Der
Schimmelreiter.

Novelle
von
Theodor Storm.
[Abbildung]
Berlin.
Verlag von Gebrüder Paetel.
1888.

Meinem Sohn
Ernst Storm,
Rechtsanwalt und Notar
in Husum

zugeeignet.

Für binnenländische Leser.
Schlick, der graue Thon des Meerbodens, der bei der Ebbe
bloßgelegt wird.
Marsch, dem Meere abgewonnenes Land, dessen Boden
der festgewordene Schlick, der Klei, bildet.
Geest, das höhere Land im Gegensatz zur Marsch.
Haf, das Meer.
Fenne, ein durch Gräben eingehegtes Stück Marschland.
Springfluthen, die ersten nach Voll- und Neumond ein-
tretenden Fluthen.
Werfte, zum Schutze gegen Wassergefahr aufgeworfener
Erdhügel in der Marsch, worauf die Gebäude, auch
wohl Dörfer liegen.
Hallig, kleine unbedeichte Insel.
Profil, das Bild des Deiches bei einem Quer- oder
Längenschnitt.
Dossirung (oder Böschung), die Abfall-Linie des Deiches.
Interessenten, die wegen Landbesitz bei den Deichen
interessirt sind.
Bestickung, Belegung und Besteckung mit Stroh bei
frischen Deichstrecken.
Vorland, der Theil des Festlandes vor den Deichen.
Koog, ein durch Eindeichung dem Meere abgewonnener
Landbezirk.
Priehl, Wasserlauf in den Watten und Außendeichen.
Watten, von der Fluth bespülte Schlick- und Sandstrecken
an der Nordsee.
Demath, ein Landmaaß in der Marsch.
Pesel, ein für außerordentliche Gelegenheiten bestimmtes
Gemach, in den Marschen gewöhnlich neben der Wohn-
stube.
Lahnungen, Zäune von Buschwerk, die zur besseren An-
schlickung vom Strande in die Watten hinausgesteckt
werden.

Was ich zu berichten beabsichtige, ist mir vor
reichlich einem halben Jahrhundert im Hause meiner
Urgroßmutter, der alten Frau Senator Feddersen,
kund geworden, während ich, an ihrem Lehnstuhl
sitzend, mich mit dem Lesen eines in blaue Pappe
eingebundenen Zeitschriftenheftes beschäftigte; ich
vermag mich nicht mehr zu entsinnen, ob von den
„Leipziger” oder von „Pappes Hamburger Lese-
früchten”. Noch fühl' ich es gleich einem Schauer,
wie dabei die linde Hand der über Achtzigjährigen
mitunter liebkosend über das Haupthaar ihres Ur-
enkels hinglitt. Sie selbst und jene Zeit sind längst
begraben; vergebens auch habe ich seitdem jenen
Blättern nachgeforscht, und ich kann daher um so
weniger weder die Wahrheit der Thatsachen ver-
bürgen, als, wenn Jemand sie bestreiten wollte,
dafür aufstehen; nur so viel kann ich versichern,
daß ich sie seit jener Zeit, obgleich sie durch keinen

Theodor Storm, Der Schimmelreiter. 1

äußeren Anlaß in mir aufs Neue belebt wurden,
niemals aus dem Gedächtniß verloren habe.


Es war im dritten Jahrzehnt unseres Jahr-
hunderts, an einem October-Nachmittag — so
begann der damalige Erzähler — als ich bei starkem
Unwetter auf einem nordfriesischen Deich entlang
ritt. Zur Linken hatte ich jetzt schon seit über
einer Stunde die öde, bereits von allem Vieh ge-
leerte Marsch, zur Rechten, und zwar in unbe-
haglichster Nähe, das Wattenmeer der Nordsee;
zwar sollte man vom Deiche aus auf Halligen und
Inseln sehen können; aber ich sah nichts als die
gelbgrauen Wellen, die unaufhörlich wie mit Wuth-
gebrüll an den Deich hinaufschlugen und mitunter
mich und das Pferd mit schmutzigem Schaum be-
spritzten; dahinter wüste Dämmerung, die Himmel
und Erde nicht unterscheiden ließ; denn auch der
halbe Mond, der jetzt in der Höhe stand, war
meist von treibendem Wolkendunkel überzogen. Es
war eiskalt; meine verklommenen Hände konnten
kaum den Zügel halten, und ich verdachte es nicht
den Krähen und Möven, die sich fortwährend
krächzend und gackernd vom Sturm ins Land

hinein treiben ließen. Die Nachtdämmerung hatte
begonnen, und schon konnte ich nicht mehr mit
Sicherheit die Hufen meines Pferdes erkennen;
keine Menschenseele war mir begegnet, ich hörte
nichts als das Geschrei der Vögel, wenn sie mich
oder meine treue Stute fast mit den langen Flügeln
streiften, und das Toben von Wind und Wasser.
Ich leugne nicht, ich wünschte mich mitunter in
sicheres Quartier.

Das Wetter dauerte jetzt in den dritten Tag,
und ich hatte mich schon über Gebühr von einem
mir besonders lieben Verwandten auf seinem Hofe
halten lassen, den er in einer der nördlicheren
Harden besaß. Heute aber ging es nicht länger;
ich hatte Geschäfte in der Stadt, die auch jetzt
wohl noch ein paar Stunden weit nach Süden
vor mir lag, und trotz aller Ueberredungskünste
des Vetters und seiner lieben Frau, trotz der
schönen selbstgezogenen Perinette- und Grand-
Richard-Aepfel, die noch zu probiren waren, am
Nachmittag war ich davongeritten. „Wart' nur,
bis Du ans Meer kommst,” hatte er noch aus
seiner Hausthür mir nachgerufen; „Du kehrst noch
wieder um; Dein Zimmer wird Dir vorbehalten!”

1*

Und wirklich, einen Augenblick, als eine schwarze
Wolkenschicht es pechfinster um mich machte, und
gleichzeitig die heulenden Böen mich sammt meiner
Stute vom Deich herabzudrängen suchten, fuhr es
mir wohl durch den Kopf: „Sei kein Narr! Kehr'
um und setz' Dich zu Deinen Freunden ins warme
Nest.” Dann aber fiel's mir ein, der Weg zurück
war wohl noch länger als der nach meinem Reise-
ziel; und so trabte ich weiter, den Kragen meines
Mantels um die Ohren ziehend.

Jetzt aber kam auf dem Deiche etwas gegen
mich heran; ich hörte nichts; aber immer deutlicher,
wenn der halbe Mond ein karges Licht herabließ,
glaubte ich eine dunkle Gestalt zu erkennen, und
bald, da sie näher kam, sah ich es, sie saß auf
einem Pferde, einem hochbeinigen hageren Schimmel;
ein dunkler Mantel flatterte um ihre Schultern,
und im Vorbeifliegen sahen mich zwei brennende
Augen aus einem bleichen Antlitz an.

Wer war das? Was wollte der? — Und jetzt
fiel mir bei, ich hatte keinen Hufschlag, kein Keuchen
des Pferdes vernommen; und Roß und Reiter waren
doch hart an mir vorbeigefahren!

In Gedanken darüber ritt ich weiter; aber

ich hatte nicht lange Zeit zum Denken; schon fuhr
es von rückwärts wieder an mir vorbei; mir war,
als streifte mich der fliegende Mantel, und die
Erscheinung war, wie das erste Mal, lautlos an
mir vorüber gestoben. Dann sah ich sie fern und
ferner vor mir; dann war's, als säh' ich plötzlich
ihren Schatten an der Binnenseite des Deiches
hinuntergehen.

Etwas zögernd ritt ich hinterdrein. Als ich
jene Stelle erreicht hatte, sah ich hart am Deich
im Kooge unten das Wasser einer großen Wehle
blinken — so nennen sie dort die Brüche, welche
von den Sturmfluthen in das Land gerissen werden,
und die dann meist als kleine, aber tiefgründige
Teiche stehen bleiben.

Das Wasser war, trotz des schützenden Deiches,
auffallend bewegt; der Reiter konnte es nicht
getrübt haben; ich sah nichts weiter von ihm.
Aber ein Anderes sah ich, das ich mit Freuden
jetzt begrüßte: vor mir, von unten aus dem Kooge,
schimmerten eine Menge zerstreuter Lichtscheine zu
mir herauf; sie schienen aus jenen langgestreckten
friesischen Häusern zu kommen, die vereinzelt auf
mehr oder minder hohen Werften lagen; dicht vor

mir aber auf halber Höhe des Binnendeiches lag
ein großes Haus derselben Art; an der Südseite,
rechts von der Hausthür, sah ich alle Fenster er-
leuchtet; dahinter gewahrte ich Menschen und
glaubte trotz des Sturmes sie zu hören. Mein
Pferd war schon von selbst auf den Weg am Deich
hinabgeschritten, der mich vor die Thür des Hauses
führte. Ich sah wohl, daß es ein Wirthshaus war;
denn vor den Fenstern gewahrte ich die sogenannten
„Ricks”, das heißt auf zwei Ständern ruhende
Balken mit großen eisernen Ringen, zum Anbinden
des Viehes und der Pferde, die hier Halt machten.

Ich band das meine an einen derselben und
überwies es dann dem Knechte, der mir beim Ein-
tritt in den Flur entgegenkam. „Ist hier Ver-
sammlung?” frug ich ihn, da mir jetzt deutlich
ein Geräusch von Menschenstimmen und Gläser-
klirren aus der Stubenthür entgegendrang.

„Is wull so wat,” entgegnete der Knecht auf
Plattdeutsch — und ich erfuhr nachher, daß dieses
neben dem Friesischen hier schon seit über hundert
Jahren im Schwange gewesen sei — „Diekgraf un
Gevollmächtigten un wecke von de annern In-
tressenten! Dat is um't hoge Wåter!”

Als ich eintrat, sah ich etwa ein Dutzend
Männer an einem Tische sitzen, der unter den
Fenstern entlang lief; eine Punschbowle stand dar-
auf, und ein besonders stattlicher Mann schien
die Herrschaft über sie zu führen.

Ich grüßte und bat, mich zu ihnen setzen zu
dürfen, was bereitwillig gestattet wurde. „Sie
halten hier die Wacht!” sagte ich, mich zu jenem
Manne wendend; „es ist bös Wetter draußen; die
Deiche werden ihre Noth haben!”

