird.

 

15.

Nichts ist Sache des Menschen, was ihn als Menschen Nichts angeht, was von der menschlichen Natur weder gefordert noch verheissen wird, und was zu ihrer Vollendung Nichts beiträgt – was also auch kein Ziel menschlichen Strebens sein oder ein Gut d. i. ein Mittel zu diesem Ziele zu gelangen genannt werden kann. Wäre dies nicht, so hätten wir Unrecht, es als eine Pflicht des Menschen anzusehen, dergleichen Dinge zu verachten und sich ihnen zu widersetzen, und dürften den nicht loben, der ihrer nicht bedarf. Auch könnte, wenn dies Güter wären, der nicht gut sein, der freiwillig dem Genüsse solcher Dinge entsagt. Nun aber sind wir in der That um so viel besser, je mehr wir solcher Dinge uns enthalten, und je leichter wir ihren Mangel ertragen.

 

16.

Wie die Gedanken sind, die Du am häufigsten denkst, ganz so ist auch Deine Gesinnung. Denn von den Gedanken wird die Seele gesättigt. Sättige sie also mit solchen wie die: dass man, wo man auch leben muss, glücklich sein könne; dass Alles um irgend einer Sache willen gemacht sei, und wozu es gemacht sei, dahin werde es auch getragen, und wohin es getragen werde, da liege auch der Zweck seines Daseins, wo aber dieser, da auch das ihm Zuträgliche und Heilsame. Das den vernünftigen Wesen Heilsame aber ist die Gemeinschaft. Denn zur Gemeinschaft sind wir geboren. Oder liegt es nicht auf der Hand, dass das Geringere um des Besseren willen, die besseren Dinge aber für einander da seien? Besser aber als das Unbeseelte ist das Beseelte, und besser als dieses das Vernünftige.

 

17.

Nach dem Unmöglichen streben ist wahnsinnig; unmöglich aber, dass der gemeine Mensch nicht Solches tuhn sollte.

18.

Nichts geschieht uns, was zu ertragen uns nicht natürlich wäre. Bei manchen Schicksalen sind wir freilich nur aus Stumpfsinn oder aus Prahlerei standhaft und unverwundbar. Und das ist eben das Traurige, dass Gefühllosigkeit und Gefallsucht stärker sein sollen, als die Besinnung!

19.

Die Umstände sind es nun einmal durchaus nicht, wodurch die Seele berührt wird; sie haben keinen Zugang zu ihr und können sie weder umstimmen, noch irgend bewegen. Die Seele stimmt und bewegt sich einzig selber, und je nach dem Urtheil und der Auffassung, zu der sie's bringen kann, gestaltet sie die Dinge, die vor ihr liegen.

20.

Das Gesetz, das uns vorschreibt, den Menschen wohl zu thun und sie zu tragen, macht sie uns zu den befreundetsten Wesen. Insofern sie uns aber hinderlich werden können, das uns Gebührende zu thun, Ist mir der Mensch etwas ebenso Gleichgültiges wie die Sonne, der Wind, das Thier. Nur dass sich ihrem verderblichen Einflusse ja eben entgegentreten lässt. Man entziehe sich ihnen oder suche sie umzuwandeln, so geschieht unserm Streben und unserer Neigung kein Eintrag. Auf diese Weise verwandelt und bildet die Seele ein Hinderniss unseres Wirkens um in sein Gegentheil: was unser Werk aufhalten sollte, gestaltet sich selbst zum guten Werke, und ein Weg eröffnet sich eben da, wo uns der Weg versperrt ward.

 

21.

Dem, was das Beste in der Welt ist, dem Wesen nämlich, das Alles hat und Alles verwaltet, gebührt unsere Ehrfurcht. Nicht minder aber auch dem, was das Beste in uns ist. Es ist jenem verwandt, da ja auch in uns Etwas ist, was alles Andere hat und wovon Dein ganzes Leben regiert wird.

22.

Was dem Staate nicht schadet, schadet auch dem Bürger nicht. Diese Regel halte fest, so oft Du Dir einbildest, dass Dir ein Schaden geschieht. Ist's keiner für die Gemeinschaft, der Du angehörst, dann auch keiner für Dich. Und wenn's für jene keiner ist – kannst Du dem Menschen zürnen, der Nichts gethan hat, was dem Ganzen schadet?

23.

Denke recht oft daran, wie Alles, was ist und was geschieht, so schnell wieder hinweggeführt wird und entschlüpft. Die ganze Materie ist ein ewig bewegter Strom, alles Gewirkte und alles Wirkende ein tausendfacher Wechsel, eine Kette ewiger Verwandlungen. Nichts steht fest. Vorwärts und rückwärts eine Unendlichkeit, in der Alles verschwindet. Wie thöricht also Jeder, der mit irgend Etwas gross thut, oder von irgend einer Sache sich hin- und herreissen lässt oder darüber jammert, als ob der Kummer nicht nur kurze Zeit währte.

24.

Denke, welch' ein winziges Stück des ganzen Weltwesens Du bist, wie klein und verschwindend der Punkt in der ganzen Ewigkeit, auf den Du gestellt bist, und Dein Schicksal – welch' ein Bruchtheil des gesammten!

 

25.

Hat mich Jemand beleidigt – mag er selbst zusehen. Es ist seine Neigung, seine Art zu handeln, der erfolgte. Ich habe die meinige, so wie die Natur des Alls sie mir gegeben, und ich handle so, wie meine Natur will, dass ich handeln soll.

26.

Der die Herrschaft führende Theil Deines Wesens bleibe stets ungerührt von den leisen oder heftigen Regungen in Deinem Fleische. Er mische sich nicht hinein, beschränke sich auf sein Gebiet und umgrenze jene Reize in den Gliedern. Steigen sie aber auf einem anderen Wege der Mitleidenschaft zur Seele auf, die ja doch immer mit dem Leibe in Verbindung bleibt, dann ist die Empfindung eine naturgemässe, und man darf ihr nicht entgegen sein, nur dass die Vernunft nicht komme und ihr Urtheil, ob hier etwas Gutes oder Böses, hinzufüge.

 

27.

Lebe mit den Göttern! d.h. zeige ihnen, dass Deine Seele zufrieden sei mit dem, was sie Dir beschieden, dass sie thue, was der Genius will, den uns der höchste Gott als ein Stück von ihm selbst zum Leiter und Führer gegeben hat. Dieser Genius aber ist der Geist, die Vernunft eines Jeden.

28.

Kannst Du Jemand zürnen, der ein körperliches Gebrechen hat? Er kann Nichts dafür, wenn seine Nähe Dir widerwärtig ist. Ebenso betrachte nun auch die sittlichen Mängel. Allein der Mensch, sagst Du, hat seine Vernunft, und kann erkennen, was ihm fehlt. Sehr richtig. Folglich hast Du Deine Vernunft auch und kannst durch Dein vernünftiges Verhalten Deinen Nächsten zur Vernunft bringen, kannst Dich ihm offenbaren, ihn erinnern, und so, wenn er Dich hört, ihn heilen, ohne dass Du nöthig hättest zu zürnen oder zu seufzen oder hoffährtig zu sein.

 

29.

Wie Du beim Abschiede vom Leben über das Leben denken wirst, so darfst Du schon jetzt darüber denken[65] und danach leben. Hindert man Dich, dann scheide freiwillig, doch so, als erführst Du dabei nichts Uebles. »Ein Rauch ist Alles; lasst mich gehen!« Warum scheint Dir das so schwer? So lange mich jedoch Nichts dergleichen wirklich zwingt, die Welt zu verlassen, will ich auch frei bleiben und mich von Niemand hindern lassen zu thun, was ich will. Denn was ich will, ist entsprechend der Natur eines vernünftigen, für das Leben in der Gemeinschaft bestimmten Wesens.

30.

Der Geist des Alls ist ein Gemeinschaft bildender. Er hat die Wesen niederer Gattung um der höheren willen erzeugt und die der höheren zu einander gefügt. Man kann es deutlich sehen, wie all' sein Thun besteht im Unterordnen und im Beiordnen, wie er einem Jeglichen die Stellung gab, die seinem Wesen entspricht, und die Wesen der höchsten Ordnung durch gleichen Sinn einander einte.

31.

Prüfe Dich, wie Du bis dahin Dich verhalten hast gegen Götter, Eltern, Brüder, Weib, Kinder, Lehrer, Erzieher, Freunde, Genossen und Diener; ob Du bis dahin keinem unter ihnen auf ungebührliche Weise begegnet bist mit Wort und Werk. Erinnere Dich, was Du schon durchgemacht, und was Du im Stande gewesen bist zu tragen. Wie leicht ist's möglich, dass die Geschichte Deines Lebens bereits vollendet, Dein Dienst vollbracht ist; und wie viel Schönes hast Du schon gesehen, wie oft ist's Dir vergönnt gewesen, Freud und Leid gering zu achten, Deinen Ehrgeiz zu unterdrücken, und gegen Unverständige verständig zu sein!

32.

Warum betrüben rohe unerfahrene Gemüther die gebildeten und erfahrenen? Aber welche Seele nennst Du gebildet und erfahren? Die, welche den Ursprung und das Ziel der Dinge und die Vernunft kennt, die das ganze Universum durchdringt und durch die ganze Ewigkeit in bestimmten Perioden Alles verwaltet.

33.

Wie lange noch, und Du bist Staub und Asche! und nur der Name lebt noch, ja nicht einmal der Name; denn was ist er? – ein blosser Schall und Nachklang. Und was im Leben am Meisten geschätzt wird, ist nichtig, faul, von grösserer Bedeutung nicht, als wenn sich ein Paar Hunde herumbeissen oder ein Paar Kinder sich zanken, jetzt lachend und dann wieder weinend. Glaube aber und Ehrfurcht, Gerechtigkeit und Wahrheit –

– »zum Olymp, der weitstrassigen Erde entflohen!«
Was also hält Dich hier noch fest? Alles sinnlich Wahrnehmbare ist unbeständig und fort und fort der Verwandlung unterworfen, die Sinne selbst sind trüb und leicht zu täuschen, und was man Seele nennt ein Aufdampfen des Bluts. Ein Berühmtsein in solcher Welt, wie eitel! So bleibt nur übrig, geduldig zu warten bis wir verlöschen und unsere Stelle wechseln, und bis das[67] geschieht, die Götter zu ehren und zu preisen, den Menschen wohl zu thun, sie zu ertragen oder sich ihnen zu entziehen. Was aber ausserhalb der Grenzen Deines Körper- und Seelenwesens liegt, kann weder Dein werden, noch Dich irgend angehen.

34.

Stets kann es Dir gut gehen, wenn Du richtig wandelst, rechtschaffen denkst und thust. Denn von jedem denkenden Wesen, sei es Gott oder Mensch, gilt dieses Zwiefache: einmal, dass es in seinem Laufe von einem Andern nicht aufgehalten werden kann, und zweitens, dass sein grösstes Gut in der gerechten Sinnes- und Handlungsweise besteht, und sein Streben darüber nicht hinausgeht.

35.

Wenn Dies oder Jenes, das sich ereignet, nicht meine Schlechtigkeit noch die Folge meiner Schlechtigkeit ist, noch ein Schaden, der das Ganze trifft, was kann es mir verschlagen? Nur muss man darüber im Klaren sein, in welchem Falle das Ganze betroffen wird.

 

36.

Nie darfst Du Dich mit Deinen Gedanken von den Andern losmachen, sondern musst ihnen helfen nach besten Kräften und in dem rechten Masse. Sind sie freilich nur in unwesentlichen Dingen heruntergekommen, so dürfen sie das nicht für einen wirklichen Schaden halten. Es ist nur ein böses Ding, wie man zu sagen pflegt. Du für Deine Person mache es also immer wie jener Greis, der beim Weggehen von einem spielenden Kinde sich dessen Spielzeug geben liess, obwohl er recht gut wusste, dass es nur ein Spielzeug war. Oder wolltest Du, ständest Du vor dem Richterstuhl und hörtest die Frage, ob Du nicht wüsstest, was es mit diesen Dingen auf sich habe, antworten: »ja, aber sie schienen doch Dem und Jenem so wünschenswerth?« und dann den wohlverdienten Spruch empfangen: »also, darum musstest auch Du ein Narr sein!« – So sei denn endlich einmal, und gerade wenn Du recht verlassen bist, ein glücklicher Mensch, d. i. ein Mensch, der sich das Glück selbst zu bereiten weiss, d. i. die guten Regungen der Seele, die guten Vorsätze und die guten Handlungen.

Quelle:
Mark Aurel's Meditationen. Breslau 1875, S. 51-69.

 

 

 

Mark Aurel

(121 n. Chr.–180 n. Chr.)

Meditationen

Sechstes Buch

1.


Der Stoff der Welt ist bildsam und gefügig, aber etwas Böses kann der ihn beherrschende Geist damit aus sich selbst heraus nicht vornehmen, weil Schlechtes in ihm gar keine Statt hat. Durch ihn kann Nichts zu Schaden kommen, und es ist Nichts, was sich nicht ihm gemäss gestaltete und vollendete.

2.

Darauf darf Dir Nichts ankommen, ob Du vor Kälte klappernd oder im Schweiss gebadet Deine Pflicht thust; ob Du dabei einschläfst oder des Schlafes überdrüssig wirst; ob Du dadurch in schlechten oder in guten Ruf kommst; ob Du darunter das Leben einbüssest oder sonst Etwas leiden musst. Denn auch das Sterben ist ja nur eine von den Aufgaben des Lebens. Genug, wenn Du sie glücklich lösest, sobald sie Dir vorliegt.

 

3.

Die beste Art, sich an Jemand zu rächen, ist, es ihm nicht gleich zu thun.

4.

Darin allein suche Deine Freude und Erholung, mit dem Gedanken an Gott von einer Liebesthat zur andern zu schreiten!

5.

Das nenn' ich die Seele oder das die Herrschaft Führende im Menschen, was ihn weckt und lenkt, was ihn zu dem macht, was er ist und sein will bewirkt, dass Alles, was ihm widerfährt, scheine, wie er's will.

 

6.

Jegliches Ding vollendet sich gemäss der Natur des Universums, nicht in Gemässheit eines andern Wesens, das etwa die Dinge von Aussen umgebe oder eingeschlossen wäre in ihrem Innern oder gar völlig getrennt von ihnen.

7.

Entweder es ist Alles ein Gebräu des Zufalls, Verflechtung und Zerstreuung, oder es giebt eine Einheit,[70] eine Ordnung, eine Vorsehung. Nehm' ich das Erstere an, wie kann ich wünschen in diesem planlosen Gemisch, in dieser allgemeinen Verwirrung zu bleiben? was könnte mir dann lieber sein, als so bald wie möglich Erde zu werden? Denn die Auflösung wartete meiner, was ich auch anfinge. Ist aber das Andere, so bin ich mit Ehrfurcht erfüllt und heiteren Sinnes, dem Herrscher des Alls vertrauend.

 

8.

Wenn in Deiner Umgebung Etwas geschieht, was Dich aufbringen und empören will, so ziehe Dich rasch in Dich selbst zurück, und gieb den Eindrücken, die Deine Haltung aufs Spiel setzen, Dich nicht über Gebühr hin. Je öfter wir die harmonische Stimmung der Seele wiederzugewinnen wissen, desto fähiger werden wir, sie immer zu behaupten.

9.

Wenn Du eine Stiefmutter und eine rechte Mutter zugleich hättest, so würdest Du zwar jene ehren, Deine Zuflucht aber doch stets bei dieser suchen. Ebenso ist es bei mir mit dem Hofleben und der Philosophie. Hier der Ort, wo ich einkehre, hier meine Ruhestätte. Auch ist es die Philosophie, die mir jenes erträglich macht und die mich selbst erträglich macht an meinem Hofe.

 

10.

Es ist gar nicht so unrecht, wenn man sich beim Essen und Trinken sagt: also dies ist der Leichnam eines Fisches, dies der Leichnam eines Vogels, eines Schweines u.s.w. und beim Falernerwein: dies hier der ausgedrückte Saft einer Traube, oder beim Anblick eines Purpurkleides: Was Du hier siehst, sind Thierhaare in Schneckenblut getaucht – denn solche Vorstellungen geben uns ein Bild der Sache, wie sie wirklich ist, und dringen in ihr inneres Wesen ein. – Man mache es nur überhaupt im Leben so, entkleide Alles, was sich uns als des Strebens würdig aufdrängt, seiner Umhüllung, und sehe von dem äusseren Glanze ab, mit dem es wichtig thut. Der Schein ist ein gefährlicher Betrüger. Gerade wenn Du glaubst mit ernsten und hohen Dingen beschäftigt zu sein, übt er am Meisten seine täuschende Gewalt.

 

11.

Die Menge legt den höchsten Werth auf den Besitz rein sinnlicher Dinge. Höher hinauf fängt man an den Nutzen einzusehen, den uns die beseelte Natur leistet, und noch eine Stufe höher die Brauchbarkeit der in unserm Dienst stehenden Einzelvernunft. Wer aber nichts Edleres und Höheres kennt, als das allgemeine Vernunftwesen, dem ist jenes Alles geringfügig und unbedeutend. Er hat kein anderes Interesse, als dass seine Vernunft der allgemeinen Menschenvernunft entspreche und so sich jederzeit bewege, und dass er Andere seines Gleichen eben dahin bringe.

12.