„Gewiß,” erwiderte er; „wir, hier an der Ost-
seite, aber glauben jetzt außer Gefahr zu sein; nur
drüben an der anderen Seite ist's nicht sicher; die
Deiche sind dort meist noch mehr nach altem
Muster; unser Hauptdeich ist schon im vorigen
Jahrhundert umgelegt. — Uns ist vorhin da
draußen kalt geworden, und Ihnen,” setzte er hin-
zu, „wird es ebenso gegangen sein; aber wir
müssen hier noch ein paar Stunden aushalten;
wir haben sichere Leute draußen, die uns Bericht
erstatten.” Und ehe ich meine Bestellung bei dem
Wirthe machen konnte, war schon ein dampfendes
Glas mir hingeschoben.

Ich erfuhr bald, daß mein freundlicher Nachbar

der Deichgraf sei; wir waren ins Gespräch ge-
kommen, und ich hatte begonnen, ihm meine seltsame
Begegnung auf dem Deiche zu erzählen. Er wurde
aufmerksam, und ich bemerkte plötzlich, daß alles
Gespräch umher verstummt war. „Der Schimmel-
reiter!” rief einer aus der Gesellschaft, und eine
Bewegung des Erschreckens ging durch die Uebrigen.

Der Deichgraf war aufgestanden. „Ihr braucht
nicht zu erschrecken,” sprach er über den Tisch hin;
„das ist nicht bloß für uns; anno 17 hat es auch
Denen drüben gegolten; mögen sie auf Alles vor-
gefaßt sein!”

Mich wollte nachträglich ein Grauen über-
laufen: „Verzeiht!” sprach ich, „was ist das mit
dem Schimmelreiter?”

Abseits hinter dem Ofen, ein wenig gebückt,
saß ein kleiner hagerer Mann in einem abgeschabten
schwarzen Röcklein; die eine Schulter schien ein
wenig ausgewachsen. Er hatte mit keinem Worte
an der Unterhaltung der Anderen theilgenommen;
aber seine bei dem spärlichen grauen Haupthaar
noch immer mit dunklen Wimpern besäumten
Augen zeigten deutlich, daß er nicht zum Schlaf
hier sitze.

Gegen diesen streckte der Deichgraf seine Hand:
„Unser Schulmeister,” sagte er mit erhobener
Stimme, „wird von uns hier Ihnen das am besten
erzählen können; freilich nur in seiner Weise und
nicht so richtig, wie zu Haus meine alte Wirth-
schafterin Antje Vollmers es beschaffen würde.”

„Ihr scherzet, Deichgraf!” kam die etwas
kränkliche Stimme des Schulmeisters hinter dem
Ofen hervor, „daß Ihr mir Euern dummen Drachen
wollt zur Seite stellen!”

„Ja, ja, Schulmeister!” erwiderte der Andere;
„aber bei den Drachen sollen derlei Geschichten am
besten in Verwahrung sein!”

„Freilich!” sagte der kleine Herr; „wir sind
hierin nicht ganz derselben Meinung;” und ein
überlegenes Lächeln glitt über das feine Gesicht.

„Sie sehen wohl,” raunte der Deichgraf mir
ins Ohr; „er ist immer noch ein wenig hochmüthig;
er hat in seiner Jugend einmal Theologie studirt
und ist nur einer verfehlten Brautschaft wegen
hier in seiner Heimath als Schulmeister behangen
geblieben.”

Dieser war inzwischen aus seiner Ofenecke
hervorgekommen und hatte sich neben mir an den

langen Tisch gesetzt. „Erzählt, erzählt nur, Schul-
meister,” riefen ein paar der Jüngeren aus der
Gesellschaft.

„Nun freilich,” sagte der Alte, sich zu mir
wendend, „will ich gern zu Willen sein; aber es
ist viel Aberglaube dazwischen, und eine Kunst,
es ohne diesen zu erzählen.”

„Ich muß Euch bitten, den nicht auszulassen,”
erwiderte ich; „traut mir nur zu, daß ich schon
selbst die Spreu vom Weizen sondern werde!”

Der Alte sah mich mit verständnißvollem
Lächeln an: „Nun also!” sagte er. „In der Mitte
des vorigen Jahrhunderts, oder vielmehr, um
genauer zu bestimmen, vor und nach derselben, gab
es hier einen Deichgrafen, der von Deich- und
Sielsachen mehr verstand, als Bauern und Hof-
besitzer sonst zu verstehen pflegen; aber es reichte
doch wohl kaum; denn was die studirten Fachleute
darüber niedergeschrieben, davon hatte er wenig
gelesen; sein Wissen hatte er sich, wenn auch von
Kindesbeinen an, nur selber ausgesonnen. Ihr
hörtet wohl schon, Herr, die Friesen rechnen gut,
und habet auch wohl schon über unseren Hans
Mommsen von Fahretoft reden hören, der ein Bauer

war und doch Boussolen und Seeuhren, Teleskopen
und Orgeln machen konnte. Nun, ein Stück von
solch' einem Manne war auch der Vater des nach-
herigen Deichgrafen gewesen; freilich wohl nur ein
kleines. Er hatte ein paar Fennen, wo er Rapps
und Bohnen baute, auch eine Kuh gras'te, ging
unterweilen im Herbst und Frühjahr auch aufs
Landmessen und saß im Winter, wenn der Nord-
west von draußen kam und an seinen Läden
rüttelte, zu ritzen und zu prickeln, in seiner Stube.
Der Junge saß meist dabei und sah über seine
Fibel oder Bibel weg dem Vater zu, wie er maß
und berechnete, und grub sich mit der Hand in
seinen blonden Haaren. Und eines Abends frug
er den Alten, warum denn das, was er eben
hingeschrieben hatte, gerade so sein müsse und nicht
anders sein könne, und stellte dann eine eigene
Meinung darüber auf. Aber der Vater, der dar-
auf nicht zu antworten wußte, schüttelte den Kopf
und sprach: „Das kann ich Dir nicht sagen;
genug, es ist so, und Du selber irrst Dich. Willst
Du mehr wissen, so suche morgen aus der Kiste, die
auf unserem Boden steht, ein Buch; einer, der Euklid
hieß, hat's geschrieben; das wird's Dir sagen!”

— — Der Junge war Tags darauf zum
Boden gelaufen und hatte auch bald das Buch
gefunden; denn viele Bücher gab es überhaupt
nicht in dem Hause; aber der Vater lachte, als
er es vor ihm auf den Tisch legte. Es war ein
holländischer Euklid, und Holländisch, wenngleich es
doch halb Deutsch war, verstanden alle Beide nicht.
„Ja, ja,” sagte er, „das Buch ist noch von meinem
Vater, der verstand es; ist denn kein deutscher da?”

Der Junge, der von wenig Worten war, sah
den Vater ruhig an und sagte nur: „Darf ich's
behalten? Ein deutscher ist nicht da.”

Und als der Alte nickte, wies er noch ein
zweites, halbzerrissenes Büchlein vor. „Auch das?”
frug er wieder.

„Nimm sie alle Beide!” sagte Tede Haien;
„sie werden Dir nicht viel nützen.”

Aber das zweite Buch war eine kleine
holländische Grammatik, und da der Winter noch
lange nicht vorüber war, so hatte es, als endlich
die Stachelbeeren in ihrem Garten wieder blühten,
dem Jungen schon so weit geholfen, daß er den
Euklid, welcher damals stark im Schwange war,
fast überall verstand.

Es ist mir nicht unbekannt, Herr,” unterbrach
sich der Erzähler, „daß dieser Umstand auch von
Hans Mommsen erzählt wird; aber vor dessen
Geburt ist hier bei uns schon die Sache von Hauke
Haien — so hieß der Knabe — berichtet worden.
Ihr wisset auch wohl, es braucht nur einmal ein
Größerer zu kommen, so wird ihm Alles aufgeladen,
was in Ernst oder Schimpf seine Vorgänger einst
mögen verübt haben.

Als der Alte sah, daß der Junge weder für
Kühe noch Schafe Sinn hatte, und kaum gewahrte,
wenn die Bohnen blühten, was doch die Freude
von jedem Marschmann ist, und weiterhin bedachte,
daß die kleine Stelle wohl mit einem Bauer und
einem Jungen, aber nicht mit einem Halbgelehrten
und einem Knecht bestehen könne, ingleichen, daß
er auch selber nicht auf einen grünen Zweig ge-
kommen sei, so schickte er seinen großen Jungen
an den Deich, wo er mit andern Arbeitern von
Ostern bis Martini Erde karren mußte. „Das
wird ihn vom Euklid curiren,” sprach er bei
sich selber.

Und der Junge karrte; aber den Euklid hatte
er allzeit in der Tasche, und wenn die Arbeiter

ihr Frühstück oder Vesper aßen, saß er auf seinem
umgestülpten Schubkarren mit dem Buche in der
Hand. Und wenn im Herbst die Fluthen höher
stiegen und manch ein Mal die Arbeit eingestellt
werden mußte, dann ging er nicht mit den Andern
nach Haus, sondern blieb, die Hände über die
Kniee gefaltet, an der abfallenden Seeseite des
Deiches sitzen und sah stundenlang zu, wie die
trüben Nordseewellen immer höher an die Gras-
narbe des Deiches hinaufschlugen; erst wenn ihm
die Füße überspült waren, und der Schaum ihm
ins Gesicht spritzte, rückte er ein paar Fuß höher
und blieb dann wieder sitzen. Er hörte weder das
Klatschen des Wassers noch das Geschrei der Möven
und Strandvögel, die um oder über ihm flogen und
ihn fast mit ihren Flügeln streiften, mit den
schwarzen Augen in die seinen blitzend; er sah
auch nicht, wie vor ihm über die weite, wilde
Wasserwüste sich die Nacht ausbreitete; was er
allein hier sah, war der brandende Saum des
Wassers, der, als die Fluth stand, mit hartem
Schlage immer wieder dieselbe Stelle traf und vor
seinen Augen die Grasnarbe des steilen Deiches
auswusch.

Nach langem Hinstarren nickte er wohl lang-
sam mit dem Kopfe oder zeichnete, ohne aufzusehen,
mit der Hand eine weiche Linie in die Luft, als
ob er dem Deiche damit einen sanfteren Abfall
geben wollte. Wurde es so dunkel, daß alle Erden-
dinge vor seinen Augen verschwanden und nur
die Fluth ihm in die Ohren donnerte, dann stand
er auf und trabte halbdurchnäßt nach Hause.

Als er so eines Abends zu seinem Vater in
die Stube trat, der an seinen Meßgeräthen putzte,
fuhr dieser auf: „Was treibst Du draußen? Du
hättest ja versaufen können; die Wasser beißen heute
in den Deich.”

Hauke sah ihn trotzig an.

— „Hörst Du mich nicht? Ich sag', Du
hätt'st versaufen können.”

„Ja,” sagte Hauke; „ich bin doch nicht
versoffen!”

„Nein,” erwiderte nach einer Weile der Alte
und sah ihm wie abwesend ins Gesicht, — „dies-
mal noch nicht.”

„Aber,” sagte Hauke wieder; „unsere Deiche
sind nichts werth!”

— „Was für was, Junge?”

„Die Deiche, sag' ich!”

— „Was sind die Deiche?”

„Sie taugen nichts, Vater!” erwiderte Hauke.

Der Alte lachte ihm ins Gesicht. „Was denn,
Junge? Du bist wohl das Wunderkind aus Lübeck!”

Aber der Junge ließ sich nicht irren. „Die
Wasserseite ist zu steil,” sagte er; „wenn es ein-
mal kommt, wie es mehr als einmal schon ge-
kommen ist, so können wir hier auch hinterm
Deich ersaufen!”

Der Alte holte seinen Kautabak aus der
Tasche, drehte einen Schrot ab und schob ihn
hinter die Zähne. „Und wieviel Karren hast Du
heut' geschoben?” frug er ärgerlich; denn er sah
wohl, daß auch die Deicharbeit bei dem Jungen
die Denkarbeit nicht hatte vertreiben können.

„Weiß nicht, Vater,” sagte dieser; „so, was
die Anderen machten; vielleicht ein halbes Dutzend
mehr; aber — die Deiche müssen anders werden!”

„Nun,” meinte der Alte und stieß ein Lachen
aus; „Du kannst es ja vielleicht zum Deichgraf
bringen; dann mach' sie anders!”

„Ja, Vater!” erwiderte der Junge.

Der Alte sah ihn an und schluckte ein paar

Mal; dann ging er aus der Thür; er wußte nicht,
was er dem Jungen antworten sollte.


Auch als zu Ende Octobers die Deicharbeit
vorbei war, blieb der Gang nordwärts nach dem
Haf hinaus für Hauke Haien die beste Unter-
haltung; den Allerheiligentag, um den herum die
Aequinoctialstürme zu tosen pflegen, von dem wir
sagen, daß Friesland ihn wohl beklagen mag, er-
wartete er, wie heut' die Kinder das Christfest.
Stand eine Springfluth bevor, so konnte man
sicher sein, er lag trotz Sturm und Wetter weit
draußen am Deiche mutterseelenallein; und wenn
die Möven gackerten, wenn die Wasser gegen den
Deich tobten und beim Zurückrollen ganze Fetzen
von der Grasdecke mit ins Meer hinabrissen, dann
hätte man Hauke's zorniges Lachen hören können.
„Ihr könnt nichts Rechtes,” schrie er in den Lärm
hinaus, „sowie die Menschen auch nichts können!”
Und endlich, oft im Finstern, trabte er aus der
weiten Oede den Deich entlang nach Hause, bis
seine aufgeschossene Gestalt die niedrige Thür unter
seines Vaters Rohrdach erreicht hatte und darunter
durch in das kleine Zimmer schlüpfte.

Theodor Storm, Der Schimmelreiter. 2

Manchmal hatte er eine Faust voll Kleierde
mitgebracht; dann setzte er sich neben den Alten,
der ihn jetzt gewähren ließ, und knetete bei dem
Schein der dünnen Unschlittkerze allerlei Deich-
modelle, legte sie in ein flaches Gefäß mit Wasser
und suchte darin die Ausspülung der Wellen nach-
zumachen, oder er nahm seine Schiefertafel und
zeichnete darauf das Profil der Deiche nach der
Seeseite, wie es nach seiner Meinung sein mußte.

Mit denen zu verkehren, die mit ihm auf der
Schulbank gesessen hatten, fiel ihm nicht ein; auch
schien es, als ob ihnen an dem Träumer nichts
gelegen sei. Als es wieder Winter geworden und
der Frost hereingebrochen war, wanderte er noch
weiter, wohin er früher nie gekommen, auf den
Deich hinaus, bis die unabsehbare eisbedeckte Fläche
der Watten vor ihm lag.

Im Februar bei dauerndem Frostwetter wurden
angetriebene Leichen aufgefunden; draußen am offenen
Haf auf den gefrorenen Watten hatten sie gelegen.
Ein junges Weib, die dabei gewesen war, als man
sie in das Dorf geholt hatte, stand redselig vor
dem alten Haien: „Glaubt nicht, daß sie wie
Menschen aussahen,” rief sie; „nein, wie die See-

teufel! So große Köpfe,” und sie hielt die aus-
gespreizten Hände von Weitem gegen einander,
„gnidderschwarz und blank, wie frisch gebacken
Brot! Und die Krabben hatten sie angeknabbert;
die Kinder schrieen laut, als sie sie sahen!”

Dem alten Haien war so was just nichts
Neues: „Sie haben wohl seit November schon in
See getrieben!” sagte er gleichmüthig.

Hauke stand schweigend daneben; aber sobald
er konnte, schlich er sich auf den Deich hinaus; es
war nicht zu sagen, wollte er noch nach weiteren
Todten suchen, oder zog ihn nur das Grauen, das
noch auf den jetzt verlassenen Stellen brüten mußte.
Er lief weiter und weiter, bis er einsam in der
Oede stand, wo nur die Winde über den Deich
wehten, wo nichts war als die klagenden Stimmen
der großen Vögel, die rasch vorüberschossen; zu
seiner Linken die leere weite Marsch, zur andern
Seite der unabsehbare Strand mit seiner jetzt vom
Eise schimmernden Fläche der Watten; es war, als
liege die ganze Welt in weißem Tod.

Hauke blieb oben auf dem Deiche stehen, und
seine scharfen Augen schweiften weit umher; aber
von Todten war nichts mehr zu sehen; nur wo

2*

die unsichtbaren Wattströme sich darunter drängten,
hob und senkte die Eisfläche sich in stromartigen
Linien.

Er lief nach Hause; aber an einem der nächsten
Abende war er wiederum da draußen. Auf jenen
Stellen war jetzt das Eis gespalten; wie Rauch-
wolken stieg es aus den Rissen, und über das ganze
Watt spann sich ein Netz von Dampf und Nebel,
das sich seltsam mit der Dämmerung des Abends
mischte. Hauke sah mit starren Augen darauf
hin; denn in dem Nebel schritten dunkle Gestalten
auf und ab, sie schienen ihm so groß wie Menschen.
Würdevoll, aber mit seltsamen, erschreckenden Ge-
bärden; mit langen Nasen und Hälsen sah er sie
fern an den rauchenden Spalten auf und ab spazieren;
plötzlich begannen sie wie Narren unheimlich auf
und ab zu springen, die großen über die kleinen
und die kleinen gegen die großen; dann breiteten
sie sich aus und verloren alle Form.

„Was wollen die? Sind es die Geister der
Ertrunkenen?” dachte Hauke. „Hoiho!” schrie er
laut in die Nacht hinaus; aber die draußen kehrten
sich nicht an seinen Schrei, sondern trieben ihr
wunderliches Wesen fort.

Da kamen ihm die furchtbaren norwegischen
Seegespenster in den Sinn, von denen ein alter
Capitän ihm einst erzählt hatte, die statt des An-
gesichts einen stumpfen Pull von Seegras auf dem
Nacken tragen; aber er lief nicht fort, sondern
bohrte die Hacken seiner Stiefel fest in den Klei
des Deiches und sah starr dem possenhaften Un-
wesen zu, das in der einfallenden Dämmerung vor
seinen Augen fortspielte. „Seid Ihr auch hier bei
uns?” sprach er mit harter Stimme: „Ihr sollt
mich nicht vertreiben!”

Erst als die Finsterniß Alles bedeckte, schritt
er steifen langsamen Schrittes heimwärts. Aber
hinter ihm drein kam es wie Flügelrauschen und
hallendes Geschrei. Er sah nicht um; aber er ging
auch nicht schneller und kam erst spät nach Hause;
doch niemals soll er seinem Vater oder einem Anderen
davon erzählt haben. Erst viele Jahre später hat
er sein blödes Mädchen, womit später der Herrgott
ihn belastete, um dieselbe Tages- und Jahreszeit
mit sich auf den Deich hinausgenommen, und
dasselbe Wesen soll sich derzeit draußen auf den
Watten gezeigt haben; aber er hat ihr gesagt, sie
solle sich nicht fürchten, das seien nur die Fischreiher

und die Krähen, die im Nebel so groß und fürchterlich
erschienen; die holten sich die Fische aus den offenen
Spalten.

Weiß Gott, Herr!” unterbrach sich der
Schulmeister; „es gibt auf Erden allerlei Dinge,
die ein ehrlich Christenherz verwirren können;
aber der Hauke war weder ein Narr noch ein
Dummkopf.”

Da ich nichts erwiderte, wollte er fortfahren;
aber unter den übrigen Gästen, die bisher lautlos
zugehört hatten, nur mit dichterem Tabaksqualm
das niedrige Zimmer füllend, entstand eine plötzliche
Bewegung; erst Einzelne, dann fast Alle wandten
sich dem Fenster zu. Draußen — man sah es durch
die unverhangenen Fenster — trieb der Sturm
die Wolken, und Licht und Dunkel jagten durch-
einander; aber auch mir war es, als hätte ich
den hageren Reiter auf seinem Schimmel vorbei-
sausen gesehen.

„Wart Er ein wenig, Schulmeister!” sagte
der Deichgraf leise.

„Ihr braucht Euch nicht zu fürchten, Deich-
graf!” erwiderte der kleine Erzähler, „ich habe ihn
nicht geschmäht, und hab' auch dessen keine Ur-

sach';” und er sah mit seinen kleinen, klugen
Augen zu ihm auf.