Hier ist Etwas, das werden, dort Etwas, das geworden sein möchte: und doch ist jedes Werdende zum Theil auch schon vergangen. Dieses Fliessen und Wechseln erneuert die Welt fort und fort, wie der ununterbrochene Schritt der Zeit die Ewigkeit erneuert. Wolltest Du nun auf Etwas, das diesem Strome angehört, der nimmer still steht, einen besondern Werth legen, so würdest Du einem Menschen gleichen, der eben anfinge, einen vorüberfliegenden Sperling in sein Herz zu schliessen in dem Moment, wo er seinen Blicken auch schon entschwunden ist. Ist doch das Leben selbst nichts Anderes als das Verdunsten des Bluts und das Einathmen der Luft und sowie Du, was Du eingezogen hast, im nächstfolgenden Augenblick immer wieder hingiebst, so wirst Du auch dieses ganze Athmungsvermögen, das Du gestern oder vorgestern empfingst, wieder hingeben. –

13.

Nicht das ist das Wichtige, dass wir ausathmen wie die Pflanzen, einathmen wie die Thiere, oder dass wir die Bilder der Dinge in unserer Vorstellung haben, dass wir durch Triebe in Bewegung gesetzt werden, dass wir uns zusammenschaaren, oder dass wir uns nähren – denn dieselbe Bedeutung hat auch das Ausscheiden der überflüssigen Nahrung; auch nicht, dass wir beklatscht werden – und die Ehre ist grösstentheils nichts Anderes. Sondern dass man der uns eigenthümlichen Bildung gemäss sich gehen lasse oder an sich halte, worauf ja jedes Studium und jede Kunst gerichtet ist. Denn jede Praxis will nichts Anderes als die Dinge ihrem Zweck gemäss gestalten, wie man am Weingärtner, am Pferdebändiger, am Lehrer und Pädagogen sehen kann. In dieser gestaltenden Thätigkeit liegt der ganze Werth unseres Daseins. Steht es damit gut bei Dir, so brauchst Du Dir um andere Dinge keine Sorge zu machen. Hörst Du aber nicht auf, auf eine Menge anderer Dinge Werth zu legen, so bist Du auch noch kein freier, selbstständiger, leidenschaftsloser Mensch, sondern stets in der Lage neidisch und eifersüchtig und hinterlistig zu sein gegen die, die besitzen, was Du so hochstellst, und argwöhnisch, dass es Dir Einer nehmen möchte, und in Verzweiflung, wenn es Dir fehlt, und voll Tadel gegen die Götter. Ist es aber die Gesinnung allein, was Deinen Werth und Deine Würde in Deinen Augen ausmacht, so wirst Du Dich selber achten, Deinen Nebenmenschen gefallen und die Götter loben und preisen können.

14.

Aufwärts und niederwärts – ein Kreislauf ist der Elemente Bewegung. Auch die Tugend geht ihren Gang, doch ist er ganz anderer Art, mehr so wie der Lauf, den das Göttliche nimmt. Mag er auch schwer zu begreifen sein: das sieht man, dass sie vorwärts schreitet.

 

15.

Was thut man? Die Zeitgenossen mag man nicht rühmen, aber von den Nachkommen, die man nicht kennt noch jemals kennen wird, will man gerühmt werden. Ist das nicht gerade so, wie wenn's Dich schmerzte, dass Deine Vorfahren Nichts von Dir zu rühmen hatten?

16.

Denke nicht, wenn Dir Etwas schwer ankommt, es sei nicht Menschen-möglich. Und was nur irgend einem Menschen möglich und geziemend, davon sei überzeugt, dass es auch für Dich erreichbar sein wird.

17.

Wenn uns in der Fechtschule Jemand geritzt oder einen Schlag versetzt hat, so tragen wir ihm das gewiss nicht nach, fühlen uns auch nicht beleidigt und denken nichts Uebles von dem Menschen; wir nehmen uns wohl vor ihm in Acht, aber nicht als vor einem Feinde, der uns verdächtig sein müsste, sondern nur so, dass wir ihm ruhig aus dem Wege gehen. Machten wir es doch im Leben auch so! Liessen wir doch da auch so Manches unbeachtet, was uns von denen widerfährt, mit denen wir ringen. Es steht uns ja immer frei, den Leuten, wie ich's genannt habe, aus dem Wege zu gehen, ohne Argwohn und ohne Feindschaft.

18.

Wenn mich Jemand überzeugen und mir beweisen kann, dass meine Ansicht oder meine Handlungsweise nicht die richtige sei, so will ich sie mit Freuden ändern. Denn ich suche die Wahrheit, sie, die Niemand Schaden zufügt. Wohl aber nimmt der Schaden, der auf seinem Irrthum und seiner Unwissenheit beharrt.

19.

Ich suche das Meinige zu thun: alles Uebrige, Alles, was leblos oder vernunftlos oder seines Weges unkundig und verirrt ist, geht mich Nichts an und kann mich nicht irre machen.

 

20.

Der unvernünftigen Thiere und aller der vernunftlosen Dinge, die Dir, dem Vernunftbegabten zu Gebote stehen, magst Du mit edlem, freiem Sinn gebrauchen. Der Menschen aber, der ebenso vernunftbegabten, brauche so, dass Du auf die Verbindung Rücksicht nimmst, in der Du von Natur mit ihnen stehst. Und bei Allem, was Du thust, rufe die Götter an, ohne Dir Sorge zu machen um das »Wie oft?« und wenn's nur dreimal geschähe!

21.

Alexander der Grosse und sein Maulthiertreiber sind beide an denselben Ort gegangen. Entweder wurden sie beide in dieselben Kräfte der zu immer neuen Schöpfungen bereiten Welt aufgenommen, oder sie lösten sich beide auf gleiche Weise in ihre Atome auf.

 

22.

Bedenke, wie Vielerlei in einem Jeden unter uns in einem und demselben Augenblick zugleich vorgeht, sei's Leibliches, sei's Geistiges. So kannst Du Dich nicht wundern, wenn so viel Mehr, wenn Alles, was geschieht, in dem Einen und Allen, das wir Welt nennen, zugleich vorhanden ist.

23.

Wenn Jemand Dich fragte, wie der Name Antonin geschrieben wird, würdest Du da nicht jeden Buchstaben deutlich und mit gehaltener Stimme angeben? Warum machst Du's nicht auch so, wenn Jemand mit Dir zankt? Warum zankst Du wieder und bringst Deine Worte nicht ruhig und gemessen vor? Auf die Gemessenheit kommt's an bei jeder Pflichterfüllung. Bewahre sie Dir, lass Dich nicht aufbringen, leide den, der Dich nicht leiden kann, und gehe ruhig Deines Weges fort.

 

24.

Welch' ein Mangel an Bildung, wenn Du den Menschen verbieten willst nach dem zu streben, was ihnen gut und nützlich scheint! Und doch thust Du's gewissermassen allemal, wenn Du darüber Klage führst, dass sie unrecht handeln. Denn auch dabei sind sie doch stets um das bemüht, was ihnen gut und nützlich ist. Du sagst, es sei nicht so, es sei nicht das wahrhaft Nützliche. Darum belehre sie und zeige es ihnen, ohne darüber zu klagen.

25.

Der Tod ist das Ausruhen von den Widersprüchen der sinnlichen Wahrnehmungen, von den Regungen unserer Leidenschaften, von den Entwicklungen unseres Geistes und von dem Dienst des Fleisches.

 

26.

Du begehst eine Schändlichkeit, so oft in Deinem Leben der Leib Dir nicht den Dienst versagt, wo Deine Seele Dir ihn längst nicht mehr leisten kann.

27.

Nimm Dich vor dem Kaiserwerden in Acht, es liegt etwas Ansteckendes in dieser Hofluft. Bewahre Deine Einfalt, Tugend, Reinheit, Würde, Deine Natürlichkeit, Gottesfurcht, Deine Gerechtigkeitsliebe, Deine Liebe und Güte und Deinen Eifer in Erfüllung der Pflicht. Ringe danach, dass Du bleibst, wie Dich die Philosophie haben will. Ehre die Götter und sorge für das Heil der Menschen! Das Leben ist kurz. Dass es Dir eine Frucht nicht schuldig bleibe: die heilige Gesinnung, aus der die Werke für das Wohl der Andern fliessen! Drum sei in allen Stücken ein Schüler Deines Vorgängers Antonin! so beharrlich und fest wie er im Gehorsam gegen die Gebote der Vernunft, so gleichmüthig in allen Dingen, so ehrwürdig und heiter und warm, auch im Aeusseren, so freundlich, so fern von jeder Ruhmbegier und doch so eifrig Alles zu begreifen und in sich zu verarbeiten! Unterliess er doch Nichts, wovon er sich nicht zuvor gründlich überzeugt hatte, dass es unthunlich sei; ertrug er doch geduldig Alle, die in ungerechter Weise tadelten, ohne sie wieder zu tadeln. Nichtsbetrieb er auf eilfertige Manier, und niemals fanden Verleumdungen bei ihm Gehör. Wie selbstständig war sein Urtheil über die Sitten und Handlungen seiner Umgebung! Darum war er auch gänzlich fern von Schmähsucht oder von Aengstlichkeit, von Misstrauen oder von der Sucht, Andere zu meistern. Wie wenig Bedürfnisse er hatte, konnte man sehen an seiner Art zu wohnen, zu schlafen, sich zu kleiden, zu speisen und sich bedienen zu lassen. Und wie geduldig war er und langmüthig! Seine freundschaftlichen Verbindungen hielt er fest; er konnte die gut leiden, die seinen Ansichten offen widersprachen, und sich freuen über Jeden, der ihm das Bessere zeigte. Dabei hat er die Götter geehrt, ohne in Aberglauben zu verfallen. Und so nimm ihn Dir zum steten Vorbild, damit Du so wie er dem Tode mit gutem Gewissen entgegen gehen kannst.

 

28.

Besinne Dich, komm' wieder zu Dir. Wie Du beim Aufwachen gesehen, dass es Träume waren, was Dich beunruhigt hat: siehe auch das, was Dir im Wachen begegnet, nicht anders an!

29.

Für den Leib des Menschen ist Alles indifferent, d.h. eine unterschiedslose Masse, denn er hat die Fähigkeit zu unterscheiden nicht. Aber auch für die Seele ist Alles indifferent, was nicht ihre eigene Thätigkeit ist. Alles aber, was eine Function der Seele ist, hängt auch lediglich von ihr ab, vorausgesetzt, dass sie sich auf etwas Gegenwärtiges bezieht. Denn was sie zu thun haben wird oder gethan hat, ist auch kein Gegenstand für sie.

 

30.

Keine Arbeit für meine Hände oder meine Füsse ist widernatürlich, so lange sie nur in den Bereich dessen fällt, was Hände und Füsse zu thun haben. Ebenso giebt es für den Menschen als solchen keine Anstrengung, die man unnatürlich nennen könnte, sobald der Mensch dabei thut, was menschlich ist. Ist sie aber nichts Unnatürliches, dann gewiss auch nichts Uebles.

31.

Was sind's für Freuden, die der Ehebrecher, Räuber, Mörder, der Tyrann empfindet?

32.

Siehst Du nicht, wie der gewöhnliche Künstler sich zwar dem Geschmack des Publicums zu accommodiren weiss, doch aber an den Vorschriften seiner Kunstfest hält und ihren Regeln zu genügen strebt? Und ist es nicht schlimm, wenn Leute wie der Architekt, der Arzt das Gesetz ihrer Kunst besser im Auge behalten, als der Mensch das Gesetz seines Lebens, das er gemein hat mit den Göttern?!

33.

Was ist Asien und Europa? ein Paar kleine Stückchen der Welt. Was ist das ganze Meer? ein Tropfen der Welt. Und der Athos? eine Weltscholle. Alles ist klein, veränderlich, verschwindend. Aber Alles kommt und geht hervor oder folgt aus jenem allwaltenden Geiste. Und das Schädliche und Giftige ist nur ein Anhängsel des Wohlthätigen und Schönen. Denke nicht, dass es mit dem, was Du verehrst, Nichts zu schaffen habe; sondern siehe bei Allem nur immer auf die Quelle!

34.

[80] Wer sieht, was heute geschieht, hat Alles gesehen, was von Ewigkeit war und in Ewigkeit sein wird. Denn es ist Alles von derselben Art und Gestalt.

 

35.

Alle Dinge stehen unter einander in Verbindung und sind in sofern einander befreundet. Eines folgt dem Andern und bildet mit ihm eine Reihe, durch die Gemeinschaft des Orts oder des Wesens vermittelt.

36.

Schmiege Dich in die Verhältnisse, die Dir gesetzt sind, und liebe die Menschen, liebe sie wahrhaft, mit denen Du verbunden bist.

37.

Jedes Werkzeug und Gefäss, wenn es thut, wozu es gemacht wurde, ist es gut, wenn auch der, der es verfertigte, längst fort ist. In der Natur aber tragen alle Dinge die sie bildende Kraft in sich und behalten sie, so lange sie selber sind. Und um so ehrwürdiger erscheint diese Kraft, je mehr Du ihrem Bildungstriebe folgst, d.h. je mehr sich Alles in Dir nach dem Geiste richtet. Denn im Universum richtet sich auch Alles nach dem Geiste.

38.

So lange Du Etwas, was keine Sache des Vorsatzes und des freien Willens ist, für gut oder böse hältst, so lange kannst Du auch nicht umhin, wenn Dich ein Unfall betrifft oder das Glück ausbleibt, die Götter zu tadeln oder die Menschen zu hassen als die Urheber Deines Unglücks, als die – vermuthlich wenigstens – Schuld sind, dass Du leidest. Und so verführt uns dieser Standpunkt zu mancher Ungerechtigkeit. Wenden wir dagegen die Begriffe Gut und Böse nur bei den Dingen an, die in unserer Macht stehen, so fällt jeder Grund weg, Gott anzuklagen und uns feindlich zu stellen gegen irgend einen Menschen.

39.

Wir Alle arbeiten an der Vollendung eines Werkes, die Einen mit Bewusstsein und Verstand, die Anderen unbewusst. Sogar die Schlafenden nennt, wenn ich nicht irre, Heraklit Arbeiter, Mitarbeiter an dem, was in der Welt geschieht. Aber Jeder auf andere Art. Luxusarbeit ist die Arbeit des Tadlers, dessen, der den Ereignissen entgegenzutreten wagt und das Geschehene ungeschehen machen will. Denn auch solche Leute braucht das Universum. Und Du musst wissen, zu welchen Du gehörst. Er, der Alles Verwaltende wird sich Deiner schon auf angemessene Weise bedienen und Dich schon aufnehmen in die Zahl der Mitarbeiter und Gehilfen. Du aber sorge dafür, dass Du nicht bist wie ein schlechter Vers im Gedicht.

40.

Will denn die Sonne leisten, was der Regen leistet? Will Aeskulap Etwas hervorbringen? Will auch nur einer von den Sternen ganz dasselbe, was der andere will? Und doch fördern sie alle dasselbe Werk.

41.

Wenn die Götter überhaupt über mich und über das, was geschehen soll, rathschlagen, dann ist ihr Rath auch ein guter. Denn einmal, einen rathlosen Gott kann man sich nicht leicht vorstellen. Und dann, aus welchem Grunde sollten sie mir weh thun wollen? Was könnte dabei für sie oder für das Ganze, dem sie besonders vorstehen, herauskommen? Betreffen ihre Berathungen aber nicht meine besonderen Angelegenheiten, so doch gewiss die allgemeinen der Welt, aus denen dann auch die meinigen sich ergeben, und die ich willkommen heissen und lieben muss. Kümmern sie sich aber um gar Nichts, was wir jedoch nicht glauben dürfen – und was würde dann aus unsern Opfern, unsern Gebeten, unsern Eidschwüren und aus alle Dem, was wir lediglich in der Voraussetzung zu thun pflegen, dass die Götter da sind und dass sie mit uns leben? – aber gesetzt, sie kümmerten sich nicht um meine Angelegenheiten, so liegt es doch mir selbst ob, mich darum zu kümmern. Denn dazu habe ich meine Ueberlegung, dass ich weiss, was mir dienlich ist.

42.

Was Du im Theater und an ähnlichen Orten empfindest, wo sich Deinem Auge ein und dasselbe Schauspiel immer wieder darbietet bis zum Ekel, das hast Du im Leben eigentlich fortwährend zu leiden. Denn Alles, was geschieht, von welcher Seite es auch kommen mag, ist doch immer dasselbe. Wie lange wird's nur noch dauern?

 

43.

Willst Du Deine Freude haben, so richte Deinen Blick auf die trefflichen Eigenschaften Deiner Zeitgenossen und siehe, wie der Eine ein so hohes Mass von Thatkraft, der Andere von Schamhaftigkeit besitzt, wie freigebig der Dritte u.s.f. Denn Nichts ist so erquicklich als das Bild von Tugenden, die sich in den Sitten der mit uns Lebenden offenbaren und reichlich unserm Blick sich darbieten. Darum halte es Dir nun auch beständig vor Augen!

44.

Aergert's Dich, dass Du nur so viel Pfund wiegst und nicht mehr? So sei auch nicht ärgerlich darüber, dass Dir nicht länger zu leben bestimmt ist. Denn wie Jeder zufrieden ist mit seinem Körpergewicht, so sollten wir Alle auch zufrieden sein mit der uns zugemessenen Lebensdauer.

 

45.

Komm, wir wollen versuchen sie zu überreden! Wollen sie nicht, wir thun doch, was das Gesetz der Gerechtigkeit gebietet. Hindern sie uns mit Gewalt, so benutzen wir dieses Hemmniss zur Hebung in einer andern Tugend, im Gleichmuth und in der Seelenruhe. Denn Alles, was wir erstreben, erstreben wir ja nur unter gewissen Voraussetzungen. Halten diese nicht Stich – wer wird das Unmögliche wollen? Nur dass unser Streben ein edles war! Denn ein solches trägt seinen Lohn in sich selbst – wie Alles, was wir thun, gehorchend unserer Innersten Natur.

46.

Der Ehrgeizige setzt sein Glück in die Thätigkeit eines Andern, der Vergnügungssüchtige in einen Affekt seiner Seele, der Vernünftige in seine Handlungsweise.

 

47.

Du hast es gar nicht nöthig, Dir über diese Sache Gedanken zu machen und Deine Seele zu beschweren. Denn eine absolute Nöthigung zum Urtheil liegt niemals in den Dingen.

48.

Gewöhne Dich, wenn Du Jemand sprechen hörst, so genau als möglich hinzuhören, und Dich in seine Seele zu versetzen.

49.

Dem Gelbsüchtigen schmeckt der Honig bitter; der von einem tollen Hunde Gebissene scheut das Wasser; das Kind kennt nichts Schöneres als seinen Ball. Wie kannst Du zürnen? Verlangst Du, dass der Irrthum weniger Einfluss haben soll als eine kranke Galle, als ein dem Körper eingeflösstes Gift?

 

50.

Niemand kann Dich hindern, dem Gesetze Deiner eigensten Natur zu folgen. Was Du im Widerspruch mit der allgemeinen Menschennatur thust, wird Dir nicht gelingen. –

Quelle:
Mark Aurel's Meditationen. Breslau 31875, S. 69-86.

 

 

 

Mark Aurel

(121 n. Chr.–180 n. Chr.)

Meditationen

Siebentes Buch

1.


Deine Lebensmaximen werden stete ihre Gültigkeit für Dich behalten, so lange Dir die ihnen entsprechenden Grundbegriffe nicht abhanden gekommen sind. Das aber kannst Du verhindern, indem Du dieselben immer wieder zu neuem Leben in Dir anfachst und über das, was nothwendig ist, nicht aufhörst nachzudenken –: wobei Dich Nichts zu stören vermag, weil Alles, was Deinem Gedankenleben äusserlich ist, als solches keinen Einfluss auf dasselbe hat. Halte Dich also nur so, dass es Dir äusserlich bleibt! Hast Du aber Deine Lebenshaltung einmal eingebüsst: Du kannst sie wieder gewinnen. Siehe die Dinge wieder gerade so an, wie Du sie angesehen hattest! Darin besteht alles Wiederaufleben.

 

2.

Das Leben ist freilich weiter Nichts als ein eitles Jagen nach Pomp, als ein Bühnenspiel, wo Züge von Last- und anderem Vieh erscheinen, oder ein Lanzenrennen, ein Herumbeissen junger Hunde um den hingeworfenen Knochen, ein Geschnappe der Fische nach dem Bissen, die Mühen und Strapazen der Ameisen, das Hin- und Herlaufen unruhig gemachter Fliegen, oder ein Guckkasten, wo ein Bild nach dem andern abschnurrt: aber mitten in diesem Getreibe festzustehen mit ruhigem und freundlichem Sinn, das eben ist unsere Aufgabe.

3.

Bei einer Rede gilt es Acht zu haben auf die Worte, bei einer Handlung auf das ihr zu Grunde liegende Motiv. Dort ist die Frage nach der Bedeutung jedes Ausdrucks, hier handelt sich's um den Zweck, der verfolgt wird.

 

4.

Die Frage ist, ob meine Einsicht ausreicht, was ich mir vorgenommen, auszuführen oder nicht. Genügt sie, so brauche ich sie als ein Werkzeug, das die Natur mir an die Hand gegeben. Reicht sie nicht aus, dann überlasse ich entweder das Werk dem, der es besser im Stande ist zu vollbringen, wofern dies nicht für mich geradezu unziemlich ist, oder ich handle so gut ich kann mit Zuziehung dessen, der zur Vollendung eines gemeinnützigen Werkes eben meiner Einsicht als Ergänzung bedarf. Denn Alles, was ich thue, mag ich es nun durch meine eigene Kraft oder mit Hilfe eines Andern zu Stande bringen – dem Wohl des Ganzen muss es immer dienen.

5.

Du hast Dich nicht zu schämen, wenn Du Hilfe brauchst. Thu' nur Dein Mögliches! wie bei der Erstürmung einer Mauer jeder Soldat eben auch nur sein Möglichstes thun muss! Denn wie, wenn Du – gelähmt[87] – die Brustwehr allein nicht erklimmen kannst, mit Hilfe eines Andern es aber wohl im Stande bist?

6.

Lass Dich das Zukünftige nicht anfechten! Du wirst, wenn's nöthig ist, schon hinkommen, getragen von derselben Geisteskraft, die Dich das Gegenwärtige beherrschen lässt.

7.

Aus Allem was ist, resultirt doch nur die eine Welt; in Allem, was ist, lebt nur der eine Gott. Es ist nur ein Stoff und ein Gesetz, in den vernunftbegabten Wesen die eine Vernunft. Nur eine Wahrheit giebt's und für die Wesen derselben Gattung auch nur eine Vollkommenheit.

8.

Für die vernünftigen Wesen ist eine naturgemässe Handlungsweise auch immer zugleich eine vernunftgemässe.

 

9.

Was in dem einzelnen Organismus die Glieder des Leibes, das sind in dem Gesammt-Organismus die einzelnen vernunftbegabten Wesen. Auch sie sind zum Zusammenwirken geschaffen. Sagst Du Dir nur recht oft: Du seist ein Glied in dem grossen System der Geister, so kann ein solcher Gedanke nicht anders als Dich aufs Tiefste berühren. Siehst Du Dich aber nur als einen Theil dieses Ganzen an, so liebst Du die Menschen auch noch nicht von Herzen, so macht Dir[88] das Gutesthun noch nicht an sich selbst Freude, so übst Du es nur als eine Pflicht, so ist es noch keine Wohlthat für Dich selber.

10.

Der Edelstein spricht: was auch Einer thun oder sagen mag, ich muss Edelstein sein und meinen Glanz bewahren. So sprech' auch ich: mag Einer thun und sagen, was er will, ich muss die Tugend bewahren.

 

11.

Die Seele beunruhige und erschrecke sich nicht. Kann's ein Anderer, mag er's thun. Sie selbst für sich sei solchen Regungen unzugänglich. Dass aber der Leib Nichts leide, dafür mag er, wenn er kann, selbst sorgen, und wenn er leidet, mag er's sagen. Doch die Seele, der eigentliche Sitz der Furcht und jeder schmerzlichen Empfindung, kann nicht leiden, wenn Du ihr nicht die Meinung, dass sie leide, erst beibringst. Denn an und für sich, und wenn sie sich nicht selbst die Bedürfnisse schafft, ist die Seele bedürfnisslos und deshalb auch, wenn sie sich nicht selbst beunruhigt, unerschütterlich.

12.

Das Glück beruht auf der Gesinnung. Das Unglück hat in tausend Fällen Dir die Phantasie nur vorgespiegelt.

 

13.

Wäre es möglich, dass Dir der Wechsel, dem Alles unterworfen ist, Furcht einjage? Was könnte denn geschehen, wenn sich die Dinge nicht veränderten? Was giebt es Angemesseneres für die Natur als diese Veränderung? Könntest Du Dich denn nähren, wenn die Speisen sich nicht verwandelten? Ueberhaupt hängt von dieser Eigenschaft der Nutzen jedes Dinges ab. Und siehst Du nun nicht, dass die Veränderung, der Du unterworfen bist, von derselben Art und ebenso nothwendig ist für's Universum?

14.

Das Eine liegt mir am Herzen, dass ich Nichts thue, was dem Willen der menschlichen Natur zuwider ist, oder was sie in dieser Art oder was sie gerade jetzt nicht will.

 

15.

Es ist ein dem Menschen eigenthümlicher Vorzug, dass er auch die liebt, die ihm weh gethan haben. Und es gelingt ihm, wenn er bedenkt, dass Menschen Brüder sind, dass sie aus Unverstand und unfreiwillig fehlen, dass Beide, der Beleidigte und der Beleidiger nach kurzer Zeit den Todten angehören werden, und vor Allem: dass eigentlich Niemand ihm schaden, d.h. sein Inneres schlechter machen kann als es vorher gewesen.

16.

Wie man aus Wachs formt, so formt das Universum aus der Materie die verschiedenen Wesen; jetzt das Ross, dann, wenn dieses zerschmolz, den Baum, bald den Menschen, bald etwas Anderes, und ein Jegliches nur zu kurzem Bestehen. Aber wie es dem Schifflein gleichgültig war, dass man's gezimmert, so auch, dass man es nun wieder auseinander nimmt.

 

17.

Wem das Gewissen ausgegangen, hat keine Ursache zu leben.

18.

Sobald Dir Jemand weh gethan hat, musst Du sogleich untersuchen, welche Ansicht über Gut und Böse ihn dazu vermochte. Denn sowie Dir dies klar geworden, wirst Du Mitleid fühlen mit ihm und Dich weder wundern noch erzürnen. Entweder nämlich findest Du, dass Du über das Gute gar keine wesentlich andere Ansicht hast als er; und dann musst Du ihm verzeihen. Oder Du siehst den Unterschied; dann aber ist's ja nicht so schwer, freundlich zu bleiben dem, der – sich geirrt hat. –

 

19.

Denke nicht so oft an das, was Dir fehlt, als an das, was Du besitzest. Und wenn Dir bewusst wird, was davon das Allerbeste sei, musst Du Dir klar machen, wie Du's gewinnen könntest, im Fall Du es nicht besässest. Je zufriedener Dich aber sein Besitz macht, um so mehr musst Du Dich hüten, es mit einem solchen Wohlgefallen zu betrachten, dass Dich sein Verlust beunruhigen könnte.

20.

Alles, sagt Jemand, geschieht nach bestimmten Gesetzen, ob Götter sind oder ob aus Atomen Alles entsteht, gleichviel. Genug eben, dass Alles gesetzmässig ist.

 

21.

Der Tod ist Zerstreuung oder Auflösung oder Entleerung, ein Auslöschen oder ein Versetzen.

22.

Der Schmerz – ist er unerträglich, führt er auch den Tod herbei; ist er anhaltend, so lässt er sich auch ertragen. Wenn nur die Seele dabei an sich hält, bewahrt sie auch ihre Ruhe und leidet keinen Schaden. Die vom Schmerz getroffenen Glieder mögen dann, wenn sie können, sich selbst darüber aussprechen.

23.

Plato fragt: Wem hoher Sinn und Einsicht in die Zeiten und in das Wesen der Dinge verliehen ward – glaubst Du, dass der das menschliche Leben für etwas Grosses halten kann? und antwortet: Unmöglich kann er's. Nun, und ebenso unmöglich ist's, dass er den Tod für etwas Furchtbares hält.

24.

Ein Ausspruch des Antisthenes: Herrlich ist's, durch Gutesthun in schlechten Ruf kommen.

25.

Schändlich ist's, wenn die Seele nur Macht hat über unsere Mienen, nicht über sich selbst, wenn sie nur jene, nicht aber sich selber umzugestalten vermag.

26.

»Wie kann Dich denn bald Dies, bald Jenes ärgern, das Dich doch Nichts angeht?«

 

27.

»Freude den ewigen Göttern! doch uns auch Freude verleihe!«

28.

»Die Früchte sind zum Pflücken, so das Leben auch! Hier keimt das Leben, dort der Tod.«

29.

»Wenn von den Göttern ich einmal verlassen bin,
Grund ist auch dafür.« –

30.

»Was recht und gut, trag' ich mit mir herum.«

 

31.

»Mit Andern weinen oder jubeln, nicht geziemt's.«

32.

Blicke oft zu den Sternen empor – als wandeltest Du mit ihnen. Solche Gedanken reinigen die Seele von dem Schmutz des Erdenlebens.

33.

Schön ist, was Plato gesagt hat, dass, wer vom Menschen reden wolle, das Irdische gleichsam von einem höheren Standpunkt aus betrachten müsse.

 

34.

»Zur Erde muss, was von der Erde stammt;
Und zu des Himmels Pforte drängt
Jegliche Art, die seiner Flur entsprossen - «
Was nichts Anderes besagt, als dass sich die ineinander verschlungenen Atome trennen und die fühllosen Elemente sich zerstreuen.

35.

»Durch Essen, Trinken und durch andres Gaukelwerk
Sind wir bemüht, den Tod uns fern zu halten.

Doch müssen wir den Fahrwind, der von Oben her,
Sei's auch zu unserm Leid, hinnehmen ohne Weh.«

 

36.

Bei einer Wirksamkeit, die sich nach göttlichem und menschlichem Gesetz vollzieht, ist niemals Gefahr. Nichts hast Du zu befürchten, sobald Deine Thätigkeit, ihr Ziel in aller Ruhe verfolgend, sich nur auf eine Deiner Bildung angemessene Art entfaltet.

37.

Immer steht es bei Dir, das gegenwärtige Geschick zu segnen, mit denen, die Dir grade nahe stehen, nach[94] Recht und Billigkeit zu verfahren, und die Gedanken, die sich Dir eben darbieten, ruhig durchzudenken, ohne Dich an das Unbegreifliche zu kehren.

38.

Siehe stets nur auf den Weg, den Dich die Natur zu führen Willens ist, die allgemeine sowohl wie Deine besondere. Jene offenbart sich Dir durch die Schickung, die sie Dir zuerkennt, und diese durch die Richtung, die sie Deiner Thätigkeit zu geben sucht.

39.

Lebe so, als solltest Du jetzt scheiden und als wäre die Dir noch vergönnte Zeit ein überflüssiges Geschenk.

40.

Bei Allem, was Dir widerfährt, stelle Dir diejenigen vor Augen, denen dasselbe widerfahren ist, und die sich dabei widerwillig, voll eitler Verwunderung oder höchst vorwurfsvoll bewiesen haben. Denn wolltest Du diesen wohl gleichen? oder wolltest Du nicht lieber solche ungehörige Eigenschaften Anderen überlassen, selbst aber nur darauf achten, wie Du Deine Erfahrungen zu benutzen habest? Und Du wirst sie aufs Beste benutzen, sie werden Dir einen herrlichen Stoff liefern, wenn Du keine andere Absicht hast, als Dich bei Allem, was Du thust, als edler Mensch zu zeigen, dessen eingedenk, dass alles Andere gleichgültig für Dich ist, nur nicht, wie Du handelst!

41.

Blicke in Dein Inneres! Da drinnen ist eine Quelle des Guten, die nimmer aufhört zu sprudeln, wenn Du nur nicht aufhörst nachzugraben.

42.

Auch der Körper muss eine feste Haltung haben und weder in der Bewegung noch in der Ruhe diese Festigkeit verleugnen. Denn wie Deine Seele auf Deinem Gesicht zu lesen ist und eben darum Deine Mienen zu beherrschen und zu formen weiss, so soll auch der ganze Körper ein Ausdruck der Seele sein. Aber wohlgemerkt! ohne jede Affectation!

43.

Dieselbe Kunst, wie in den Kampfspielen, wo man gerüstet sein muss auch auf solche Streiche, die unvorhergesehen, plötzlich kommen, gilt es auch im Leben.

44.

Kenntest Du die Quellen, aus denen bei so Vielen Urtheile und Interessen fliessen, Du würdest nach der Menschen Lob und Zeugniss nicht begierig sein.

45.

Keine Seele, heisst es irgendwo, kommt anders um die Wahrheit als wider ihren Willen. Nicht anders also auch um die Gerechtigkeit und Mässigkeit und Güte, um alle diese Tugenden. – Je mehr man das beherzigt, desto milder wird man gegen Alle.

46.

So Manches ist dem Schmerze eng verwandt, was nur mehr auf verborgene Weise lästig wird, z.B. Schläfrigkeit, innere Gluth, Appetitlosigkeit. Drum sage Dir, wenn so Etwas Dich trifft, nur geradezu: Du littest.

 

47.

Du darfst gegen Unmenschen nicht so gesinnt sein, wie die Menschen gegen Menschen gesinnt zu sein pflegen.

48.

Die Natur hat Dich nicht so dem grossen Teige einverleibt, dass Du Dich nicht eingrenzen und das Deinige allein aus Dir selbst heraus thun könntest. Du kannst fürwahr ein göttlicher Mensch sein, ohne von irgend einer Seele gekannt zu werden. Und magst Du daran verzweifeln, in der und jener Wissenschaft oder Kunst jemals Dich auszuzeichnen: ein freier, edler, hilfreicher, gottesfürchtiger Mensch kannst Du immer werden.

 

49.

Bei Allem, was Dir geschieht, schäle Dein Verstand das Wesen der Sache heraus aus dem Scheine, der sie so oft entstellt, und der Gebrauch, den Du von ihr machst, beweise wo möglich, dass Du sie gesucht. Denn Alles muss Dir dienen zum Material der Uebung in irgend einer göttlichen und menschlichen Kunst.