„Ja, ja,” meinte der Andere; „laß' Er sein
Glas nur wieder füllen.” Und nachdem das ge-
schehen war, und die Zuhörer, meist mit etwas
verdutzten Gesichtern, sich wieder zu ihm gewandt
hatten, fuhr er in seiner Geschichte fort:

„So für sich, und am liebsten nur mit Wind
und Wasser und mit den Bildern der Einsamkeit
verkehrend, wuchs Hauke zu einem langen, hageren
Burschen auf. Er war schon über ein Jahr lang
eingesegnet, da wurde es auf einmal anders mit
ihm, und das kam von dem alten weißen Angora-
kater, welchen der alten Trien' Jans einst ihr später
verunglückter Sohn von seiner spanischen Seereise
mitgebracht hatte. Trien' wohnte ein gut Stück
hinaus auf dem Deiche in einer kleinen Kathe, und
wenn die Alte in ihrem Hause herumarbeitete, so
pflegte diese Unform von einem Kater vor der
Hausthür zu sitzen und in den Sommertag und
nach den vorüberfliegenden Kiebitzen hinauszu-
blinzeln. Ging Hauke vorbei, so mauzte der Kater
ihn an, und Hauke nickte ihm zu; die Beiden
wußten, was sie mit einander hatten.

Nun aber war's einmal im Frühjahr, und
Hauke lag nach seiner Gewohnheit oft draußen am
Deich, schon weiter unten dem Wasser zu, zwischen
Strandnelken und dem duftenden Seewermuth, und
ließ sich von der schon kräftigen Sonne bescheinen.
Er hatte sich Tags zuvor droben auf der Geest
die Taschen voll von Kieseln gesammelt, und als
in der Ebbezeit die Watten bloßgelegt waren und
die kleinen grauen Strandläufer schreiend darüber
hinhuschten, holte er jählings einen Stein hervor
und warf ihn nach den Vögeln. Er hatte das von
Kindesbeinen an geübt, und meistens blieb einer
auf dem Schlicke liegen; aber ebenso oft war er dort
auch nicht zu holen; Hauke hatte schon daran ge-
dacht, den Kater mitzunehmen und als apportirenden
Jagdhund zu dressiren. Aber es gab auch hier
und dort feste Stellen oder Sandlager; solchen-
falls lief er hinaus und holte sich seine Beute
selbst. Saß der Kater bei seiner Rückkehr noch
vor der Hausthür, dann schrie das Thier vor nicht
zu bergender Raubgier so lange, bis Hauke ihm
einen der erbeuteten Vögel zuwarf.

Als er heute, seine Jacke auf der Schulter,
heimging, trug er nur einen ihm noch unbekannten,

aber wie mit bunter Seide und Metall gefiederten
Vogel mit nach Hause, und der Kater mauzte wie
gewöhnlich, als er ihn kommen sah. Aber Hauke
wollte seine Beute — es mag ein Eisvogel gewesen
sein — diesmal nicht hergeben und kehrte sich nicht
an die Gier des Thieres. „Umschicht!” rief er
ihm zu, „heute mir, morgen Dir; das hier ist
kein Katerfressen!” Aber der Kater kam vorsichtigen
Schrittes herangeschlichen; Hauke stand und sah
ihn an, der Vogel hing an seiner Hand, und der
Kater blieb mit erhobener Tatze stehen. Doch der
Bursche schien seinen Katzenfreund noch nicht so
ganz zu kennen; denn während er ihm seinen
Rücken zugewandt hatte und eben fürbaß wollte,
fühlte er mit einem Ruck die Jagdbeute sich
entrissen, und zugleich schlug eine scharfe Kralle
ihm ins Fleisch. Ein Grimm, wie gleichfalls eines
Raubthiers, flog dem jungen Menschen ins Blut;
er griff wie rasend um sich und hatte den Räuber
schon am Genicke gepackt. Mit der Faust hielt er
das mächtige Thier empor und würgte es, daß
die Augen ihm aus den rauhen Haaren vorquollen,
nicht achtend, daß die starken Hintertatzen ihm
den Arm zerfleischten. „Hoiho!” schrie er und

packte ihn noch fester; „wollen sehen, wer's von uns
Beiden am längsten aushält!”

Plötzlich fielen die Hinterbeine der großen
Katze schlaff herunter, und Hauke ging ein paar
Schritte zurück und warf sie gegen die Kathe der
Alten. Da sie sich nicht rührte, wandte er sich
und setzte seinen Weg nach Hause fort.

Aber der Angorakater war das Kleinod seiner
Herrin; er war ihr Geselle und das Einzige, was
ihr Sohn, der Matrose, ihr nachgelassen hatte,
nachdem er hier an der Küste seinen jähen Tod
gefunden hatte, da er im Sturm seiner Mutter
beim Porrenfangen hatte helfen wollen. Hauke
mochte kaum hundert Schritte weiter gethan haben,
während er mit einem Tuch das Blut aus seinen
Wunden auffing, als schon von der Kathe her
ihm ein Geheul und Zetern in die Ohren gellte.
Da wandte er sich und sah davor das alte Weib
am Boden liegen; das greise Haar flog ihr im
Winde um das rothe Kopftuch: „Todt!” rief sie,
„todt!” und erhob dräuend ihren mageren Arm
gegen ihn: „Du sollst verflucht sein! Du hast
ihn todtgeschlagen, Du nichtsnutziger Strandläufer;
Du warst nicht werth, ihm seinen Schwanz zu

bürsten!” Sie warf sich über das Thier und
wischte zärtlich mit ihrer Schürze ihm das Blut
fort, das noch aus Nas' und Schnauze rann; dann
hob sie aufs Neue an zu zetern.

„Bist Du bald fertig?” rief Hauke ihr zu,
„dann laß Dir sagen: ich will Dir einen Kater
schaffen, der mit Maus- und Rattenblut zu-
frieden ist!”

Darauf ging er, scheinbar auf nichts mehr
achtend, fürbaß. Aber die todte Katze mußte ihm
doch im Kopfe Wirrsal machen; denn er ging, als
er zu den Häusern gekommen war, dem seines
Vaters und auch den übrigen vorbei und eine
weite Strecke noch nach Süden auf dem Deich der
Stadt zu.

Inmittelst wanderte auch Trien' Jans auf dem-
selben in der gleichen Richtung; sie trug in einem
alten blaucarrirten Kissenüberzug eine Last in
ihren Armen, die sie sorgsam, als wär's ein Kind,
umklammerte; ihr greises Haar flatterte in dem
leichten Frühlingswind. „Was schleppt Sie da,
Trina?” frug ein Bauer, der ihr entgegenkam.
„Mehr, als Dein Haus und Hof,” erwiderte die
Alte; dann ging sie eifrig weiter. Als sie dem

unten liegenden Hause des alten Haien nahe kam,
ging sie den Akt, wie man bei uns die Trift-
und Fußwege nennt, die schräg an der Seite des
Deiches hinab- oder hinaufführen, zu den Häusern
hinunter.

Der alte Tede Haien stand eben vor der Thür
und sah ins Wetter: „Na, Trien'!” sagte er, als
sie pustend vor ihm stand und ihren Krückstock
in die Erde bohrte, „was bringt Sie Neues in
Ihrem Sack?”

„Erst laß mich in die Stube, Tede Haien!
dann soll Er's sehen!” und ihre Augen sahen ihn
mit seltsamem Funkeln an!

„So komm' Sie!” sagte der Alte. Was gingen
ihn die Augen des dummen Weibes an.

Und als Beide eingetreten waren, fuhr sie fort:
„Bring' Er den alten Tabakskasten und das
Schreibzeug von dem Tisch — — Was hat er
denn immer zu schreiben? — — So; und nun
wisch' Er ihn sauber ab!”

Und der Alte, der fast neugierig wurde, that
Alles, was sie sagte; dann nahm sie den blauen
Ueberzug bei beiden Zipfeln und schüttete daraus
den großen Katerleichnam auf den Tisch. „Da

hat Er ihn!” rief sie; „Sein Hauke hat ihn todt-
geschlagen.” Hierauf aber begann sie ein bitterliches
Weinen; sie streichelte das dicke Fell des todten
Thieres, legte ihm die Tatzen zusammen, neigte
ihre lange Nase über dessen Kopf und raunte ihm
unverständliche Zärtlichkeiten in die Ohren.

Tede Haien sah dem zu. „So,” sagte er;
„Hauke hat ihn todtgeschlagen?” Er wußte nicht,
was er mit dem heulenden Weibe machen sollte.

Die Alte nickte ihn grimmig an: „Ja, ja;
so Gott, das hat er gethan!” und sie wischte sich
mit ihrer von Gicht verkrümmten Hand das Wasser
aus den Augen. „Kein Kind, kein Lebigs mehr!”
klagte sie. „Und er weiß es ja auch wohl, uns
Alten, wenn's nach Allerheiligen kommt, frieren
Abends im Bett die Beine, und statt zu schlafen,
hören wir den Nordwest an unseren Fensterläden
rappeln. Ich hör's nicht gern, Tede Haien, er
kommt daher, wo mein Junge mir im Schlick
versank.”

Tede Haien nickte, und die Alte streichelte das
Fell ihres todten Katers: „Der aber”, begann
sie wieder, „wenn ich Winters am Spinnrad saß,
dann saß er bei mir und spann auch und sah

mich an mit seinen grünen Augen! Und kroch ich,
wenn's mir kalt wurde, in mein Bett — es
dauerte nicht lang, so sprang er zu mir und legte
sich auf meine frierenden Beine, und wir schliefen
so warm mitsammen, als hätte ich noch meinen
jungen Schatz im Bett!” Die Alte, als suche sie
bei dieser Erinnerung nach Zustimmung, sah den
neben ihr am Tische stehenden Alten mit ihren
funkelnden Augen an.

Tede Haien aber sagte bedächtig: „Ich weiß
Ihr einen Rath, Trien' Jans,” und er ging nach
seiner Schatulle und nahm eine Silbermünze aus
der Schublade — „Sie sagt, daß Hauke Ihr das
Thier vom Leben gebracht hat, und ich weiß, Sie
lügt nicht; aber hier ist ein Kronthaler von Christian
dem Vierten; damit kauf' Sie sich ein gegerbtes
Lammfell für Ihre kalten Beine! Und wenn unsere
Katze nächstens Junge wirft, so mag Sie sich das
größte davon aussuchen; das zusammen thut wohl
einen altersschwachen Angorakater! Und nun nehm'
Sie das Vieh und bring' Sie es meinethalb an
den Racker in der Stadt, und halt' Sie das
Maul, daß es hier auf meinem ehrlichen Tisch
gelegen hat!”