50.

Den unsterblichen Göttern ist es keine Last, die ganze Ewigkeit hindurch fortwährend eine solche Masse Nichtswürdiger zu dulden – vorausgesetzt, dass sie sich um sie kümmern. Und Du – Du wolltest ungeduldig werden? und bist vielleicht gar selbst Einer von ihnen?

 

51.

Lächerlich ist es, der Schlechtigkeit Anderer aus dem Wege gehen zu wollen, was unmöglich, aber der eigenen nicht, was doch möglich ist.

52.

Wenn Du ein gutes Werk gethan und dem Anderen wirklich wohl gethan hast, warum dann so gar thöricht, ein Drittes zu begehren, nämlich den Ruhm ob solcher That oder irgend eine Erwiederung?

53.

Niemand bekommt es überdrüssig, sich Vortheile zu verschaffen. Vortheil verschaffen aber ist eine Thätigkeit, an die wir von Natur gewiesen sind. Darum werde nie müde, Dir Vortheile zu verschaffen, indem Du selber Vortheil schaffst.

Quelle:
Mark Aurel's Meditationen. Breslau 31875, S. 86-99.

 

 

 

Mark Aurel

(121 n. Chr.–180 n. Chr.)

Meditationen

Achtes Buch

1.


Mag es immerhin Deinen Ehrgeiz herabdrücken, dass Du nicht allezeit, dass Du zumal in Deiner Jugend nicht wie ein Philosoph gelebt hast, sondern vielen Anderen und Dir selbst auch als ein Mensch erschienen bist, der von der Philosophie weit entfernt ist, so dass es Dir nicht leicht sein dürfte, Dir noch das Ansehen eines Philosophen zu verschaffen. Ein solcher Strich durch Deine Rechnung ist nur heilsam. Genügen muss es Dir nun, von jetzt an so zu leben, wie es Deine Natur vorschreibt. Achte also darauf, was sie will, und lass Dich durch Nichts davon abbringen. Da hast so Manches versucht, Dich hierhin und dorthin gewendet, aber nirgends Dein Glück gefunden, nicht im Spekuliren, nicht im Reichthum, nicht in der Ehre, nicht in der Sinnenlust, nirgends. Wo ist es denn nun wirklich? Nur im Thun dessen, was die menschliche Natur begehrt. Und wie gelangt man dazu? Dadurch, dass man die Principien festhält, aus denen ein solches Streuen und Handeln mit Notwendigkeit hervorgeht, die Grundsätze, dass dem Menschen Nichts gut sei, was ihn nicht gerecht, mässig, standhaft und frei macht, und dass Nichts böse sei, was nicht das Gegentheil von alle dem hervorbringt.

2.

Bei jeder Handlung frage Dich: wie steht es eigentlich damit? wird es Dich auch nicht gereuen? Eine[99] kurze Zeit nur noch, und Du bist todt und Alles hat aufgehört. Wenn aber das, was Du vorhast, einem Wesen geziemt, das Vernunft hat, auf die Gemeinschaft angewiesen ist und nach denselben Gesetzen wie die Götter leben soll, was verlangst Du mehr?

3.

Was sind Alexander, Cäsar, Pompejus gegen Diogenes, Heraklit und Sokrates? Denn diese hatten die Welt der Dinge erforscht und kannten den Grund und die Weise ihres Bestehens, und ihre Seelen blieben sich immer gleich. Bei Jenen aber, welche Furcht vor den Dingen und welche Abhängigkeit von ihnen!

 

4.

– Nur fein ruhig und gelassen: sie werden's thun und wenn Du Dich zerrissest!

5.

In der gesammten Natur liegt die Tendenz sich wohlzuverhalten. Die Natur der vernunftbegabten Wesen ist aber nur dann in ihrem normalen Zustande, wenn sie, was das Gedankenleben betrifft, weder der Unwahrheit, noch dem Unerkannten beifällt, wenn sie die Strebungen der Seele nur auf gemeinnützige Werke richtet, unseren Neigungen und Abneigungen nur solche Gegenstände giebt, die in unserer Macht stehen, und wenn sie Alles billigt, was die gesammte Natur über uns verhängt. Denn sie ist ein Theil dieser Allnatur, wie die Natur des Blattes ein Theil der Baum-Natur, nur dass diese als fühllose und vernunftlose in ihrem Bestehen gehemmt werden kann, während die menschliche Natur ein Theil der ungehinderten, vernünftigen und gerechten Natur ist, vor der die zu ihr gehörigen Einzelwesen gleich sind unter einander, indem sie jedem von Zeit und Stoff und Form und Fähigkeit so Viel giebt, als seinem Wesen entspricht, eine Gleichheit, die wir freilich nicht sehen, wenn wir die Einzelwesen unter einander vergleichen, sondern nur, wenn wir deren Gesammtheit mit der der andern Ordnung zusammenhalten.

6.

So Manches geziemt sich nicht zu jeder Zeit. Wohl aber geziemt sich's immer, den Stolz zurückzudrängen, Freud' und Leid gering zu achten, über ehrgeizige Gelüste erhaben zu sein, gefühllosen und undankbaren Menschen nicht zu zürnen, ja vielmehr sich ihrer anzunehmen.

7.

Niemand höre Dich hinfort an, wenn Du das Leben am Hofe überhaupt oder wenn Du das Deinige tadelst.

 

8.

Die Reue ist eine Selbstanklage darüber, dass man sich einen Vortheil hat entgehen lassen. Das Gute aller ist nothwendig vortheilhaft und somit auch die Sorge des guten und edlen Menschen. Dagegen hat wohl noch nie der edle Mensch darüber Reue gefühlt, dass er sich ein Vergnügen hat entgehen lassen; woraus denn zu entnehmen, dass die Lust nichts Vortheilhaftes und nichts Gutes ist.

9.

Jeder Gedanke des Menschen hat eine physiologische, eine pathologische und eine dialektische Seite.

10.

Sobald Du weisst, was für Ansichten und Grundsätze Einer hat über Gut und Böse, über Lust und Schmerz und über die Wirkungen beider, über Ehre und Schande, Leben und Sterben, kann Dir nicht wunderbar und fremdartig vorkommen, was er thut; Du weisst alsdann: er ist gezwungen, so zu handeln. Und ferner wenn sich doch kein Mensch darüber wundert, dass der Feigenbaum Feigen trägt, und der Arzt nicht, wenn Jemand das Fieber hat, noch der Steuermann, wenn der Wind entgegen steht warum das befremdlich finden, dass das Universum hervorbringt, was dem Keime nach in ihm liegt? –

11.

Seine Meinung zu andern, und dem, der sie berichtigt, Gehör zu schenken ist Nichts, was unsere Selbstständigkeit aufhebt. Es ist ja doch auch dann Dein Trieb und Urtheil, Dein Sinn, aus welchem Deine Thätigkeit hervorgeht.

12.

Lag's an Dir, warum hast Du's gethan? War ein Anderer Schuld, wem willst Du Vorwürfe machen? Den Atomen oder den Göttern? Beides ist Unsinn. Du hast Niemand Vorwürfe zu machen. Suche den, der Schuld war, eines Besseren zu belehren, oder wenn dies nicht möglich, bessere an der Sache selbst. Aber auch, wenn dieses nicht angeht, wozu sollen die Vorwürfe? Man muss eben Nichts ohne Ueberlegung thun.

13.

Was stirbt, kommt darum noch nicht aus der Welt. Aber wenn es auch hier bleibt, verändert es sich doch und löst sich auf in seine Grundstoffe, in die Elemente der Welt und in Deine. Und auch diese andern sich – ohne Murren.

14.

Es ist mit jedem Dinge, seinem Ende, Ursprunge und Bestehen nach nicht anders wie mit einem Balle, den Jemand wirft. Ist's etwas Gutes, wenn er in die Höhe steigt, oder etwas Schlimmes, wenn er niederfährt und zur Erde fällt? Was ist's für eine Wohlthat für die Wasserblase, wenn sie zusammenhält, und was für ein Leid, wenn sie zerplatzt? Und ebenso das Licht, wenn es brennt und wenn es verlischt?

 

15.

Was Du thust, setze stets in Beziehung auf der Menschen Wohlfahrt; was Dir widerfährt, nimm hin und beziehe es auf die Götter, als auf die Quelle aller Dinge, aus der jegliches Geschehen herfliesst.

16.

Wir müssen in unser Leben Ordnung und Planmässigkeit bringen, und jede unserer Handlungen muss ihren bestimmten Zweck haben. Wenn sie den erreicht, ist es gut; und eigentlich kann sie Niemand daran hindern. Aeussere Hemmnisse können wenigstens Nichts thun, um sie minder gerecht, besonnen, überlegt zu machen, und wenn sie sonst Deiner Thätigkeit Etwas in den Weg legen, so bietet sich wohl gerade durch ein Hinderniss, wenn man's nur gelassen aufnimmt und begierig Acht hat auf das, was zu thun übrig bleibt, ein neuer Gegenstand der Thätigkeit uns dar, dessen Behandlung sich in die Lebensordnung fügen lässt von der wir reden.

 

17.

Sei bescheiden, wenn Du empfangen, und frisch bei der Hand, wenn Du Etwas weggeben sollst!

18.

Solltest Du einmal eine abgehauene Hand, einen Fuss, einen Kopf, getrennt vom übrigen Körper zu sehen bekommen: siehe, das sind Bilder solcher Menschen, die nicht zufrieden sein wollen mit ihrem Schicksal, oder deren Handlungsweise blos ihrem eigenen Vortheil dient, ein Bild auch Deines Wesens, wie Du manchmal bist. Doch sieh', es steht Dir frei, Dich wieder mit dem grossen Ganzen zu vereinigen, von dem Du Dich geschieden hast. Anderen Gliedern des Universums verstattet die Gottheit nicht, nachdem sie sich abgelöst haben, wieder zusammenzukommen. Aber dem Menschen hat es ihre Güte gewährt. Sie legte es von Haus aus in des Menschen Hand, in dem Zusammenhang mit dem Ganzen zu verbleiben und wenn er daraus geschieden war, zurückzukehren, aufs Neue mit ihm zu verwachsen und den alten Platz wieder einzunehmen.

19.

Wie die Natur jegliches Hinderniss als solches zu beseitigen, in ihre Nothwendigkeit hereinzuziehen und zu einem Bestandtheil ihrer selbst zu machen weiss, so kann auch das vernunftbegabte Wesen jede Hemmung in seinen eigenen Stoff verwandeln und sie benutzen zur Verwirklichung seines Strebens, worauf dasselbe auch gerichtet sein möge.

20.

Wenn Du Dein Leben im Ganzen vor Dir hättest, wenn Du sähest, was Dir Alles bevorsteht, welche Unruhe müsste Dich ergreifen! Aber wenn Du ruhig wartetest, bis es kommt, und bei jedem Einzelnen, wenn es da ist, Dich fragtest, was denn dabei eigentlich nicht zu ertragen sei – Du müsstest Dich Deiner Verzagtheit schämen. Kümmern sollten wir uns immer nur um das Gegenwärtige, da uns nur dieses, nicht Zukünftiges und nicht Vergangenes, wirklich lästig werden kann. Und gemindert unfehlbar wird diese Last, wenn wir das Gegenwärtige rein so nehmen, wie es ist, ihm nichts Fremdes hinzudichten und uns selber widerlegen, wenn wir meinen, auch dies nicht einmal ertragen zu können.

21.

Eine Tugend, die der Gerechtigkeit entgegengesetzt wäre, habe ich in der Natur eines vernünftigen Wesens nicht auffinden können; wohl aber eine, die der Lust entgegensteht, die Enthaltsamkeit nämlich.

22.

Konntest Du Deine Ansicht über das, was Dich zu schmerzen scheint, andern, so würdest Du vollständig in Sicherheit sein. Du, sage ich, nämlich die Vernunft. Aber ich bin nicht die Vernunft, entgegnest Du. Mag sein, wenn sich die Vernunft nur eben nicht betrübt. Alles Uebrige, wenn es sich schlecht befindet, mag denken und fühlen, was es will.

 

23.

Jede Hemmung des Empfindungslebens sowohl, wie die eines Triebes ist für die animalische Natur ein Uebel. Anders die Hemmungen und Uebel in dem Pflanzenleben. Für die geistbegabten Wesen aber kann nur das ein Uebel sein, was das Geistesleben stört. Hiervon mache die Anwendung auf Dich selbst. Leid und Freude berühren nur die Sphäre des Empfindens. Eine Hemmung des Triebes kann allerdings auch schon für die vernünftige Kreatur ein Uebel sein; allein nur dann, wenn es ein absoluter Trieb ist. Dann aber, wenn Da so nur das Universelle in's Auge fassest, was sollte Dir schaden und was Dich hindern können? Denn in die dem Geiste eigenthümliche Sphäre kann nichts Anderes störend eingreifen, nicht Feuer, nicht Eisen, kein Despot, keine Lästerung, Nichts, was nicht vom Geiste selber herrührt. So lange eine Kugel besteht, so lange bleibt sie eben – rund nach allen Seiten.

 

24.

Habe ich noch niemals einen Andern absichtlich betrübt, so ziemt es mir auch nicht, mich selber zu betrüben.

25.

Mögen Andere ihre Freude haben, woran sie wollen; meine Freude ist, wenn ich eine gesunde Seele habe, ein Herz, das keinem Menschen zürnt, nichts Menschliches sich fern hält, sondern' Alles mit freundlichem Blick ansieht und aufnimmt, und Jedem begegnet, wie's ihm gebührt.

26.

Nimm mich und versetze mich, wohin Du willst! Bringe ich doch überall den Genius mit, der mir günstig ist, den Geist, der seine Aufgabe darin erkennt, sich so zu verhalten und so zu wirken, wie es seine Bildung verlangt. Und welche äussere Lebensstellung wäre es werth, dass um ihretwillen meine Seele sich schlecht befinde und herabgedrückt oder gewaltsam erregt, gebunden oder bestürzt gemacht ihres Werthes verlustig ginge? Was kannst Du finden, das solcher Opfer werth wäre?

27.

Wenn in Deiner Gemüthsverfassung Etwas ist, was Dich bekümmert, wer hindert Dich den leitenden Gedanken, der die Störung verursacht, zu berichtigen? Ebenso wenn es Dir leid ist, das nicht gethan zu haben, was Dir als das einzig Richtige erscheint, warum thust Du es nicht lieber noch, sondern giebst Dich dem Schmerz darüber hin? Du vermagst es nicht, ein Hinderniss, stärker als dass Du's beseitigen könntest, hält Dich ab? Nun so wehre der Traurigkeit nur um so mehr: der Grund, warum Du's unterliessest, liegt ja dann nicht in Dir! Aber freilich, wenn man so nicht handeln kann, ist's nicht werth zu leben. Und darum scheide Du aus dem Leben mit frohem Muthe und – da Du ja auch sterben müsstest, wenn Du so gehandelt – freundlichen Sinnes gegen die, die Dich gehindert!

 

28.

Die Seele des Menschen ist unangreifbar, wenn sie in sich gesammelt daran sich genügen lässt, dass sie Nichts thut, was sie nicht will, auch wenn sie sich einmal unvernünftiger Weise widersetzen sollte, am Meisten aber wenn sie jederzeit mit Vernunft zu Werke geht. Darum, sage ich, ist die leidenschaftslose Seele eine wahre Burg und Festung. Denn der Mensch hat keine stärkere Schutzwehr. Hat er sich hier geborgen, kann ihn Nichts gefangen nehmen. Wer dies nicht einsieht, ist unverständig; wer es aber einsieht und dennoch seine Zuflucht dort nicht sucht, unglücklich.

29.

Zu dem, was Dich ein erster scharfer Blick gelehrt, thue dann weiter Nichts hinzu. Du hast erfahren, Der und Jener rede schlecht von Dir. Nun gut. Aber, dass Du gekränkt seist, das hast Du nicht gehört. Du siehst, Dein Kind ist krank. Nun gut. Aber dass es in Gefahr schwebe, das siehst Du nicht. Und so lasse es immer bei dem Ersten bewenden, und thue Nichts aus Deinem Innern hinzu, so wird Dir auch Nichts geschehen. Hast Du aber dennoch Deine weiteren Gedanken dabei, so beweise Dich hierin gerade als ein Mensch, der, was im Leben zu geschehen pflegt, durchschaut hat.

30.

»Hier diese Gurke ist bitter.« Lege sie weg! »Hier ist ein Dornstrauch.« Geh ihm aus dem Wege! Weiter ist darüber Nichts zu sagen. Wolltest Du fortfahren und fragen: aber wozu in aller Welt ist solches Zeug? so würde Dich der Naturforscher gründlich auslachen, ebenso wie Dich der Tischler und der Schuster auslachen würde, wenn Du's ihnen zum Vorwurf machtest, dass in ihren Werkstätten Späne und Ueberbleibsel aller Art herumliegen. Mit dem Unterschiede, dass diese Leute einen Ort haben, wohin sie diese Dinge werfen, die Natur aber hat Nichts draussen. Sondern das Bewunderungswürdige ihrer Kunst besteht eben darin, dass sie, die sich lediglich selber begrenzt, Alles, was in ihr zu verderben, alt und unnütz zu werden droht, so in sich hinein verwandelt, dass sie daraus wieder anderes Neue macht, dass sie keines Stoffes ausser ihr bedarf und das faul Gewordene nicht hinauszuwerfen braucht. Sie hat an ihrem eigenen Raume, an ihrem eigenen Material und an ihrer eigenen Kunst völlig genug.