Während dieser Rede hatte das Weib schon
nach dem Thaler gegriffen und ihn in einer kleinen
Tasche geborgen, die sie unter ihren Röcken trug;
dann stopfte sie den Kater wieder in das Bettbühr,
wischte mit ihrer Schürze die Blutflecken von dem
Tisch und stakte zur Thür hinaus. „Vergiß Er
mir nur den jungen Kater nicht!” rief sie noch
zurück.

— — Eine Weile später, als der alte Haien
in dem engen Stüblein auf- und abschritt, trat
Hauke herein und warf seinen bunten Vogel auf
den Tisch; als er aber auf der weiß gescheuerten
Platte den noch kennbaren Blutfleck sah, frug er,
wie beiläufig „Was ist denn das?”

Der Vater blieb stehen: „Das ist Blut, was
Du hast fließen machen!”

Dem Jungen schoß es doch heiß ins Gesicht:
„Ist denn Trien' Jans mit ihrem Kater hier
gewesen?”

Der Alte nickte: „Weshalb hast Du ihr den
todtgeschlagen?”

Hauke entblößte seinen blutigen Arm. „Des-
halb,” sagte er; „er hatte mir den Vogel fort-
gerissen!”

Der Alte sagte nichts hierauf; er begann eine
Zeitlang wieder auf- und abzugehen; dann blieb
er vor dem Jungen stehen und sah eine Weile
wie abwesend auf ihn hin. „Das mit dem Kater
hab' ich rein gemacht,” sagte er dann; „aber, siehst
Du, Hauke, die Kathe ist hier zu klein; zwei Herren
können darauf nicht sitzen — es ist nun Zeit,
Du mußt Dir einen Dienst besorgen!”

„Ja, Vater,” entgegnete Hauke; „hab' der-
gleichen auch gedacht.”

„Warum?” frug der Alte.

— „Ja, man wird grimmig in sich, wenn
man's nicht an einem ordentlichen Stück Arbeit
auslassen kann.”

„So?” sagte der Alte, „und darum hast Du
den Angorer todtgeschlagen? Das könnte leicht noch
schlimmer werden?”

— „Er mag wohl recht haben, Vater; aber
der Deichgraf hat seinen Kleinknecht fortgejagt;
das könnt' ich schon verrichten!”

Der Alte begann wieder auf- und abzugehen
und spritzte dabei die schwarze Tabaksjauche von
sich: „Der Deichgraf ist ein Dummkopf, dumm
wie 'ne Saatgans! Er ist nur Deichgraf, weil sein

Vater und Großvater es gewesen sind, und wegen
seiner neunundzwanzig Fennen. Wenn Martini
herankommt und hernach die Deich- und Siel-
rechnungen abgethan werden müssen, dann füttert
er den Schulmeister mit Gansbraten und Meth
und Weizenkringeln und sitzt dabei und nickt, wenn
der mit seiner Feder die Zahlenreihen hinunter-
läuft, und sagt: „Ja, ja, Schulmeister, Gott ver-
gönn's ihm! Was kann er rechnen!” Wenn aber
einmal der Schulmeister nicht kann oder auch
nicht will, dann muß er selber dran und sitzt
und schreibt und streicht wieder aus, und der
große dumme Kopf wird ihm roth und heiß, und
die Augen quellen wie Glaskugeln, als wollte das
bischen Verstand da hinaus.”

Der Junge stand gerade auf vor dem Vater
und wunderte sich, was der reden könne; so hatte
er's noch nicht von ihm gehört. „Ja, Gott
tröst'!” sagte er, „dumm ist er wohl; aber seine
Tochter Elke, die kann rechnen!”

Der Alte sah ihn scharf an. „Ahoi, Hauke”,
rief er; „was weißt Du von Elke Volkerts?”

— „Nichts, Vater; der Schulmeister hat's
mir nur erzählt.”

Theodor Storm, Der Schimmelreiter. 3

Der Alte antwortete nicht darauf; er schob
nur bedächtig seinen Tabaksknoten aus einer Backe
hinter die andere. „Und Du denkst,” sagte er
dann, „Du wirst dort auch mitrechnen können.”

„O ja, Vater, das möcht' schon gehen,” er-
widerte der Sohn, und ein ernstes Zucken lief um
seinen Mund.

Der Alte schüttelte den Kopf: „Nun, aber
meinethalb; versuch' einmal Dein Glück!”

„Dank auch, Vater!” sagte Hauke und stieg
zu seiner Schlafstatt auf dem Boden; hier setzte
er sich auf die Bettkante und sann, weshalb ihn
denn sein Vater um Elke Volkerts angerufen habe.
Er kannte sie freilich, das ranke achtzehnjährige
Mädchen mit dem bräunlichen schmalen Antlitz
und den dunklen Brauen, die über den trotzigen
Augen und der schmalen Nase in einander liefen;
doch hatte er noch kaum ein Wort mit ihr ge-
sprochen; nun, wenn er zu dem alten Tede Volkerts
ging, wollte er sie doch besser darauf ansehen, was
es mit dem Mädchen auf sich habe. Und gleich
jetzt wollte er gehen, damit kein Anderer ihm die
Stelle abjage; es war ja kaum noch Abend. Und
so zog er seine Sonntagsjacke und seine besten

Stiefeln an und machte sich guten Muthes auf
den Weg.

— Das langgestreckte Haus des Deichgrafen
war durch seine hohe Werfte, besonders durch den
höchsten Baum des Dorfes, eine gewaltige Esche,
schon von Weitem sichtbar; der Großvater des
jetzigen, der erste Deichgraf des Geschlechtes, hatte
in seiner Jugend eine solche osten der Hausthür
hier gesetzt; aber die beiden ersten Anpflanzungen
waren vergangen, und so hatte er an seinem
Hochzeitsmorgen diesen dritten Baum gepflanzt,
der noch jetzt mit seiner immer mächtiger werdenden
Blätterkrone in dem hier unablässigen Winde wie
von alten Zeiten rauschte.

Als nach einer Weile der lang aufgeschossene
Hauke die hohe Werfte hinaufstieg, welche an den
Seiten mit Rüben und Kohl bepflanzt war, sah
er droben die Tochter des Hauswirths neben der
niedrigen Hausthür stehen. Ihr einer etwas hagerer
Arm hing schlaff herab, die andere Hand schien
im Rücken nach dem Eisenring zu greifen, von
denen je einer zu beiden Seiten der Thür in der
Mauer war, damit, wer vor das Haus ritt, sein
Pferd daran befestigen könne. Die Dirne schien

3 *

von dort ihre Augen über den Deich hinaus nach dem
Meer zu haben, wo an dem stillen Abend die Sonne
eben in das Wasser hinabsank und zugleich das bräun-
liche Mädchen mit ihrem letzten Schein vergoldete.

Hauke stieg etwas langsamer an der Werfte
hinan und dachte bei sich: „So ist sie nicht so
dösig!” dann war er oben. „Guten Abend auch!”
sagte er zu ihr tretend; „wonach guckst Du denn
mit Deinen großen Augen, Jungfer Elke?”

„Nach dem,” erwiderte sie, „was hier alle
Abend vor sich geht; aber hier nicht alle Abend
just zu sehen ist.” Sie ließ den Ring aus der
Hand fallen, daß er klingend gegen die Mauer
schlug. „Was willst Du, Hauke Haien?” frug sie.

„Was Dir hoffentlich nicht zuwider ist”, sagte
er. „Dein Vater hat seinen Kleinknecht fortge-
jagt, da dachte ich bei Euch in Dienst.”

Sie ließ ihre Blicke an ihm herunterlaufen:
„Du bist noch so was schlanterig, Hauke!” sagte
sie; „aber uns dienen zwei feste Augen besser als
zwei feste Arme!” Sie sah ihn dabei fast düster
an; aber Hauke hielt ihr tapfer Stand. „So
komm,” fuhr sie fort; „der Wirth ist in der
Stube, laß uns hineingehen!”


Am anderen Tage trat Tede Haien mit seinem
Sohne in das geräumige Zimmer des Deichgrafen;
die Wände waren mit glasurten Kacheln bekleidet,
auf denen hier ein Schiff mit vollen Segeln oder
ein Angler an einem Uferplatz, dort ein Rind, das
kauernd vor einem Bauernhause lag, den Beschauer
vergnügen konnte; unterbrochen war diese dauer-
hafte Tapete durch ein mächtiges Wandbett mit
jetzt zugeschobenen Thüren und einen Wandschrank,
der durch seine beiden Glasthüren allerlei Porzellan-
und Silbergeschirr erblicken ließ; neben der Thür
zum anstoßenden Pesel war hinter einer Glas-
scheibe eine holländische Schlaguhr in die Wand
gelassen.

Der starke, etwas schlagflüssige Hauswirth saß
am Ende des blankgescheuerten Tisches im Lehnstuhl
auf seinem bunten Wollenpolster. Er hatte seine
Hände über dem Bauch gefaltet und starrte aus
seinen runden Augen befriedigt auf das Gerippe
einer fetten Ente; Gabel und Messer ruhten vor
ihm auf dem Teller.

„Guten Tag, Deichgraf!” sagte Haien, und
der Angeredete drehte langsam Kopf und Augen
zu ihm hin. „Ihr seid es, Tede?” entgegnete er,

und der Stimme war die verzehrte fette Ente
anzuhören, „setzt Euch; es ist ein gut Stück' von
Euch zu mir herüber!”

„Ich komme, Deichgraf,” sagte Tede Haien,
indem er sich auf die an der Wand entlang laufende
Bank dem Anderen im Winkel gegenübersetzte.
„Ihr habt Verdruß mit Euerem Kleinknecht gehabt
und seid mit meinem Jungen einig geworden,
ihn an dessen Stelle zu setzen!”

Der Deichgraf nickte: „Ja, ja, Tede; aber —
was meint Ihr mit Verdruß? Wir Marschleute
haben, Gott tröst' uns, was dagegen einzunehmen!”
und er nahm das vor ihm liegende Messer und
klopfte wie liebkosend auf das Gerippe der armen
Ente. „Das war mein Leibvogel,” setzte er be-
haglich lachend hinzu; „sie fraß mir aus der
Hand!”

„Ich dachte,” sagte der alte Haien, das Letzte
überhörend, „der Bengel hätte Euch Unheil im
Stall gemacht.”

„Unheil? Ja, Tede; freilich Unheil genug!
Der dicke Mopsbraten hatte die Kälber nicht
gebörmt; aber er lag voll getrunken auf dem
Heuboden, und das Viehzeug schrie die ganze

Nacht vor Durst, daß ich bis Mittag nachschlafen
mußte; dabei kann die Wirthschaft nicht bestehen!”

„Nein, Deichgraf; aber dafür ist keine Gefahr
bei meinem Jungen.”

Hauke stand, die Hände in den Seitentaschen,
am Thürpfosten, hatte den Kopf im Nacken und
studirte an den Fensterrähmen ihm gegenüber.

Der Deichgraf hatte die Augen zu ihm gehoben
und nickte hinüber: „Nein, nein, Tede;” und er
nickte nun auch dem Alten zu; „Euer Hauke wird
mir die Nachtruh' nicht verstören; der Schulmeister
hat's mir schon vordem gesagt, der sitzt lieber
vor der Rechentafel, als vor einem Glas mit
Branntwein.”

Hauke hörte nicht auf diesen Zuspruch, denn
Elke war in die Stube getreten und nahm mit
ihrer leichten Hand die Reste der Speisen von dem
Tisch, ihn mit ihren dunkeln Augen flüchtig streifend.
Da fielen seine Blicke auch auf sie. „Bei Gott und
Jesus,” sprach er bei sich selber, „sie sieht auch so
nicht dösig aus!”

Das Mädchen war hinausgegangen: „Ihr
wisset, Tede,” begann der Deichgraf wieder, „unser
Herrgott hat mir einen Sohn versagt!”

„Ja, Deichgraf; aber laßt Euch das nicht
kränken,” entgegnete der Andere, „denn im dritten
Gliede soll der Familienverstand ja verschleißen;
Euer Großvater, das wissen wir noch Alle, war
Einer, der das Land geschützt hat!”

Der Deichgraf, nach einigem Besinnen, sah
schier verdutzt aus: „Wie meint Ihr das, Tede
Haien?” sagte er, und setzte sich in seinem Lehn-
stuhl auf; „ich bin ja doch im dritten Gliede!”

„Ja so! Nicht für ungut, Deichgraf; es geht
nur so die Rede!” Und der hagere Tede Haien
sah den alten Würdenträger mit etwas boshaften
Augen an.

Der aber sprach unbekümmert: „Ihr müßt
Euch von alten Weibern dergleichen Thorheit nicht
aufschwatzen lassen, Tede Haien; Ihr kennt nur
meine Tochter nicht, die rechnet mich selber drei-
mal um und um! Ich wollt' nur sagen, Euer
Hauke wird außer im Felde auch hier in meiner
Stube mit Feder oder Rechenstift so Manches
profitiren können, was ihm nicht schaden wird!”

„Ja, ja, Deichgraf, das wird er; da habt Ihr
völlig Recht!” sagte der alte Haien und begann
dann noch einige Vergünstigungen bei dem Mieth-

contract sich auszubedingen, die Abends vorher
von seinem Sohne nicht bedacht waren. So sollte
dieser außer seinen leinenen Hemden im Herbst
auch noch acht Paar wollene Strümpfe als Zu-
gabe seines Lohnes genießen; so wollte er selbst
ihn im Frühling acht Tage bei der eigenen Arbeit
haben, und was dergleichen mehr war. Aber der
Deichgraf war zu Allem willig; Hauke Haien
schien ihm eben der rechte Kleinknecht.

— — „Nun, Gott tröst' Dich, Junge,” sagte
der Alte, da sie eben das Haus verlassen hatten,
„wenn der Dir die Welt klar machen soll!”

Aber Hauke erwiderte ruhig: „Laß Er nur,
Vater; es wird schon Alles werden.”


Und Hauke hatte so Unrecht nicht gehabt;
die Welt, oder was ihm die Welt bedeutete, wurde
ihm klarer, je länger sein Aufenthalt in diesem
Hause dauerte; vielleicht um so mehr, je weniger
ihm eine überlegene Einsicht zu Hülfe kam, und je
mehr er auf seine eigene Kraft angewiesen war,
mit der er sich von jeher beholfen hatte. Einer
freilich war im Hause, für den er nicht der Rechte
zu sein schien; das war der Großknecht Ole Peters,

ein tüchtiger Arbeiter und ein maulfertiger Geselle.
Ihm war der träge, aber dumme und stämmige
Kleinknecht von vorhin besser nach seinem Sinn
gewesen, dem er ruhig die Tonne Hafer auf den
Rücken hatte laden und den er nach Herzenslust
hatte herumstoßen können. Dem noch stilleren,
aber ihn geistig überragenden Hauke vermochte er
in solcher Weise nicht beizukommen; er hatte eine
gar zu eigne Art, ihn anzublicken. Trotzdem ver-
stand er es, Arbeiten für ihn auszusuchen, die
seinem noch nicht gefesteten Körper hätten gefährlich
werden können, und Hauke, wenn der Groß-
knecht sagte: „Da hättest Du den dicken Niß nur
sehen sollen; dem ging es von der Hand!” faßte
nach Kräften an und brachte es, wenn auch mit
Mühsal, doch zu Ende. Ein Glück war es für
ihn, daß Elke selbst oder durch ihren Vater das
meistens abzustellen wußte. Man mag wohl
fragen, was mitunter ganz fremde Menschen an
einander bindet; vielleicht — sie waren beide ge-
borene Rechner, und das Mädchen konnte ihren
Kameraden in der groben Arbeit nicht verderben
sehen.

Der Zwiespalt zwischen Groß- und Kleinknecht

wurde auch im Winter nicht besser, als nach
Martini die verschiedenen Deichrechnungen zur
Revision eingelaufen waren.

Es war an einem Maiabend; aber es war
Novemberwetter; von drinnen im Hause hörte
man draußen hinterm Deich die Brandung donnern.
„He, Hauke,” sagte der Hausherr, „komm herein;
nun magst Du weisen, ob Du rechnen kannst!”

„Uns' Weerth,” entgegnete dieser; — denn
so nennen hier die Leute ihre Herrschaft — „ich
soll aber erst das Jungvieh füttern!”

„Elke!” rief der Deichgraf; „wo bist Du,
Elke! — Geh' zu Ole, und sag' ihm, er sollte
das Jungvieh füttern; Hauke soll rechnen!”

Und Elke eilte in den Stall und machte dem
Großknecht die Bestellung, der eben damit be-
schäftigt war, das über Tag gebrauchte Pferde-
geschirr wieder an seinen Platz zu hängen.

Ole Peters schlug mit einer Trense gegen den
Ständer, neben dem er sich beschäftigte, als wolle
er sie kurz und klein haben: „Hol' der Teufel den
verfluchten Schreiberknecht!” — Sie hörte die
Worte noch, bevor sie die Stallthür wieder ge-
schlossen hatte.

„Nun?” frug der Alte, als sie in die Stube trat.

„Ole wollte es schon besorgen,” sagte die
Tochter, ein wenig sich die Lippen beißend, und
setzte sich Hauke gegenüber auf einen grobgeschnitzten
Holzstuhl, wie sie noch derzeit hier an Winter-
abenden im Hause selbst gemacht wurden. Sie hatte
aus einem Schubkasten einen weißen Strumpf mit
rothem Vogelmuster genommen, an dem sie nun
weiterstrickte; die langbeinigen Creaturen darauf
mochten Reiher oder Störche bedeuten sollen. Hauke
saß ihr gegenüber in seine Rechnerei vertieft, der
Deichgraf selbst ruhte in seinem Lehnstuhl und
blinzelte schläfrig nach Hauke's Feder; auf dem
Tisch brannten, wie immer im Deichgrafenhause,
zwei Unschlittkerzen, und vor den beiden in Blei
gefaßten Fenstern waren von außen die Läden vor-
geschlagen und von innen zugeschroben; mochte der
Wind nun poltern, wie er wollte. Mitunter hob
Hauke seinen Kopf von der Arbeit und blickte einen
Augenblick nach den Vogelstrümpfen oder nach dem
schmalen ruhigen Gesicht des Mädchens.

Da that es aus dem Lehnstuhl plötzlich einen
lauten Schnarcher, und ein Blick und ein Lächeln
flog zwischen den beiden jungen Menschen hin und

wieder; dann folgte allmälig ein ruhigeres Athmen;
man konnte wohl ein wenig plaudern; Hauke wußte
nur nicht, was. Als sie aber das Strickzeug in
die Höhe zog, und die Vögel sich nun in ihrer
ganzen Länge zeigten, flüsterte er über den Tisch
hinüber: „Wo hast Du das gelernt, Elke?”

„Was gelernt?” frug das Mädchen zurück.

— „Das Vogelstricken?” sagte Hauke.

„Das? Von Trien' Jans draußen am Deich;
sie kann allerlei; sie war vor Zeiten einmal bei
meinem Großvater hier im Dienst.”

„Da warst Du aber wohl noch nicht ge-
boren?” sagte Hauke.

„Ich denk' wohl nicht; aber sie ist noch oft
ins Haus gekommen.”

„Hat denn die die Vögel gern?” frug Hauke;
„ich meint', sie hielt es nur mit Katzen!”

Elke schüttelte den Kopf: „Sie zieht ja Enten
und verkauft sie; aber im vorigen Frühjahr, als
Du den Angorer todtgeschlagen hattest, sind ihr
hinten im Stall die Ratten dazwischen gekommen;
nun will sie sich vorn am Hause einen andern
bauen.”

„So,” sagte Hauke und zog einen leisen Pfiff

durch die Zähne, „dazu hat sie von der Geest
sich Lehm und Steine hergeschleppt! Aber dann
kommt sie in den Binnenweg; — hat sie denn
Concession?”

„Weiß ich nicht,” meinte Elke; aber er hatte
das letzte Wort so laut gesprochen, daß der Deich-
graf aus seinem Schlummer auffuhr. „Was Con-
cession?” frug er und sah fast wild von Einem zu
der Andern. „Was soll die Concession?”

Als aber Hauke ihm dann die Sache vor-
getragen hatte, klopfte er ihm lachend auf die
Schulter: „Ei was, der Binnenweg ist breit genug;
Gott tröst' den Deichgrafen, sollt' er sich auch
noch um die Entenställe kümmern!”