31.

Hört denn die reine süsse Quelle auf, rein und süss zu quellen, wenn Einer, der dabei steht, sie verwünscht? Und wenn er Schmutz und Schlamm hineinwürfe, würde sie's nicht sofort ausscheiden und hinwegspülen, um rein zu bleiben wie zuvor? Du auch bist im Besitz einer solchen ewig reinen Quelle, wenn Du die Seele frei, liebevoll, einfältig, ehrfurchtsvoll Dir zu bewahren weisst.

32.

Wer nicht weiss, was die Welt ist, weiss nicht, wo er lebt. Aber nur, der da weiss, wozu er da ist, weiss, was die Welt ist.

 

33.

Wie oft strebst Du danach, einem Menschen zu gefallen, der sich selber nicht gefällt? Oder kann sich der gefallen, der fast Alles, was er thut, bereut?

34.

Hinfort verkehre Du nicht blos mit der Dich umgebenden Luft, sondern ebenso auch mit dem Alles umgebenden Geiste! Denn der Geist ergiesst und vertheilt sich nicht minder überall dahin, wo Jemand ist, der ihn einzusaugen vermag, als die Luft dahin, wo man sie athmen kann.

35.

Im Allgemeinen schadet das Böse der Welt nicht, und im einzelnen Falle schadet es nur dem, dem es vergönnt ist, sich frei davon zu machen, sobald er nur will.

 

36.

Nach meinem Dafürhalten ist die Ansicht, die mein Nächster hat, etwas ebenso Gleichgültiges für mich als sein ganzes geistiges und leibliches Wesen. Denn wenn es auch durchaus das Richtige ist, dass wir Einer um des Andern willen da sind, so ist doch jede unserer Seelen etwas Selbstständiges für sich. Wäre dies nicht, so müsste ja auch die Schlechtigkeit meines Nebenmenschen mein Verderben sein, was doch der Gottheit nicht gefallen hat, so einzurichten, damit mein Unglück nicht von Andern abhängig sei.

37.

Die Sonnenstrahlen scheinen von der Sonne herzufliessen, und wiewohl sie sich überall hin ergiessen, werden sie doch nicht ausgegossen. Denn dieses Fliessen und Giessen ist Nichts als Ausdehnung. Recht deutlich kann man sehen, was der Strahl sei, wenn die Sonne durch eine enge Oeffnung in einen dunkeln Raum scheint. Ihr Strahl fällt in gerader Richtung und wird, nachdem er die Luft durchschnitten hat, an dem gegenüber stehenden Körper gleichsam gebrochen. Doch bleibt er an ihm haften und löscht nicht aus. Ebenso müssen nun die Ausstrahlungen der Seele sein, kein Ausgiessen, sondern ein sich Ausdehnen, kein heftiges und stürmisches Aufprallen auf die sich entgegenstellenden Objecte, aber auch kein Herabgleiten von ihnen, sondern ein Beharren und Erleuchten alles dessen, was ihrer Strömung begegnet, und so, als beraube jegliches Ding sich selbst ihres Glanzes, wenn es ihn nicht empfängt.

38.

Wer sich vor dem Tode fürchtet, fürchtet sich entweder vor dem Erlöschen jeglicher Empfindung, oder vor einem Wechsel des Empfindens. Aber wenn man gar Nichts mehr fühlt, ist auch ein Schmerz nicht mehr möglich. Erhalten wir aber ein anderes Fühlen, so werden wir andere Wesen, hören also auch nicht auf zu leben.

 

39.

Die Menschen sind für einander geboren. So lehre oder dulde, die's nicht wissen.

40.

Anders ist der Flug des Geschosses und anders der, den der Geist nimmt. Und doch bewegt sich der Geist, wenn er Bedacht nimmt, oder wenn er überlegt, nicht weniger in grader Richtung und dem Ziel entgegen.

41.

Suche einzudringen in jedes Menschen Inneres, aber verstatte es auch Jedermann in Deine Seele einzudringen!

Quelle:
Mark Aurel's Meditationen. Breslau 1875, S. 99-113.

 

 

Mark Aurel

(121 n. Chr.–180 n. Chr.)

Meditationen

Neuntes Buch

1.


Wer unrecht handelt, handelt gottlos. Denn die Natur hat die vernünftigen Wesen für einander geschaffen, nicht dass sie einander schaden, sondern nach Würdigkeit einander nützen sollen. Wer ihr Gebot übertritt, frevelt demnach offenbar wider die älteste der Gottheiten. Auch der mit Lügen umgeht, ist gottlos. Denn die Natur ist das Reich des Seienden. Alles aber, was ist, stimmt als solches überein mit seinem Grunde. Und diese Uebereinstimmung nennt man Wahrheit. Auf ihr basirt Alles, was man wahr nennt im einzelnen Falle. Der Lügner also handelt gottlos, weil, ist er's absichtlich, er Andere betrügt und somit unrecht handelt; ist er's unwillkürlich, weil er nicht mit der Natur im Einklang ist, weil er die Ordnung stört, indem er ankämpft gegen das Ganze. Denn im Kampf ist Jeder, der sich wider die Wahrheit bestimmt, weil er von Natur für sie bestimmt ward. Wer aber dies ausser Acht lässt, ist schon so weit, Wahrheit und Lüge nicht unterscheiden zu können. Endlich handelt auch der gottlos, der dem Vergnügen nachgeht als einem Gute und vor dem Schmerz als einem Uebel flieht, da ein Solcher nothwendig oft in den Fall kommt, die Natur zu tadeln, als theile sie den Guten und den Schlechten ihre Gaben nicht nach verdienst aus. Denn wie oft gemessen böse Menschen Glück und Freude, und haben, was ihnen Freude schaffen kann, während die Guten dem Leid anheimfallen und dem, was Leiden schafft. Ferner wird, wer sich vor dem Schmerze fürchtet, auch nicht ohne Furcht in die Zukunft blicken können, was schon gottlos ist, während der, der nach Lust strebt, sich kaum des Unrechts wird enthalten können, was offenbar gottlos ist. Und jedenfalls muss doch wer in Uebereinstimmung mit der Natur leben und ihr folgen will, gleichgültig gegen das sein, wogegen sich die Natur gleichgültig verhält, das aber thut sie gegen Lust und Schmerz, gegen Tod und Leben, Ehre und Schande. Wer also alles dies nicht gleichgültig ansieht, ist offenbar gottlos.

2.

Besser wär's, wenn man die Welt verlassen könnte, ehe man all' die Lüge und Heuchelei, den Prunk und Stolz geschmeckt. Hat man nun aber diese Dinge einmal schmecken müssen, so ist's doch wohl der günstigere Fall, dann bald die Seele auszuhauchen, als mitten in dem Elend sitzen zu bleiben? Oder hat Dich die Erfahrung nicht gelehrt, die Pest zu fliehen? und welche Pest ist schlimmer, die Verdorbenheit der uns umgebenden Luft, die Pest, die nur die animalische Natur als solche trifft, oder die Verderbniss der Seele, die eigentliche Menschenpest?

3.

Denke nicht gering vom Sterben, sondern lass es Dir Wohlgefallen wie eines der Dinge, in denen sich der Wille der Natur ausspricht. Denn von derselben Art wie das Kindsein und das Altsein, das Wachsen und Mannbar-werden oder das Zahnen und bärtig werden und graues Haar bekommen oder das Zeugen und Gebären und alle diese Thätigkeiten der Natur, wie sie die verschiedenen Zeiten des Lebens mit sich bringen, ist auch das Sterben. Daher ist es die Sache eines verständigen Menschen, weder mit Gleichgültigkeit noch mit heftiger Gemüthsbewegung noch in übermüthiger Weise an den Tod zu denken, sondern auf ihn zu blicken eben wie auf eine jener Naturfunktionen. Und wie Du des Augenblickes harrst, wo das Kindlein der Mutter Schooss verlassen haben wird, so erwarte auch die Stunde, da Deine Seele dieser Hülle entweichen wird. – Eindringlich ist auch jene gewöhnliche Regel, die man giebt, um Jemand zur Zu friedenheit mit dem Loose der Sterblichkeit zu stimmen: einmal, sieh Dir die Dinge genau an, von denen Du Dich trennen musst, und dann in ethischer Beziehung, welch' ein Elend, womit Du einst nicht mehr verflochten sein wirst! Zwar ist es keineswegs nöthig, sich daran zu stossen, Pflicht ist es vielmehr es zu lindern oder ruhig zu ertragen, allein man darf doch daran denken, dass es nicht eine Trennung gilt von gleichgesinnten Menschen. Denn dies wäre das Einzige, was uns rückwärts ziehen und an das Leben fesseln könnte, wenn es uns vergönnt wäre, mit Menschen zusammen zu leben, die von denselben Grundsätzen und Ideen beseelt sind wie wir. Nun aber weisst Du ja, welches Leiden der Zwiespalt ist, der unter den Menschen herrscht, und kannst nicht anders als den Tod anflehen, dass er eilig kommen möge, damit Du nicht auch noch mit Dir selbst in Zwiespalt gerathest.

4.

Wer unrecht handelt, schadet sich selbst.

 

5.

Oft thut auch der Unrecht, der Nichts thut, nicht blos, der Etwas thut.

6.

Wenn Du gesundes Urtheil hast, und die Gewohnheit für Andere zu handeln, und ein Gemüth, das mit den äusseren Verhältnissen zufrieden ist, so hast Du genug.

7.

Wie es nur eine Erde giebt für alles Irdische, ein Licht für Alles, was sehen, und eine Luft für Alles, was athmen kann, so ist es auch nur ein Geist, der unter sämmtliche Vernunftwesen vertheilt ist.

 

8.

Alle Dinge von derselben Art streben zu einander als zu dem Gleichartigen hin. Alles, was von Erde ist, gleitet zur Erde, alles Flüssige läuft zusammen, und so auch das Luftige, so dass es der Gewalt bedarf, um solche Dinge auseinander zu halten. Das Feuer hat zwar seinen Zug nach Oben, vermöge des Elementarfeuers, aber auch da erfasst es alles ihm Aehnliche und bringt die trockeneren Stoffe zum Brennen, eben weil diesen weniger von dem beigemischt ist, was dem Entflammen hinderlich. Ebenso nun und noch mehr strebt auch Alles, was der vernünftigen Natur angehört, zu einander hin. Denn je edler es ist als das Uebrige, um so bereiter ist es auch, sich dem Verwandten zu einen und mit ihm zusammenzugehen. Schon auf der Stufe der vernunftlosen Wesen finden sich Schaaren und Heerden, findet sich das Auffüttern der Jungen, eine Art von Liebe. Denn schon hier ist Seele und jener Gemeinschaftstrieb in höherer Weise, als er in der Pflanzenwelt und im Gestein sich findet. Bei den Vernunftbegabten nun kommt es zu Staaten, Freundschaften, Familien, Genossenschaften, und in den Kriegen selbst zu Bündnissen und Waffenstillständen. Und wenn wir zu den noch höheren Wesen fortschreiten, mögen sie auch um Unendlichkeiten auseinander sein: auch da ist Einheit, wie bei den Sternen; so dass, je höher wir kommen, desto entschiedener die Sympathie sich auch auf die Entferntesten erstreckt. Aber was geschieht? Die vernünftigen Wesen allein sind es, die dieses Zu-einander-strebens, dieses Zusammenhaltens nicht eingedenk bleiben, und hier allein vermag man jenes Zusammenfliessen nicht wahrzunehmen! Und dennoch –: mögen sie sich immerhin fliehen, sie umschliessen sich doch. Die Natur zwingt sie. Man sehe nur genau! Eher findest Du Irdenes, das an nichts Irdenem hängt, als einen Menschen vom Menschen abgelöst.

9.

Frucht bringen Mensch und Gott und Welt, ein Jegliches zu seiner Zeit, in anderer Weise freilich als der Weinstock und dergl. Auch die Vernunft hat ihre Frucht, von allgemeiner und von individueller Art. Und was aus ihr hervorgeht, ist eben immer wieder – Vernunft.

 

10.

Heut, sprichst Du, bin ich aller meiner Plage entronnen. Sag lieber; heut hab' ich all' meine Plage abgeworfen. Denn in Dir, in Deiner Vorstellung war sie, nicht ausser Dir.

11.

Gut und Böse, Tugend und Laster ruhen bei vernunftbegabten Wesen nicht auf einem Zustande, sondern auf einer Thätigkeit.

12.

Das Aufhören der Thätigkeit, Stillstehen der Triebe und der Vorstellungen – der Tod – ist kein Uebel. Denn wie ist es mit den verschiedenen Stufen des Lebens, mit der Kindheit, der Jugend, dem Mannes- und Greisenalter? ist nicht ihr Wechsel – Tod? und ist das etwas Schlimmes? Nicht anders der Wechsel der Zeiten. Die Zeiten der Vorväter hören auf mit dem Zeitalter der Väter u.s.f. Ist bei allen diesen Veränderungen etwas Schlimmes? So denn auch nicht, wenn Dein Leben wechselt, still steht und aufhört.

13.

So wie Deine ganze Persönlichkeit der integrirende Theil eines politischen Organismus ist, so soll auch jede Deiner Handlungen das gemeinschaftliche Handeln dieses Organismus ergänzen. Thut sie dies nicht, ist sie mehr oder weniger dieser Tendenz fern, so zerstückelt sie Dein Leben, hindert seine Harmonie, ist aufrührerisch wie ein Mensch, der im Volke seine Partei dem. Zusammenwirken mit den andern entfremdet.

14.

Du hast unendlich gelitten lediglich deshalb, weil Deine Seele sich nicht begnügte zu thun, wozu sie gemacht ist.

 

15.

Wenn Jemand Dich tadelt oder hasst oder Schlechtes von Dir redet, so gehe heran an seine Seele, dringe ein, und siehe, was es eigentlich für ein Mensch sei. Du wirst finden, dass Du Dich nicht zu beunruhigen brauchst, was er auch von Dir denken mag. Du musst ihm jedenfalls wohlgesinnt bleiben, da er von Natur Dein Freund ist, und da ihm sicherlich auch die Götter helfen, wie Dir, in all' den Dingen, um die sie Sorge tragen.

16.

Alles in der Welt dreht sich im Kreise, von Oben nach Unten, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und doch auch in jedes Einzelwesen dringt die Seele des Alls. Ist dies, so nimm, was sie hervortreibt, mag sie nun einmal nur sich schöpferisch bewiesen haben, so dass nun Eins aus dem Andern mit Nothwendigkeit folgt und Alles eigentlich nur Eines ist, oder mag Alles atomengleich entstehen und bestehen. Gleichviel. Denn giebt es einen Gott, so stellt Alles gut; ist aber Alles nur von Ungefähr, darfst Du doch nicht von Ungefähr sein!

17.

Einem reissenden Strome gleicht die Welt: Alles führt sie dahin. Wie nichtig die Thaten des Menschen, die er politisch oder philosophisch nennt, wie eitel Schaum! Aber was nun, lieber Mensch? Thue, was die Natur gerade jetzt von Dir fordert. Strebe, wenn Dir ein Gegenstand des Strebens gegeben wird, und blicke nicht um Dich ob's Einer sieht. Auch bilde Dir den Platonischen. Staat nicht ein, sondern sei zufrieden, wenn es nur ein klein Wenig vorwärts geht und halte solchen kleinen Fortschritt nicht gering. Denn wer wird ihre Gesinnung andern? Ohne eine solche Aenderung der Gesinnung aber, was würde Anderes daraus entstehen, als ein Knechtsdienst unter Seufzen, ein Gehorsam Solcher, die sich stellen, als wären sie überzeugt. Die Alexander, Philippus, Demetrius Phalereus mögen zusehen, ob sie erkannt, was die Natur will, und ob sie sich selbst in Zucht gehalten haben. Waren es aber Schauspieler, wird mich doch Niemand dazu verdammen, sie nachzuahmen. Einfalt und Würde kennzeichnen das Geschäft der Philosophie. Verführe Du mich nicht zur Aufgeblasenheit!

18.

Ein unerschütterliches Herz den Dingen gegenüber, die von Aussen kommen, ein rechtschaffenes in denen, die von Dir abhängen!

19.

Wie ihr Inneres beschaffen, welche Interessen sie verfolgen, um welcher Dinge willen sie Lieb' und Achtung zollen, das suche zu erforschen, mit einem Wort: die nackten Seelen! – Wenn man glaubt durch Tadel Schaden und durch Lob Nutzen zu stiften, welch' ein Glaube!

20.

Verlust ist nichts Anderes als Veränderung, die die Natur so liebt, wie wir wissen, – sie, die doch Alles richtig macht. Oder wolltest Du sagen, Alles, was geschehen sei oder geschehen werde, sei schlecht? Aber sollte sich dann unter so vielen Göttern nicht wenigstens eine Macht finden, die es wieder zurecht brächte? und die Welt sollte verdammt sein, in den Banden unaufhörlicher Uebel zu liegen?

21.