Hauke fiel es aufs Herz, daß er die Alte mit
ihren jungen Enten den Ratten sollte preisgegeben
haben, und er ließ sich mit dem Einwand ab-
finden. „Aber uns' Weerth,” begann er wieder,
„es thät' wohl Dem und Jenem ein kleiner
Zwicker gut, und wollet Ihr ihn nicht selber
greifen, so zwicket den Gevollmächtigten, der auf
die Deichordnung passen soll!”

„Wie, was sagt der Junge?” und der Deich-
graf setzte sich vollends auf, und Elke ließ ihren

künstlichen Strumpf sinken und wandte das Ohr
hinüber.

„Ja, uns' Weerth,” fuhr Hauke fort, „Ihr
habt doch schon die Frühlingsschau gehalten; aber
trotzdem hat Peter Jansen auf seinem Stück das
Unkraut auch noch heute nicht gebuscht; im Sommer
werden die Stieglitzer da wieder lustig um die
rothen Distelblumen spielen! Und dicht daneben,
ich weiß nicht, wem's gehört, ist an der Außen-
seite eine ganze Wiege in dem Deich; bei schön
Wetter liegt es immer voll von kleinen Kindern,
die sich darin wälzen; aber — Gott bewahr' uns
vor Hochwasser!”

Die Augen des alten Deichgrafen waren immer
größer geworden.

„Und dann” — sagte Hauke wieder.

„Was dann noch, Junge?” frug der Deich-
graf; „bist Du noch nicht fertig?” und es klang,
als sei der Rede seines Kleinknechts ihm schon zu
viel geworden.

„Ja, dann, uns' Weerth,” sprach Hauke weiter;
„Ihr kennt die dicke Vollina, die Tochter vom
Gevollmächtigten Harders, die immer ihres Vaters
Pferde aus der Fenne holt, — wenn sie nur eben

mit ihren runden Waden auf der alten gelben Stute
sitzt, hü hopp? so geht' allemal schräg an der
Dossirung den Deich hinan!”

Hauke bemerkte erst jetzt, daß Elke ihre klugen
Augen auf ihn gerichtet hatte und leise ihren Kopf
schüttelte.

Er schwieg; aber ein Faustschlag, den der Alte
auf den Tisch that, dröhnte ihm in die Ohren,
„da soll das Wetter dreinschlagen!” rief er, und
Hauke erschrak beinahe über die Bärenstimme, die
plötzlich hier hervorbrach: „Zur Brüche! Notir' mir
das dicke Mensch zur Brüche, Hauke! Die Dirne
hat mir im letzten Sommer drei junge Enten weg-
gefangen! Ja, ja, notir' nur,” wiederholte er, als
Hauke zögerte; „ich glaub' sogar, es waren vier!”

„Ei, Vater,” sagte Elke, „war's nicht die
Otter, die die Enten nahm?”

„Eine große Otter!” rief der Alte schnaufend;
„werd' doch die dicke Vollina und Otter aus-
einander kennen! Nein, nein, vier Enten, Hauke —
Aber was Du im Uebrigen schwatzest, der Herr
Oberdeichgraf und ich, nachdem wir zusammen in
meinem Hause hier gefrühstückt hatten, sind im
Frühjahr an Deinem Unkraut und an Deiner

Wiege vorbeigefahren und haben's doch nicht sehen
können. Ihr Beide aber,” und er nickte ein paar
Mal bedeutsam gegen Hauke und seine Tochter,
„danket Gott, daß Ihr nicht Deichgraf seid! Zwei
Augen hat man nur, und mit hundert soll man
sehen. — — Nimm nur die Rechnungen über die
Bestickungsarbeiten, Hauke, und sieh sie nach; die
Kerls rechnen oft zu liederlich!”

Dann lehnte er sich wieder in seinen Stuhl
zurück, ruckte den schweren Körper ein paar Mal,
und überließ sich bald dem sorgenlosen Schlummer.


Dergleichen wiederholte sich an manchem Abend.
Hauke hatte scharfe Augen und unterließ es nicht,
wenn sie beisammensaßen, das Eine oder Andre
von schädlichem Thun oder Unterlassen in Deich-
sachen dem Alten vor die Augen zu rücken, und
da dieser sie nicht immer schließen konnte, so kam
unversehens ein lebhafterer Geschäftsgang in die
Verwaltung, und die, welche früher im alten
Schlendrian fortgesündigt hatten und jetzt uner-
wartet ihre frevlen oder faulen Finger geklopft
fühlten, sahen sich unwillig und verwundert um,
woher die Schläge denn gekommen seien. Und Ole,

Theodor Storm, Der Schimmelreiter. 4

der Großknecht, säumte nicht, möglichst weit die
Offenbarung zu verbreiten und dadurch gegen Hauke
und seinen Vater, der doch die Mitschuld tragen
mußte, in diesen Kreisen einen Widerwillen zu
erregen; die Andern aber, welche nicht getroffen
waren, oder denen es um die Sache selbst zu
thun war, lachten und hatten ihre Freude, daß
der Junge den Alten doch einmal etwas in Trab
gebracht habe. „Schad' nur,” sagten sie, „daß der
Bengel nicht den gehörigen Klei unter den Füßen
hat; das gäbe später sonst einmal wieder einen
Deichgrafen, wie vordem sie da gewesen sind; aber
die paar Demath seines Alten, die thäten's denn
doch nicht!”

Als im nächsten Herbst der Herr Amtmann
und Oberdeichgraf zur Schauung kam, sah er sich
den alten Tede Volkerts von oben bis unten an,
während dieser ihn zum Frühstück nöthigte. „Wahr-
haftig, Deichgraf,” sagte er, „ich dacht's mir schon,
Ihr seid in der That um ein Halbstieg Jahre
jünger geworden; Ihr habt mir diesmal mit all'
Euern Vorschlägen warm gemacht; wenn wir mit
alledem nur heute fertig werden!”

„Wird schon, wird schon, gestrenger Herr Ober-

deichgraf,” erwiderte der Alte schmunzelnd; „der
Gansbraten da wird schon die Kräfte stärken! Ja,
Gott sei Dank, ich bin noch allezeit frisch und
munter!” Er sah sich in der Stube um, ob auch
nicht etwa Hauke um die Wege sei; dann setzte er
in würdevoller Ruhe noch hinzu: „So hoffe ich
zu Gott, noch meines Amtes ein paar Jahre in
Segen warten zu können.”

„Und darauf, lieber Deichgraf,” erwiderte sein
Vorgesetzter sich erhebend, „wollen wir dieses Glas
zusammen trinken!”

Elke, die das Frühstück bestellt hatte, ging
eben, während die Gläser an einander klangen,
mit leisem Lachen aus der Stubenthür. Dann
holte sie eine Schüssel Abfall aus der Küche und
ging durch den Stall, um es vor der Außenthür
dem Federvieh vorzuwerfen. Im Stall stand Hauke
Haien und steckte den Kühen, die man der argen
Witterung wegen schon jetzt hatte heraufnehmen
müssen, mit der Furke Heu in ihre Raufen. Als
er aber das Mädchen kommen sah, stieß er die
Furke auf den Grund. „Nu, Elke!” sagte er.

Sie blieb stehen und nickte ihm zu: „Ja,
Hauke; aber eben hättest Du drinnen sein müssen!”

4*

„Meinst Du? Warum denn, Elke?”

„Der Herr Oberdeichgraf hat den Wirth
gelobt!”

— „Den Wirth? Was thut das mir?”

„Nein, ich mein', den Deichgrafen hat er
gelobt!” Ein dunkles Roth flog über das Gesicht
des jungen Menschen: „Ich weiß wohl,” sagte er,
„wohin Du damit segeln willst!”

„Werd' nur nicht roth, Hauke; Du warst es
ja doch eigentlich, den der Oberdeichgraf lobte!”

Hauke sah sie mit halbem Lächeln an. „Auch
Du doch, Elke!” sagte er.

Aber sie schüttelte den Kopf: „Nein, Hauke;
als ich allein der Helfer war, da wurden wir nicht
gelobt. Ich kann ja auch nur rechnen; Du aber
siehst draußen Alles, was der Deichgraf doch wohl
selber sehen sollte; Du hast mich ausgestochen!”

„Ich hab' das nicht gewollt, Dich am mindsten,”
sagte Hauke zaghaft, und er stieß den Kopf einer
Kuh zur Seite: „Komm', Rothbunt, friß mir nicht
die Furke auf, Du sollst ja Alles haben!”

„Denk' nur nicht, daß mir's leid thut, Hauke,”
sagte nach kurzem Sinnen das Mädchen; „das ist
ja Mannessache?”

Da streckte Hauke ihr den Arm entgegen: „Elke,
gib mir die Hand darauf!”

Ein tiefes Roth schoß unter die dunkeln Brauen
des Mädchens. „Warum? Ich lüg' ja nicht!”
rief sie.

Hauke wollte antworten; aber sie war schon
zum Stall hinaus, und er stand mit seiner Furke
in der Hand und hörte nur, wie draußen die
Enten und Hühner um sie schnatterten und krähten.


Es war im Januar von Hauke's drittem
Dienstjahre, als ein Winterfest gehalten werden
sollte; „Eisboseln” nennen sie es hier. Ein
ständiger Frost hatte beim Ruhen der Küstenwinde
alle Gräben zwischen den Fennen mit einer festen
ebenen Krystallfläche belegt, so daß die zerschnittenen
Landstücke nun eine weite Bahn für das Werfen
der kleinen mit Blei ausgegossenen Holzkugeln
bildeten, womit das Ziel erreicht werden sollte.
Tag aus, Tag ein wehte ein leichter Nordost: Alles
war schon in Ordnung; die Geestleute in dem zu
Osten über der Marsch belegenen Kirchdorf, die
im vorigen Jahre gesiegt hatten, waren zum Wett-
kampf gefordert und hatten angenommen; von

jeder Seite waren neun Werfer aufgestellt; auch
der Obmann und die Kret'ler waren gewählt. Zu
letzteren, die bei Streitfällen über einen zweifel-
haften Wurf mit einander zu verhandeln hatten,
wurden allezeit Leute genommen, die ihre Sache
ins beste Licht zu rücken verstanden, am liebsten
Burschen, die außer gesundem Menschenverstand
auch noch ein lustig Mundwerk hatten. Dazu ge-
hörte vor allen Ole Peters, der Großknecht des
Deichgrafen. „Werft nur wie die Teufel,” sagte
er; „das Schwatzen thu ich schon umsonst!”