Entweder die Götter vermögen Nichts, oder sie haben Macht. Können sie Nichts, was betest Du? Haben sie aber Macht, warum bittest Du sie nicht lieber darum, dass sie Dir geben, Nichte zu fürchten, Nichts zu begehren, Dich über Nichts zu betrüben, als darum, dass sie Dich vor solchen Dingen, die Du fürchtest, bewahren oder solche, die Du möchtest, Dir gewähren? Denn wenn sie den Menschen überhaupt helfen können, so können sie ihnen doch auch dazu verhelfen. Aber vielleicht entgegnest Du, das hätten die Götter in Deine Macht gestellt. Nun, ist es denn da nicht besser, was in unserer Macht steht, mit Freiheit zu gebrauchen, als mit knechtischem gemeinem Sinn dahin zu langen, was nicht in unserer Macht steht? Wer aber hat Dir gesagt, dass die Götter uns in den Dingen, die in unserer Hand liegen, nicht beistehen? Fange nur an, um solche Dinge zu bitten, dann wirst Du ja sehen! Der bittet, wie er möchte frei werden von einer Last; Du bitte, wie Du's nicht nöthig haben möchtest, davon befreit zu werden. Jener, dass ihm sein Kind erhalten werden möge; Du, dass Du nicht fürchten mögest, es zu verlieren u.s.f. Mit einem Wort, gieb allen Deinen Gebeten eine solche Richtung, und siehe, was geschehen wird.

22.

Epikur erzählt: in meinen Krankheiten erinnere ich mich nie eines Gesprächs über die Leiden des Menschen; nie sprach ich mit denen, die mich besuchten, über dieses Thema. Sondern ich arbeitete weiter, über naturhistorische Gegenstände im Allgemeinen und besonders darüber nachdenkend, wie die Seele, trotzdem, dass sie an den Bewegungen im. Körper Theil hat, ruhig bleiben und das ihr eigenthümliche Gut bewahren möge. Auch gab ich den Aerzten niemals Gelegenheit, sich meinetwegen zu rühmen, als hätten sie Etwas ausgerichtet, sondern lebte nachher nicht angenehmer und besser wie vorher. So halte es auch Du, in Krankheiten nicht blos, sondern in jeder Widerwärtigkeit. Den Grundsatz haben alle Philosophenschulen, gerade unter misslichen Verhältnissen der Philosophie sich treu zu zeigen, mit Leuten, die dem wissenschaftlichen Denken fern stehen, lieber nicht zu schwatzen und seine Gedanken lediglich auf das jedesmal zu Thuende und auf die Mittel zur Ausführung dessen, was uns obliegt, zu richten.

23.

So oft Dir Jemand mit seiner Unverschämtheit zu nahe tritt, lege Dir die Frage vor, ob es nicht Unverschämte in der Welt geben müsse? Denn das Unmögliche wirst Du doch nicht verlangen. Und dieses ist nun eben einer von den Unverschämten, die in der Welt existiren müssen. Dasselbe gilt von den Schlauköpfen, von den Treulosen, von jedem Lasterhaften. Und sobald Dir dieser Gedanke geläufig wird, dass es unmöglich ist, dass solche Leute nicht existiren, siehst Du Dich auch sofort freundlicher gegen sie gestimmt. Ebenso frommt es, daran zu denken, welche Tugend die Natur jeder dieser bösen Richtungen gegenüber dem Menschen verliehen hat. So gab sie z.B. der Lieblosigkeit gegenüber, gleichsam als Gegengift die Sanftmuth. Ueberhaupt aber steht Dir frei, den Irrenden eines Bessere? zu überführen. Und ein Irrender ist jeder Böse: er führt sich durch sein Unrecht selbst vom vorgesteckten Ziele ab. Was aber schadet Dir's? Kann er Etwas wider Deine Seele? – Und was ist denn Uebles oder Fremdartiges dran, wenn ein zuchtloser Mensch thut, was eben eines solchen Menschen ist? Eher hättest Du Dir selbst darüber Vorwürfe zumachen, dass Du nicht erwartet hast, er werde Solches thun. Deine Vernunft giebt Dir doch Anlass genug zu dem Gedanken, dass es wahrscheinlich sei, er werde sich auf diese Weise vergehen, und nun, weil Du nicht hörst auf das, was sie Dir sagt, wunderst Du Dich, dass er sich vergangen hat! Jedesmal also, wenn Du Jemand der Treulosigkeit oder der Undankbarkeit beschuldigst, richte den Blick in Dein eigenes Innere. Denn offenbar ist es doch Dein Fehler, wenn Du einem Menschen von solchem Charakter Dein Vertrauen schenktest oder wenn Du ihm eine Wohlthat erwiesest mit allerlei Nebenabsichten und ohne den Lohn Deiner Handlungsweise nur in ihr selbst zu suchen. Was willst Du denn noch weiter, wenn Du einem Menschen wohlgethan? Ist's nicht genug, dass Du Deiner Natur entsprechend gehandelt? strebst Du nach einer besonderen Belohnung? Als ob das Auge Bezahlung forderte dafür, dass es sieht, und die Füsse dafür, dass sie schreiten! Und wie Aug' und Fuss dazu geschaffen sind, dass sie das Ihrige haben in der Erfüllung ihrer natürlichen Functionen, so hat auch der Mensch, zum Wohlthun geschaffen, so oft er ein gutes Werk gethan und Anderen irgendwie ausserlich beistand, eben nur gethan, wozu er bestimmt ist, und hat darin das Seinige.

Quelle:
Mark Aurel's Meditationen. Breslau 1875, S. 113-125.

 

 

 

Mark Aurel

(121 n. Chr.–180 n. Chr.)

Meditationen

Zehntes Buch

1.


Wirst Du denn, liebe Seele, wohl einmal gut und lauter und einig mit Dir selbst und ohne fremde Umhüllung und durchsichtiger sein, als der Dich umgebende Leib? Theilhaftig werden eines liebenswürdigen und liebenden Charakters? Wirst Du einmal befriedigt und bedürfnisslos sein, nach Nichts Dich sehnend, Nichts begehrend, weder Geistiges noch Ungeistiges, um daran eben nur Genuss zu haben? weder Mehr an Zeit, noch Mehr an Raum oder Gelegenheit, um den Genuss weiter auszudehnen? weder eine günstigere Temperatur der Luft, noch eine ansprechendere in Deiner menschlichen Umgebung? vielmehr zufrieden sein mit eben der Lage, in der Du Dich befindest, Dich überhaupt des Vorhandenen erfreuen und Dich überzeugen, dass Dir Alles zu Gebote steht, dass sich Alles wohl verhält, und dass es von den Göttern kommt, sich also wohlverhalten muss, sofern es ihnen selbst wohlgefällig ist und sofern sie's ja nur geben mit Rücksicht auf die Seligkeit des vollkommensten Wesens, des guten und gerechten, und schönen, jenes Wesens, das alles Dasjenige erzeugt und zusammenhält und umgiebt und in sich fasst, was, wenn es sich auflöst, der Grund zur Entstehung eines Anderen von ähnlicher Beschaffenheit wird? Wirst Du mit einem Worte wohl einmal eine solche sein, die mit Göttern und Menschen so verkehrt, dass Du weder an ihnen[125] Etwas auszusetzen hast, noch dass sie Dich beschuldigen können? –

2.

Nachdem Du erforscht, was Deine Natur fordert, was rein nur ihrem Gebot entspricht, so führe dasselbe nun auch aus oder lass es zu, sofern dadurch das Animalische an Dir nicht schlechter wird. Dann frage Dich, was eben dieser Seite Deines Wesens entspricht und vergönne es Dir, sofern dadurch das Vernünftige an Dir nicht leidet – das Vernünftige, das immer zugleich auch ein Geselliges ist. Und wenn Du diesen Grundsätzen folgst, bedarf es keines anderen Bestrebens.

 

3.

Wenn Dir begegnet, was zu ertragen nicht Deine Bestimmung ist – sei auch darüber nicht unwillig. Was Dich zu Gründe richtet, wird auch zu Grunde gehen. Jedoch vergiss auch nicht, dass Du bestimmt bist, Alles zu ertragen, was erträglich und leidlich zu machen Deine Vorstellung die Macht hat, durch den Gedanken nämlich, dass es Dir heilsam oder dass es Deine Pflicht sei.

4.

Alles, was Dir geschieht, ist Dir von Ewigkeit her voraus bestimmt. Jener grosse Zusammenhang von Ursache und Wirkung hat Beides, Dein Dasein und dieses Dein Geschick, von Ewigkeit aufs Innigste verwoben.

5.

Sämmtliche Wesen haben das mit einander gemein, dass sie von keinem ihnen äusserlichen Umstande gezwungen werden können, Etwas hervorzubringen, was ihnen selbst schädlich wäre. Und dasselbe gilt natürlich auch von der ganzen Welt. Was aber dem Ganzen nützt, kann dem Theile nicht schädlich sein, d.h. ich darf nicht klagen über das, was von dem All mir zugetheilt wird.

6.

Lächerlich ist es zu sagen: ja, alles Natürliche ist bestimmt sich zu verändern, und dann, wenn irgend wo eine solche Veränderung vor sich geht, sich darüber zu verwundern oder zu betrüben.

 

7.

Hast Du die Namen: gut, ehrfürchtig, wahrhaft, verständig, gleichmüthig, hochsinnig Dir beigelegt, so sorge dafür, dass Du sie nie verlierst oder immer bald wieder erwirbst. Aber bedenke auch, was sie besagen! Verstand – ein sorgsam erworbenes, gründliches Wissen um Einzelnes; Gleichmuth – ein bereitwilliges Aufnehmen des von der Natur uns Zuerkannten; Hochsinn – ein Erhabensein des Geistes über jede leise oder laute Regung im Fleisch, über das, was man Ehre nennt, auch über den Tod und alles dieses. Vermagst Du nun, Dich diesen Namen zu erhalten, ohne doch gerade danach zu streben, dass Andere Dich bei ihnen nennen, so wirst Du ein anderer Mensch sein und ein anderes Leben anfangen. Bleibst Du aber noch ferner, wie Du bisher warst, fährst fort in einer Lebensweise, die Dich befleckt und aufreibt, so bist Du ein gewissenloser Mensch, ein Mensch, der eben Nichts als leben will, und gleichst jenen Halbmenschen, die man mit wilden Thieren kämpfen lässt, die nämlich, wenn sie mit Wunden bedeckt und mit Blut besudelt sind, inständigst bitten, man möchte sie doch bis auf den folgenden Tag aufheben, um – wieder vorgeworfen zu werden denselben Krallen und denselben Zähnen. Also tauche Dein Wesen in jene wenigen Namen, und wenn Du es nur irgend ermöglichen kannst, halte bei ihnen aus, wie Einer, der auf den Inseln der Seligen gelandet. Merkst Du aber, dass man Dich heraustreiben will und dass Du nicht obsiegen wirst, so ziehe Dich eilig in einen Winkel zurück, wo Du Dich wahren kannst; oder – verlasse das Leben! – Um jener Namen eingedenk zu bleiben, ist es kein schlechtes Hilfsmittel, sich die Götter vorzuhalten, die nicht sowohl begehren, dass man sie schmeichelnd verehre, als dass alle vernunftbegabten Wesen ihnen ähnlich werden, und dass der Mensch thue, was des Menschen ist.

8.

Hast Du jene hohen und heiligen Ideen Dir ohne selbstständiges Forschen eben nur eingebildet, so werden sie Dir auch wieder abhanden kommen, so können Nachahmung, Anfeindung, Furcht, Schrecken, Knechtschaft sie Dir täglich entreissen. Es gilt aber sich eine solche Anschauungs- und Lebensweise anzueignen, dass man das Vorliegende sofort abzuthun jederzeit bereit ist und doch dabei weder die intellektuelle Ausbildung ausser Acht lässt, noch das Vertrauen verleugnet, womit uns jede tiefere Erkenntniss der Dinge erfüllt, das zwar an sich ein innerliches ist, doch aber nicht verborgen bleiben kann.

9.

Was für ein Bedenken hält Dich ab, vor Allem zu sehen, was der Augenblick zu thun gebietet? Freilich musst Du's völlig erwogen haben, ehe Du getrost und unbeirrt daran gehen kannst. Ist Dir also noch irgend Etwas daran unklar, so halte an und ziehe die Besten zu Rathe. Sonst aber, tritt auch ein Hinderniss Dir in den Weg, schreite nur besonnen vorwärts, den einmal empfundenen Antrieben folgend und treu Dich haltend an Das, was Dir als das Rechte erschienen ist. Denn dies zu verfolgen bleibt immer das Beste. Ihm untreu werden heisst von seiner eigenen Natur abfallen. Darum sage ich, dass wer in allen Stücken der Vernunft gehorcht, ruhig und leicht bewegt, heiter und ernst zugleich zu sein vermag.

 

10.

Frage Dich, sobald Du des Morgens aufgestanden bist: geht es Dich Etwas an, ob ein Anderer das Gute und Rechte thut? Nichts geht's Dich an. Hast Du vergessen, was das für Leute sind, die ewig nur zu loben oder zu tadeln wissen? wie sie's treiben auf ihrem Lager, bei Tafel, überall, was es für Diebe und Räuber sind, nicht äusserlich mit Händen und Füssen, sondern innerlich[129] an dem kostbarsten Theile ihres Wesens, mit dem sie sich doch, wenn sie wollten, Glauben, Ehrfurcht, Wahrheit, Sitte, den guten Genius zu eigen machen könnten.

11.

Der wohlgesittete und ehrfurchtsvolle Mensch sagt zur Natur, der Alles spendenden und wieder nehmenden: gieb, was Du willst, und nimm, was Du willst. Er spricht's nicht etwa zu besonderem Muth sich aufraffend, sondern aus reiner Folgsamkeit und Liebe.

 

12.

Du hast nur noch Wenig zu leben. Lebe wie auf einem Berge! Gleichviel wo in der Welt Du lebst, denn die Welt ist ein Menschenverein. Und die Menschen sollen eben den wahren Menschen, den der Natur gemäss lebenden schauen und beschauen. Mögen sie ihn immerhin aus dem Wege räumen, wenn sie ihn nicht vertragen können.

13.

Nun gilt es nicht mehr zu untersuchen, was ein tüchtiger Mensch sei, sondern einer zu sein.

14.

Der Gedanke an die Ewigkeit und an das Weltall sei Dir stets nahe: verglichen mit dem All wird Dir dann Alles als ein Körnlein und mit der Ewigkeit verglichen wie ein Handumdrehen erscheinen.

15.

Was sind denn die Esser und Trinker und Schläfer und Erzeuger und was sie sonst machen? was sind sie, die sich aufblähen und so hoch drein schauen, die so zornig sind und so von Oben her aburtheilen? Vor Kurzem – wem haben sie gedient und um welchen Preis? Und wieder eine kleine Weile – wo sind sie dann?

16.

Nicht blos, was die Natur dem Menschen schickt, ist ihm zuträglich, sondern es ist ihm auch gerade dann von Nutzen, wann sie's schickt.

17.

Der Regen – ein Liebling der Erde; doch auch des blauen Himmels Liebling. Das Universum liebt zu thun (sagt man nicht: »liebt, zu thun?«) Alles, was eben geschehen soll. Ich also sage zu ihm: Deine Liebe ist auch meine.

18.

Entweder Du lebst hier, wie Du gewohnt bist, oder Du kommst anderswohin, wie Du am Ende auch gewollt, oder Du stirbst und hast ausgedient. Das ist Alles. Drum sei guten Muths!

19.

Vergiss nicht, dass Du da, wo Du lebst, ganz dasselbe hast, was Du im Gebirge oder an der See oder sonstwo, wohin Du Dich sehnst, haben würdest. Dem Hirten, sagt Plato, der so bei seiner Hürde auf dem Berge weidet, ist's nicht anders zu Muthe, wie dem, den eine Stadtmauer umgiebt.

20.

Wer seinem Herrn entläuft, ist ein Ausreisser. Der Herr ist das Gesetz; wer also der Befolgung des Gesetzes sich entzieht, ist ein Ausreisser. Nicht minder aber verdient diesen schimpflichen Namen auch der, der sich erzürnt oder betrübt oder fürchtet. Denn er will nicht, dass geschehen wäre oder geschehe oder geschehen solle, was der Alles Verwaltende, der Allen Gesetz ist, bestimmt.

21.

Ein Mensch, der seinem Unwillen über irgend Etwas Luft macht und sich beklagt, unterscheidet sich im Grunde genommen gar nicht von – einem Stück Vieh, das beim Schlachten mit allen Vieren um sich stösst und dazu schreit. Und anders ist auch nicht einmal der, der auf seinem Lager hingestreckt stillschweigend seufzt, wenn man ihm den Verband anlegt. Denn dem vernunftbegabten Wesen ist es doch gegeben – und das ist seine Auszeichnung, bereitwillig zu folgen dem, was ihm geschieht. Zu folgen wenigstens ist nothwendig für Alle.

22.

Bei jeglichem Dinge, womit Du beschäftigt bist, frage Dich, ob der Tod darum, weil er Dich seiner beraubt, etwas so Schreckliches ist.

 

23.

So oft Du unter dem Fehler eines Anderen zu leiden hast, frage Dich, ob Du nicht auch in ähnlicher Weise gefehlt, ob Du z.B. nicht auch schon das Geld, das Vergnügen, den Ruhm und Aehnliches für ein Gut gehalten hast. Dann wirst Du Deinen Zorn bald lassen, zumal wenn Dir dazu noch einfällt, dass er gezwungen war. Denn was kann er thun? Aber wenn es möglich wäre, befreie ihn von jenem Zwange!

24.

Warum genügt es Dir nicht, diese kurze Spanne Zeit mit Anstand hinter Dich zu bringen? Was für schwierige Dinge und Aufgaben sind es denn, denen Du aus dem Wege gehen möchtest? Aber was ist denn dies Alles anders als Exercitien für den Geist, dass er die Dinge des Lebens immer tiefer und wahrer erschauen lerne? Also verweile nur bei jeglichem Gegenstande so lange, bis Du ihn Dir völlig zu eigen gemacht hast, wie ein starker Magen sich Alles zu eigen macht, oder wie ein helles Feuer, was Du hineinwerfen magst, in Glanz und Flamme verwandelt.

25.

Ruhe nicht eher, als bis Du es so weit gebracht hast, dass ein der menschlichen Bestimmung entsprechendes Handeln in jedem einzelnen Falle Dir ganz dasselbe ist, was ein Leben in Herrlichkeit und Freude für die Genusssüchtigen. Denn eben als einen Genuss musst Du[133] es auffassen, wenn Dir vergönnt ist, Deiner Natur gemäss zu leben. Und dies ist Dir immer vergönnt. Nicht so den Dingen der unbeseelten Natur: der Walze ist es oft verwehrt sich in der ihr natürlichen Weise zu bewegen und ebenso dem Wasser und dem Feuer u.s.f. Denn hier sind mannichfache Hindernisse. Geist aber und Vernunftvermögen Kraft ihrer natürlichen Beschaffenheit und in Kraft ihres Willens alle Hindernisse zu überwinden. Drum gilt es Nichts so lebendig vor Augen zu haben, als diese Leichtigkeit, mit der die Vernunft sich durchzusetzen vermag, mit der sie sich, wie das Feuer nach Oben, der Stein nach Unten, der Cylinder um seine Achse, durch Alles hindurch bewegt. Was es auch für sie an Hindernissen giebt, das gehört entweder dem todten Leibe an, oder es kann sie, ohne Beihilfe des Gedankens und wenn sie nicht selbst die Erlaubniss dazu giebt, nicht verwunden, ihr überhaupt nichts Böses thun. Sonst müsste sie ja dadurch nothwendig schlechter werden, wie man dies bei anderen Schöpfungen sieht, dass, wenn ihnen etwas Uebles widerfährt, sie wirklich darunter leiden, d.h. dadurch schlechter werden. Beim Menschen aber muss man vielmehr sagen, wenn er den Hemmungen, auf die er stösst, richtig begegnet, wird er besser dadurch und preiswürdiger. –

26.

Für den, den wahre Philosophie erfüllt, ist die Erinnerung an jene Verse:

»Blätter verweht zur Erde der Wind nun, andere treibt dann
Wieder der knospende Wald, wenn neu auflebet der Frühling. –
So der Menschen Geschlecht.« –

hinreichend, um Traurigkeit und Furcht ihm zu verscheuchen. Blätter sind auch Deine Kindlein. Blätter Alles, was so laut schreit, um sich Glauben zu verschaffen, was so hohes Lob zu spenden oder so zu verfluchen oder nur so in's Geheim zu tadeln oder zu spotten liebt; Blätter auch, die Deinen Ruhm verkünden sollen. Denn um die Frühlingszeit keimt Alles hervor. Dann kommt der Herbstwind und wirft wieder Alles zu Boden, damit Anderes an seine Stelle trete. Das Momentane ist der Charakter aller Dinge. Du aber fliehst und verfolgst Alles, als sollte es ewig dauern.

27.

Ein gesundes Auge muss jeden Anblick ertragen können und darf nicht immer blos Grünes sehen wollen. Ein gesundes Ohr, eine gesunde Nase ist auf jeden Schall und jeden Geruch gefasst. Ein gesunder Magen verhält sich gegen jede Speise gleich, wie die Mühle eben Alles mahlt, was zu mahlen geht. Ebenso nun muss auch eine gesunde Seele auf jedes Schicksal gefasst sein. Die aber spricht: meine Kinder müssen am Leben bleiben, oder: die Leute müssen stets billigen, was ich thue, die gleicht dem Auge, welches das Grüne, oder den Zähnen, die nur Weiches haben wollen.

28.

Niemand ist so glücklich, dass nicht einst an seinem Sterbelager Einige stehen sollten, die diesen Fall willkommen heissen. Ist's auch ein trefflicher und weiser Mensch, so findet sich am Ende doch immer Jemand, der aufathmend von ihm sagt: nun werde ich von diesem Zuchtmeister erlöst; er war zwar Keinem von uns lästig, aber ich hatte immer das Gefühl als verdamme er uns stillschweigend Alle miteinander. Und das ist beim Tode eines Trefflichen! Wie Vieles mag unser Einer also an sich haben, um deswillen so Mancher wünscht, von uns befreit zu werden. Daran denke in Deiner Sterbestunde! Denke, Du sollst eine Welt verlassen, aus der Dich Deine Genossen, aus der Dich die, für welche Du so Vieles aufgestanden, so Viel gebetet und gesorgt hast, nun hinwegwünschen, indem sie aus Deinem Scheiden so manche Hoffnung schöpfen. Was könnte Dich also noch länger hier festhalten! Und doch darfst Du deshalb mit nicht geringerem Wohlwollen von ihnen scheiden, sondern musst um Deiner selbst willen ihnen Freund bleiben und freundlich, sanft von ihnen Abschied nehmen, ebenso sanft, wie sich die Seele dessen vom Körper trennt, dem ein seliges Sterben beschieden ist. Denn die Natur hatte Dich auch so mit Deinen Freunden verbunden. Und wenn sie Dich jetzt von ihnen ablöst, so geschieht dies eben als von Deinen Freunden, und nicht so, dass Du von ihnen fortgerissen würdest, sondern sanft von ihnen scheidest. Es ist dies wenigstens auch eine von den Forderungen der Natur.

29.

Bei Allem, was von Anderen geschieht, suche herauszubringen, welchen Zweck sie verfolgen. Aber fange damit bei Dir selbst an, erforsche zuerst immer Dich selbst!

30.

Das, was Dich bewegt, was Dich mit unsichtbaren Fäden hierhin und dorthin zieht, das ist in Deinem Innern. Hier schlummert das beredte Wort, hier wurzelt das Leben, hier ist der eigentliche Mensch. Nie schreibe diese Bedeutung dem Gefässe zu, das dieses Dein Inneres umgiebt, oder den Organen, die ihm angebildet sind. Ohne die sie bewegende Kraft sind sie nicht mehr, als ein Weberschiff ohne Weber, eine Feder ohne Schreiber, eine Peitsche ohne Wagenlenker.

Quelle:
Mark Aurel's Meditationen. Breslau 1875, S. 125-137.

 

 

Mark Aurel

(121 n. Chr.–180 n. Chr.)

Meditationen

Elftes Buch

1.


Wir betrachten noch einmal die Eigenthümlichkeit der vernünftigen Seele. Also: sie sieht sich selbst, sie setzt sich selbst auseinander, die Frucht, die sie hervorbringt, erntet sie auch selbst (nicht wie bei den Früchten, die die Pflanzen- oder Thiernatur hervorbringen, welche Andere ernten). Ferner, sie erreicht ihr Ziel, wann immer das Leben zu Ende sein mag; anders als bei den Tanzstücken, und bei jedem Schauspiel, wo die ganze Handlung zum blossen Stückwerk wird, wenn Etwas[137] dazwischen kommt. Denn sie führt, was sie sich vorgesetzt, vollständig und makellos zu Ende, an welchem Theile der Handlung und wo überhaupt sie auch betroffen werden mag, so dass sie sagen kann: »ich habe das Meinige beisammen.« Und dann nun, sie umfasst die ganze Welt sammt dem sie umgebenden Raume, und vermag sich ein Bild von ihr zu machen; sie dringt in die Unendlichkeit der Zeit, nimmt wahr die periodisch stattfindende Wiedergeburt aller Dinge, betrachtet sie und erkennt, dass die nach uns kommen nichts Anderes sehen werden, so wie auch unsere Vorfahren nichts Anderes sahen, sondern dass der, der etwa vierzig Jahre alt geworden, wofern er nur Geist hat, Alles was gewesen und was sein wird, gesehen hat. Endlich ist es der vernünftigen Seele auch eigen, den Nächsten zu lieben, wahr zu sein, Ehrfurcht zu haben und Nichts höher zu achten als sich selbst. Und in dem Allen stimmt sie mit den Forderungen des allgemeinen Weltgesetzes überein, so dass zwischen der gesunden Vernunft und dem Wesen der Gerechtigkeit kein Unterschied ist.

2.

Ein schöner Gesang, ein schöner Tanz, ein schönes Spiel ist nur so lange schön, so lange man das Ganze anschaut. Zerlegt man aber jenen in seine einzelnen Töne, diese in ihre einzelnen Bewegungen, und hält dieselben für sich fest, so verlieren sie ihren Reiz. Nur die Tugend und was von ihr ausgeht, ist und bleibt immer schön. Daher übe nur bei allem Andern jene Zergliederung, auch bei der Anschauung des Lebens.

Wenn ist die Seele wahrhaft bereit, sich von dem Leibe zu trennen und so entweder zu verlöschen oder zu zerstieben, oder mit ihm fortzudauern? Wenn diese Bereitheit aus dem eigenen Urtheil hervorgeht; wenn es nicht blos aus Hartnäckigkeit geschieht, wie bei den Christen, sondern mit Ueberlegung und Würde und ohne Declamation so dass auch Andere dem Eindrucke sich nicht entziehen können.

4.

Hast Du Etwas gethan zum Wohle Anderer? Dann hast Du auch Dein eigenes gefördert. Das kann man gar nicht oft genug sich selber sagen.

5.

Zuerst entstanden die Tragödien, die uns erinnern, dass Alles, was geschieht, gerade so geschehen müsse. Und dann wollen wir doch, was uns auf der Bühne ergötzt, uns nicht zum Anstoss gereichen lassen, wenn's auf der grösseren Bühne uns entgegentritt. Auf die Tragödie folgte die alte Komödie. Ihre Freimüthigkeit war pädagogisch. Wir wurden durch ihr offenherziges Wesen gemahnt, Prunk und Stolz hinauszuthun. Daher sogar ein Diogenes nicht selten aus ihr citirte. Dann kam die Komödie der mittleren Zeit und dann die neueste. Sie artete bald in ein künstliches Wesen der Nachahmung aus. Und wenn wir auch nicht verkennen, dass sie so manches Treffliche enthält, so frage ich doch: welchen Zweck denn eigentlich diese ganze dramatische Poesie verfolge?

6.

Wie weit bist Du in der Erkenntniss, dass keine andere Lebensweise zum Philosophiren so geeignet sei, als die, die Du jetzt gerade führst?

7.

Ein Zweig von seinem Nachbarzweige losgehauen, ist damit nothwendig zugleich auch vom ganzen Baume abgehauen. So auch der Mensch: hat er sich nur mit einem Einzigen zerspalten, so ist er von der ganzen menschlichen Gesellschaft abgefallen. Den Zweig nun haut ein Anderer ab, der Mensch aber trennt durch seinen Hass und seine Feindschaft sich selbst von seinem Nächsten, freilich, ohne es zu wissen, dass er sich damit auch vom Ganzen losgerissen. Doch ist es ein Geschenk des Gottes, der die menschliche Gesellschaft gründete, dass es uns frei steht, mit dem, woran wir früher hielten, wiederum zusammenzuwachsen und so zur Vollendung des Ganzen wieder beizutragen, nur dass, je öfter eine solche Lostrennung geschieht, die Einigung und Wiederherstellung desto schwieriger wird, und dass ein Zweig, der von Anfang an im Zusammenhange mit dem Stamme war und blieb, mit ihm verwachsen stets dasselbe ein- und aushauchend, doch ein ganz ander Ding ist, als der Zweig, der erst getrennt, dann wieder eingepfropft worden. Denn was auch die Gärtner sagen mögen: er wächst wohl an, doch nicht zu jener vollen Lebenseinheit.

8.

Wer Dich auch hindern möchte in der Befolgung rein vernünftiger Maximen - , wie es ihm nicht gelingen soll, Dich Deiner gesunden Praxis wirklich abwendig zu machen, so soll er noch viel weniger Deinem Herzen die freundliche Gesinnung gegen ihn entreissen. Verräth es doch dieselbe Schwäche, wenn man solchen Leuten gram wird, wie wenn man seinem Vorsatz untreu wird, sich niederschlagen lässt und vom Platze weicht. Den Deserteuren gleichen beide, der sowohl, der aus Furcht zurücktritt, wie der mit seinem natürlichen Freund und Bruder verfeindet ist.

 

9.

Kein Naturprodukt steht einem Erzeugnisse der Kunst nach, denn die Künste sind Nachahmer der Natur. Darum dürfte denn wohl dem vollkommensten und umfassendsten Naturwesen die künstlerische Geschicklichkeit nicht fehlen. Und wie die Künste das Geringere nur leisten um des Besseren willen – darin dem Universum selber ähnlich –: so auch der Mensch, wofern Gerechtigkeit entstehen soll, aus der dann weiter alle übrigen Tugenden sich entwickeln. Denn wollten wir uns nur mit sittlich indifferenten Dingen zu thun machen, wollten wir leichtgläubig, voreilig, wetterwendisch sein, so stände es schlecht um die Gerechtigkeit.

10.

Nicht kommen die Dinge, die Du mit Leidenschaft suchst oder fliehst, zu Dir, nicht sie drängen sich Dir auf, sondern Du drängst Dich ihnen auf. Kannst Du das Nachdenken über sie nur lassen, so bleiben sie auch ruhig wo sie sind, und man wird Dich alsdann nicht ihnen nachlaufen oder auf der Flucht vor ihnen sehen.

11.

Die Seele gleicht einer vollkommenen Kugel, insofern sie sich weder nach Etwas hin dehnt, noch nach Innen einläuft, weder zerstreut wird, noch zusammenschmilzt, und wird von einem Licht erleuchtet, bei dem sie die allgemeine Wahrheit und die eigene erkennen kann.

12.

Wenn ich bereit bin, einem Irrenden das Rechte zu zeigen, so soll ich das nicht etwa thun aus Begierde, ihn bloszustellen, auch nicht, um mit meiner Langmuth zu prahlen, sondern in Liebe und Aufrichtigkeit, wie die Geschichte von Phocion erzählt, wofern dieser Mann nicht etwa wieder mit seiner Aufrichtigkeit geprahlt hat. Es muss ein innerliches Thun sein, die Götter müssen einen Menschen sehen, der Nichts mit Aerger aufnimmt, niemals sich beklagt.

 

13.

Die einander verachten, das sind gerade die, die einander zu gefallen streben; und die sich unter einander[142] hervorthun wollen, gerade die, die sich vor einander bücken.

14.

Wie zweideutig und schmutzig ist Jeder, der zu einem Andern sagt: sprich, meine ich's nicht wirklich gut zu Dir? So Etwas zu sagen! Es muss von selber klar werden. Auf Deiner Stirn muss es geschrieben stehen: so ist's; aus den Augen muss es hervorleuchten, wie des Liebenden Blick die Liebe gleich verräth. Eine studirte Aufrichtigkeit ist wie ein Dolch. Nichts hässlicher als Wolfsfreundschaft.

 

15.

Wahrhaft gut zu leben – das ist eine Kraft und Fertigkeit der Seele; und sie wohnt ihr bei, wenn sie gegen das, was gleichgültig ist, sich wirklich auch gleichgültig verhält. Diese Gleichgültigkeit aber beruht wieder darauf, dass man die Dinge sich genau und von allen Seiten ansieht. Denn wir sind es selbst, die ihnen die uns ängstigende Bedeutung unterlegen und sie uns so ausmalen, während es doch in unserer Macht steht, sie nicht so auszumalen, oder wenn sich ein solches Bild einmal unvermerkt in unsere Seele geschlichen hat, es sofort wieder auszulöschen. Auch braucht es solcher Vorsicht ja nur kurze Zeit! das Leben geht zu Ende! –

16.

Das Wichtigste ist immer zu wissen, in welchem Verhältnisse ich zu Anderen stehe, nämlich, dass wir Alle, Einer um des Anderen willen da sind (wobei sich das Verhältniss näher auch so gestalten kann, dass Einer der Vorgesetzte der Andern ist, wie der Widder der Schaafheerde, der Stier der Rinderheerde). Dann, dass man die Menschen beobachtet, wie sie's daheim oder sonstwo zu treiben pflegen, und welche Grundsätze als treibende Kraft in ihnen liegen. Drittens, dass man bedenkt, dass Alle, die unvernünftig handeln, unfreiwillig und unwissend so handeln – und Schmerz genug für sie liegt schon darin, dass sie eben Ungerechte, Undankbare, Geizige oder mit einem Worte Uebelthäter heissen. Ferner, dass auch Du so manchen Fehler hast und von derselben Art bist wie sie; dass, wenn Du Dich von gewissen Vergnügungen fern gehalten hast – vielleicht war's Feigheit oder Ehrgeiz oder etwas dem Aehnliches, was Dich fern hielt – Du doch auch den Charakter hast, aus dem jene Vergehungen entspringen. Ferner, dass es gar nicht immer so fest steht, ob sie gefehlt haben, wenn es Dir auch so scheint. Denn Vieles geschieht aus einer weisen Berechnung der Umstände, die uns verborgen sein können. Man muss überhaupt erst so Manches gelernt haben, ehe man über die Handlungsweise eines Anderen richtig urtheilen kann. Dann denke man doch immer wieder an die Kürze des menschlichen Lebens, zumal wenn man so recht aufgelegt ist unwillig zu werden und aufzubrausen. Und weiter, dass es ja eben nicht jene Handlungen sind, die uns Beschwerde machen, sondern unsere Vorstellungen, die wir uns über sie machen. Schicke die heim, und Dein Zorn wird sich legen. Aber wie? Durch die Erwägung, dass, was Dir durch jene widerfährt, in Wahrheit nichts Schlechtes sei. Wäre es schlecht, dann wärst Du ja nothwendig selber dadurch schlecht geworden. – Und weiter, dass Zorn und Unwille über solche Dinge uns doch viel mehr beschweren, als die Dinge, über die Du Dich erzürnst. Und endlich, dass ein liebevolles Gemüth, wenn seine Liebe wirklich echt und ungeheuchelt ist, durch Nichts kann überwunden werden. Auch Dein allerärgster Feind kann Dir Nichts anhaben, wenn Du auf Deiner Liebe zu ihm beharrst, wenn Du bei Gelegenheit ihn ermahnst und gerade, wenn er im Begriff ist Dir wehzuthun, ihm freundlich zusprichst: nicht doch, Lieber, wir sind zu etwas Anderem geboren; mir schadest Du ja nicht, Du schadest Dir selber, Kind! wenn Du ihm so in sanfter Weise und Alles wohlerwogen zeigst, dass sich dies so verhalte, und dass nicht einmal die Thiere so verfahren, die in Heerden beisammen leben. Freilich muss dies ohne alle Ironie geschehen, nicht mit dem versteckten Wunsche ihn zu demüthigen, sondern aus reiner Liebe und ohne das Gefühl erlittener Kränkung, auch nicht im Schulmeisterton oder im Beisein eines Andern, sondern mit ihm allein, selbst wenn Andere gegenwärtig wären. – Diese neun Punkte also erwäge fleissig, lass sie Eingang bei Dir finden, als wären es eben so viele Gaben der Musen und fange einmal an ein Mensch zu sein, so lange Du noch lebst. Sanftmuth und Milde – das ist das echt Menschliche und Männliche; hierin liegt Kraft und Tapferkeit und Stärke, nicht im Zorn und in dem indignirten Wesen. Denn je näher Etwas an die völlige Leidenschaftslosigkeit grenzt, desto näher kommt es wirklicher Macht. Und wie die Traurigkeit ein Zeichen der Schwäche, so auch der Zorn. In beiden sind wir verwundete, geschlagene Leute. Aber freilich vor Kriecherei muss man sich ebenso sehr hüten, wie vor dem Zorn, da sie ebenso gegen das Princip der Gemeinschaft ist und ebenso verderblich wirkt. – Willst Du, so nimm vom Musagaten noch ein Zehntes: Wahnsinnig ist's zu fordern, dass schlechte Menschen nicht fehlen sollen, unbillig aber und willkürlich, zu verstatten, dass sie sich gegen Andere vergehen, nicht aber, dass sie Dich verwunden.

17.

Viererlei Verirrungen des Geistes giebt es, vor denen man sich stets in Acht zu nehmen hat, und denen man, sobald sie ausgespürt sind, ausbiegen muss, indem man sich bewusst wird: dies ist ein Gedanke, zu dem Dich Nichts zwingt; dies ist Etwas, wodurch die menschliche Gesellschaft aufgelöst wird; dies redest Du nicht von Dir selbst (und es giebt nichts Absurderes, als nicht aus sich selbst heraus zu sprechen). Endlich, eine Schmach ist es, die Du Dir selber zufügst, so oft das göttlichere Theil an Dir erniedrigt und herabgewürdigt ist von dem geringeren und sterblichen und dessen groben Lüsten.

18.

Alles Luftige und Feurige, was Deinem Organismus beigemischt ist, obwohl es von Natur nach Oben strebt, gehorcht es doch der Anordnung des Alls und bleibt hier ruhig in der gesammten Masse. Ebenso alles Erdige und Feuchte, das nach Unten strebt, wird doch fortwährend gehoben und behauptet den seiner Natur nicht zukommenden Ort. So gehorchen die Stoffe dem Universum, wenn sie gewaltsam irgendwohin gestellt sind, und verweilen hier, bis das Zeichen zu ihrer Auflösung gegeben ist. Ist es nun nicht schlimm, wenn die Vernunft allein nicht will gehorsam sein und die ihr zugewiesene Stelle mit Unwillen betrachtet? Und das, wiewohl ihr nirgend Zwang auferlegt wird, sondern nur was ihrer Natur entspricht? Denn jede ihrer Bewegungen nach dem Unrecht oder nach dem Sinnenreiz, nach dem Zorn, nach dem Schmerz und nach der Furcht ist nichts Anderes, als ein solches Fortstreben von dem ihr zugewiesenen Orte, als ein Abfall von der Natur.

19.

Wer nicht im Leben einen und denselben Zweck verfolgt, der ist auch eigentlich nicht ein und derselbe Mensch. Doch kommt es vor Allem darauf an, von welcher Art dieser Zweck ist. Es hängt dies genau mit dem Begriff der Güter zusammen, der schwankend und unbestimmt bleibt, so lange es sich darum handelt, was jedem Einzelnen gut ist, und der zur Klarheit und Bestimmtheit nur gebracht werden kann, wenn man das Ganze, die Gemeinschaft Aller in's Auge fasst. Und so muss auch der Zweck des Lebens eines Jeden sich nach dem Ganzen richten, ein mit dem Zwecke der Gemeinschaft, der man angehört, harmonirender sein. Wer nun alle seine besonderen Tendenzen diesem Zweck unterordnet und ihm gemäss gestaltet, der wird dadurch auch Consequenz in seine Handlungsweise bringen und so immer derselbe Mensch sein.

 

20.

Das menschliche Leben giebt mir oft Nichts weiter, als das Bild einer Haus- oder Feldmaus, die erschrocken hin und her läuft.

21.

Als Sokrates sich bei Perdikkas entschuldigte, warum er seine Einladung nicht angenommen habe, sagte er: damit ich nicht vor Schimpf und Schande zu vergehen brauchte als Einer, der Wohlthat empfängt, ohne sie mit Wohlthat vergelten zu gönnen.

22.

Die Pythagoräer sagen, man müsse früh zum Himmel aufblicken, damit wir derer gedenken, die immer Eines und dasselbe, und die ihr Werk stets auf dieselbe Weise treiben, damit wir ihrer Ordnung, ihrer Reinheit, ihres unverhüllten Wesens gedenken. Denn die Gestirne haben keine Hülle.

23.

»Der Sklavenseele ziemt es mitzusprechen nicht.«

24.

»Lass sie die Tugend schmähen, mit was für Worten sie wollen« –

» – Und es lachte das Herz mir im Busen.«

25.

Nach Epiktet soll Jeder, der sein Kind küsst, bei sich denken: morgen vielleicht ist es todt. Das klingt wie eine Lästerung. Aber, sagt er, kann das eine Lästerung genannt werden, womit ich etwas rein Natürliches bezeichne? wenn ich z.B. sage: die Aehren werden abgemäht?

 

26.

Einen Räuber des Willens giebt es nicht, sagt derselbe.

27.

Sokrates sagte: Was wollt Ihr? wollt Ihr Seelen vernünftiger oder unvernünftiger Wesen? Vernünftiger. Welcher Vernünftigen? Gesunder oder verderbter? Gesunder. Nun, warum sucht Ihr sie nicht auf? Suchen? weil wir sie haben! Also warum zankt und streitet Ihr Euch?

Quelle:
Mark Aurel's Meditationen. Breslau 1875, S. 137-149.

 

 

 

Mark Aurel

(121 n. Chr.–180 n. Chr.)

Meditationen

Zwölftes Buch

1.


Alles, was Du jetzt auf Umwegen zu erreichen wünschest, könntest Du schon besitzen, wenn Du nicht[149] missgünstig gegen Dich selber wärest. Es wäre Dein, sobald Du im Stande wärst, was hinter Dir liegt auf sich beruhen zu lassen, was vor Dir, der Vorsehung anheimzustellen, und nur das Gegenwärtige der Frömmigkeit und Gerechtigkeit gemäss zu gestalten; der Frömmigkeit, indem Du Dich Deines Schicksales freust, der Gerechtigkeit, indem Du freimüthig und ohne Umschweif die Wahrheit redest und thust, was das Gesetz und was der Werth jeder Sache erfordern, unbeirrt von Anderer Schlechtigkeit, von irgend welchen übelangebrachten Vorstellungen, von dem Gerede Anderer und von den Empfindungen Deiner fleischlichen Hülle. Denn wenn Du so Deinem Lebensende entgegengehst, alles Andere mit Gleichgültigkeit betrachtest, nur das Göttliche in Dir, den herrschenden Genius verehrend, und nicht sowohl das Aufhören des Lebens als vielmehr das Nicht-Beginnen eines naturgemässen Lebens fürchtest, dann darfst Du auch ein Mensch heissen, der würdig ist der Welt, die ihn hervorgebracht, und wirst aufhören ein Fremdling zu sein in Deinem Vaterlande.

2.

Als nackt und von dem Gefäss, der Schaale, dem Schmutz des Körpers entblösst sieht Gott die Seele an. Denn die eigentliche Berührung zwischen ihm und seinen Werken findet nur vermittelst seines Geistes statt. Thue es ihm nach und Du befreist Dich von so mancher Last und Sorge. Denn wer erst absehen gelernt hat von seinem Leibe, der ihm das Nächste ist, der achtet dann gewiss auch nicht mehr auf Kleidung, Häuslichkeit, Ansehen bei den Leuten und all' dergleichen Aeusserlichkeiten.

3.

Leib und Seele sind Dein nur soweit es Deine Pflicht ist für sie zu sorgen. Der Geist aber ist ganz eigentlich Dein. Doch nur, wenn Du ihn frei zu machen weisst von allen Einflüssen der Aussenwelt, des eigenen Leibes und der dem Leibe eingepflanzten Seele, so dass er ein Leben aus sich und für sich selber führt, vollbringend was die Gerechtigkeit gebietet, wollend was das Schicksal auferlegt und wahr in seinen Reden, nur dann kannst Du die noch übrige Zeit ruhig und heiter leben und wirst treu bleiben Deinem Genius.

4.

Ich wundere mich oft darüber, wie derselbe Mensch, der sich mehr liebt als alle Anderen, dennoch mehr Gewicht auf das Urtheil Anderer über ihn, als auf das eigene legen kann. Bedenkt man freilich, dass kein noch so bedeutender Lehrer, ja dass kein Gott es auch nur einen Tag lang von uns erreichen würde, gleich zu sagen, was wir denken, so wie wir den Gedanken nur gefasst, so ist's auch wiederum natürlich, dass wir eine weit grössere Scheu vor dem haben, was Andere von uns denken, als vor unserer eigenen Meinung.

 

5.

Wie mag es nur kommen, dass die Götter, die doch Alles so schön und menschenfreundlich eingerichtet haben, das Eine übersehen konnten, dass selbst die wenigen trefflichen Menschen, die mit dem Göttlichen aufs Innigste verkehrten und sich ihm durch fromme Werke und heiligen Dienst zu besonderen Freunden gemacht haben, wenn sie einmal todt sind, nicht wiederkommen, sondern ganz und gar verschwunden sind? Allein, wenn sich die Sache wirklich so verhält, so wisse, dass, wenn es anders hätte sein sollen, sie's auch anders gemacht hätten. Wäre es gut gewesen, hätte es auch gewiss geschehen können; wäre es natürlich, so würde es die Natur auch einrichten. Daraus also, dass es nicht so ist, wofern es nämlich nicht so ist, erkennst Du, dass es nicht so sein darf. Und – würdest Du denn überhaupt auf diese Weise mit den Göttern rechten, wenn nicht die stillschweigende Voraussetzung wäre, dass sie die besten und gerechtesten sind? Und daraus folgt ja schon von selbst, dass sie in ihren Anordnungen nicht ungerecht und gegen die Vernunft verfahren konnten.

 

6.

Auch daran kann man sich gewöhnen, was Einem Anfangs verzweifelt scheint. Die linke Hand, die zu so vielen Dingen unbrauchbar ist aus Mangel an Gewöhnung, ist doch z.B. zur Führung des Zügels weit geschickter, als die rechte. Weil sie's gewohnt ist.

7.

Bei der Anwendung unserer Grundsätze aufs Leben gilt es mehr dem Ringer, als dem Fechter ähnlich zu sein. Der nämlich ist verloren, sobald ihm das Schwert abhanden kommt. Jenem aber steht die Faust immer zu Gebote; er braucht sie eben nur zu ballen.

8.

Welche Gewalt hat doch der Mensch, der Nichts thut, als was Gott loben kann, und der Alles hinnimmt, was Gott ihm sendet!

 

9.

Ist Alles eine unabänderliche Notwendigkeit, wie kannst Du widerstreben? Giebt's aber eine Vorsehung, die sich versöhnen lässt, so mache Dich des göttlichen Beistandes würdig! Ist aber auch dieses nicht das Richtige, ist vielmehr Alles nur die principloseste Verwirrung, so sei Du froh, dass Du selbst doch mitten in diesem Wirrwarr an Deinem Geiste ein solches leitendes Princip besitzest. Wohin Dich nun auch jene Strömung treiben mag – mag sie den Leib, die Seele, Alles mit hinwegführen, den Geist wird sie nicht mit sich fortführen!

10.

Das Licht der Lampe scheint, bis man es auslöscht; nicht eher giebt es seinen Strahl ab. Soll denn die Wahrheit, die Gerechtigkeit und Besonnenheit in Dir eher verlöschen?

 

11.

Wenn Jemand Dir die Meinung beigebracht, er habe sich vergangen, weisst Du auch gewiss, ob es ein Vergehen ist? und wenn er sich wirklich vergangen hat, ist er selber auch der Meinung? Oder gliche er dann nicht einem Menschen, der sich selbst das Auge auskratzt?

12.

Was sich nicht ziemt, das thue auch nicht, und was nicht wahr ist, sage nicht. Dein Hauptbestreben sei jederzeit, das Ganze im Auge zu haben.

13.

Merkst Du endlich, dass etwas Besseres und Göttlicheres in Dir ist, als das, was die Leidenschaften hervorruft und was Dich bald hierhin, bald dorthin zieht?

 

14.

Binde Dich an keinen Ort, an Nichts von dem, was Du jetzt siehst, an Keinen derer, die jetzt leben. Denn das Alles ist wandelbar und wird vergehen, um Anderen Platz zu machen.

15.

Des Menschen Geist ist göttlichen Geschlechts und von Gott ausgeflossen, und Nichts ist irgend eines Menschen Eigenthum.

16.

Der Allerunerträglichste ist der, der sich mit seiner Demuth brüstet.

 

17.

Die Dich etwa fragen möchten, wo Du denn eigentlich die Götter gesehen, und woraus Du entnommen habest, dass sie sind, so dass Du sie verehren magst, denen gieb zur Antwort: Einmal, sie sind wirklich mit Augen zu sehen. Dann, auch meine Seele habe ich ja noch nie gesehen, und halte sie doch in Ehren. Daraus, dass ich ihre Macht immer gespürt, habe ich entnommen, dass die Götter sind, und darum verehre ich sie.

18.

Eine gute That der andern so anreihen, dass auch nicht der kleinste Zwischenraum bleibt, was heisst das anders, als das Leben geniessen?

 

19.

Ein Sonnenlicht, obwohl gebrochen durch Mauern, Berge, tausend Anderes. Ein gemeinsamer Stoff, obwohl hindurchgehend durch tausend eigenthümliche Bildungen. Ein Leben, obwohl vertheilt auf unzählige Wesen, deren jedes seine Besonderheit hat. Eine Vernunft, obwohl auch sie zertheilt erscheint. Alles Uebrige, die Welt der Objecte, der empfindungslosen, ist ohne Zusammenhang in sich, obgleich auch hier der Geist waltet und Alles in seine Wagschaale fällt, nur das Menschenherz hat seinen ihm eigenthümlichen Zug nach dem, was ihm verwandt ist, und lässt sich diesen Gemeinschafts-Trieb nicht nehmen.

20.

So hast Du denn Dein Bürgerrecht gehabt, o Mensch, in diesem grossen Reiche. Wie lange es gedauert, darauf kommt's nicht an. Was den Gesetzen gemäss ist, ist auch Jedem billig. Was also wäre Schlimmes daran, wenn Du entlassen wirst? entlassen ja nicht von einem Despoten oder ungerechten Richter, sondern von der Natur, derselben, die Dich eingeführt. So darf ja wohl der Intendant, der einen Schauspieler angestellt, ihm wieder kündigen. Aber, sagst Du, von fünf Akten sind ja erst drei abgespielt! Sehr gut. Doch sind im Leben auch drei Akte das ganze Stück. Der ehemals die Stoffe zusammenfügte und der jetzt sie wieder löst, der hat das Ende zu bestimmen. Du bist unschuldig an Beidem. So gehe denn versöhnt! Der Dich abspannt, ist's auch.

Quelle:
Mark Aurel's Meditationen. Breslau 1875.

ENDE

 

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