Es war gegen Abend vor dem Festtag; in der
Nebenstube des Kirchspielkruges droben auf der Geest
war eine Anzahl von den Werfern erschienen, um über
die Aufnahme einiger zuletzt noch Angemeldeten zu
beschließen. Hauke Haien war auch unter diesen; er
hatte erst nicht wollen, obschon er seiner wurfgeübten
Arme sich wohl bewußt war; aber er fürchtete durch
Ole Peters, der einen Ehrenposten in dem Spiel
bekleidete, zurückgewiesen zu werden; die Niederlage
wollte er sich sparen. Aber Elke hatte ihm noch
in der elften Stunde den Sinn gewandt: „Er
wird's nicht wagen, Hauke,” hatte sie gesagt; „er
ist ein Tagelöhnersohn; Dein Vater hat Kuh

und Pferd und ist dazu der klügste Mann im
Dorf!”

„Aber, wenn er's dennoch fertig bringt?”

Sie sah ihn halb lächelnd aus ihren dunkeln
Augen an. „Dann,” sagte sie, „soll er sich den
Mund wischen, wenn er Abends mit seines Wirths
Tochter zu tanzen denkt!” — Da hatte Hauke ihr
muthig zugenickt.

Nun standen die jungen Leute, die noch in
das Spiel hineinwollten, frierend und fußtrampelnd
vor dem Kirchspielskrug und sahen nach der Spitze
des aus Felsblöcken gebauten Kirchthurms hinauf,
neben dem das Krughaus lag. Des Pastors
Tauben, die sich im Sommer auf den Feldern
des Dorfes nährten, kamen eben von den Höfen
und Scheuern der Bauern zurück, wo sie sich jetzt
ihre Körner gesucht hatten und verschwanden unter
den Schindeln des Thurmes, hinter welchen sie
ihre Nester hatten; im Westen über dem Haf stand
ein glühendes Abendroth.

„Wird gut Wetter morgen!” sagte der eine
der jungen Burschen und begann heftig auf und
ab zu wandern; „aber kalt! kalt!” Ein zweiter, als
er keine Taube mehr fliegen sah, ging in das

Haus und stellte sich horchend neben die Thür
der Stube, aus der jetzt ein lebhaftes Durch-
einander-Reden herausscholl; auch des Deichgrafen
Kleinknecht war neben ihn getreten. „Hör', Hauke,”
sagte er zu diesem; „nun schreien sie um Dich!”
und deutlich hörte man von drinnen Ole Peters
knarrende Stimme: „Kleinknechte und Jungens
gehören nicht dazu!”

„Komm,” flüsterte der Andere und suchte
Hauke am Rockärmel an die Stubenthür zu ziehen,
„hier kannst Du lernen, wie hoch sie Dich taxiren!”

Aber Hauke riß sich los und ging wieder vor
das Haus: „Sie haben uns nicht ausgesperrt, da-
mit wir's hören sollen!” rief er zurück.

Vor dem Hause stand der Dritte der Ange-
meldeten. „Ich fürcht', mit mir hat's einen
Haken,” rief er ihm entgegen; „ich hab' kaum
achtzehn Jahre; wenn sie nur den Taufschein nicht
verlangen! Dich, Hauke, wird Dein Großknecht
schon herauskreteln!”

„Ja, heraus!” brummte Hauke und schleuderte
mit dem Fuße einen Stein über den Weg; „nur
nicht hinein!”

Der Lärm in der Stube wurde stärker; dann

allmälig trat eine Stille ein; die draußen hörten
wieder den leisen Nordost, der sich oben an der
Kirchthurmspitze brach. Der Horcher trat wieder
zu ihnen. „Wen hatten sie da drinnen?” frug
der Achtzehnjährige.

„Den da!” sagte Jener und wies auf Hauke;
„Ole Peters wollte ihn zum Jungen machen; aber
Alle schrieen dagegen. „Und sein Vater hat Vieh
und Land,” sagte Jeß Hansen; „Ja, Land”, rief
Ole Peters, „das man auf dreizehn Karren weg-
fahren kann?” — Zuletzt kam Ole Hensen: „Still
da!” schrie er; „ich will's Euch lehren: sagt nur,
wer ist der erste Mann im Dorf?” Da schwiegen
sie erst und schienen sich zu besinnen; dann sagte
eine Stimme: „Das ist doch wohl der Deichgraf!”
Und alle Andern riefen: „Nun ja; unserthalb der
Deichgraf!” — „Und wer ist denn der Deich-
graf?” rief Ole Hensen wieder; „aber nun bedenkt
Euch recht!” — — Da begann Einer leis zu
lachen, und dann wieder Einer, bis zuletzt nichts
in der Stube war, als lauter Lachen. „Nun, so
ruft ihn;” sagte Ole Hensen; „Ihr wollt doch nicht
den Deichgrafen von der Thür stoßen!” Ich glaub',
sie lachen noch; aber Ole Peters Stimme war

nicht mehr zu hören!” schloß der Bursche seinen
Bericht.

Fast in demselben Augenblicke wurde drinnen
im Hause die Stubenthür aufgerissen, und: „Hauke!
Hauke Haien!” rief es laut und fröhlich in die
kalte Nacht hinaus.

Da trabte Hauke in das Haus und hörte
nicht mehr, wer denn der Deichgraf sei; was in
seinem Kopfe brütete, hat indessen Niemand wohl
erfahren.

— — Als er nach einer Weile sich dem Hause
seiner Herrschaft nahte, sah er Elke drunten am
Heck der Auffahrt stehen; das Mondlicht schimmerte
über die unermeßliche weiß bereifte Weidefläche.
„Stehst Du hier, Elke?” frug er.

Sie nickte nur: „Was ist geworden?” sagte
sie; „hat er's gewagt?”

— „Was sollt' er nicht!”

„Nun, und?”

— „Ja, Elke; ich darf es morgen doch versuchen!”

„Gute Nacht, Hauke!” Und sie lief flüchtig die
Werfte hinan und verschwand im Hause.

Langsam folgte er ihr.


Auf der weiten Weidefläche, die sich zu Osten
an der Landseite des Deiches entlang zog, sah man
am Nachmittag darauf eine dunkle Menschenmasse
bald unbeweglich stille stehen, bald, nachdem zwei-
mal eine hölzerne Kugel aus derselben über den
durch die Tagessonne jetzt von Reif befreiten Boden
hingeflogen war, abwärts von den hinter ihr
liegenden langen und niedrigen Häusern allmälig
weiter rücken; die Parteien der Eisbosler in der
Mitte, umgeben von Alt und Jung, was mit
ihnen, sei es in jenen Häusern oder in denen
droben auf der Geest Wohnung oder Verbleib
hatte; die älteren Männer in langen Röcken, be-
dächtig aus kurzen Pfeifen rauchend, die Weiber
in Tüchern und Jacken, auch wohl Kinder an
den Händen ziehend oder auf den Armen tragend.
Aus den gefrorenen Gräben, welche allmälig über-
schritten wurden, funkelte durch die scharfen Schilf-
spitzen der bleiche Schein der Nachmittagssonne,
es fror mächtig; aber das Spiel ging unablässig
vorwärts, und Aller Augen verfolgten immer
wieder die fliegende Kugel; denn an ihr hing heute
für das ganze Dorf die Ehre des Tages. Der
Kret'ler der Parteien trug hier einen weißen, bei

den Geestleuten einen schwarzen Stab mit eiserner
Spitze; wo die Kugel ihren Lauf geendet hatte,
wurde dieser, je nachdem, unter schweigender Aner-
kennung oder dem Hohngelächter der Gegenpartei
in den gefrorenen Boden eingeschlagen, und wessen
Kugel zuerst das Ziel erreichte, der hatte für seine
Partei das Spiel gewonnen.

Gesprochen wurde von all den Menschen wenig;
nur wenn ein Capitalwurf geschah, hörte man
wohl einen Ruf der jungen Männer oder Weiber;
oder von den Alten einer nahm seine Pfeife aus
dem Mund und klopfte damit unter ein paar guten
Worten den Werfer auf die Schulter: „Das war
ein Wurf, sagte Zacharies und warf sein Weib
aus der Luke!” oder: „So warf Dein Vater auch;
Gott tröst' ihn in der Ewigkeit!” oder was sie
sonst für Gutes sagten.

Bei seinem ersten Wurfe war das Glück nicht
mit Hauke gewesen: als er eben den Arm hinten aus-
schwang, um die Kugel fortzuschleudern, war eine
Wolke von der Sonne fortgezogen, die sie vorhin be-
deckt hatte, und diese traf mit ihrem vollen Strahl in
seine Augen; der Wurf wurde zu kurz, die Kugel fiel
auf einen Graben und blieb im Bummeis stecken.

„Gilt nicht! Gilt nicht! Hauke, noch einmal,”
riefen seine Partner.

Aber der Kret'ler der Geestleute sprang dagegen
auf: „Muß wohl gelten; geworfen ist geworfen!”

„Ole! Ole Peters!” schrie die Marschjugend.
„Wo ist Ole? Wo, zum Teufel, steckt er?”

Aber er war schon da: „Schreit nur nicht
so! Soll Hauke wo geflickt werden! Ich dacht's
mir schon.”

— „Ei was! Hauke muß noch einmal
werfen; nun zeig', daß Du das Maul am rechten
Fleck hast!”

„Das hab' ich schon!” rief Ole und trat dem
Geest-Kret'ler gegenüber und redete einen Haufen
Gallimathias auf einander. Aber die Spitzen und
Schärfen, die sonst aus seinen Worten blitzten,
waren diesmal nicht dabei. Ihm zur Seite stand
das Mädchen mit den Räthselbrauen und sah
scharf aus zornigen Augen auf ihn hin; aber reden
durfte sie nicht; denn die Frauen hatten keine
Stimme in dem Spiel.

„Du leierst Unsinn,” rief der andere Kret'ler,
„weil Dir der Sinn nicht dienen kann! Sonne,
Mond und Sterne sind für uns Alle gleich und

allezeit am Himmel; der Wurf war ungeschickt,
und alle ungeschickten Würfe gelten!”

So redeten sie noch eine Weile gegen einander;
aber das Ende war, daß nach Bescheid des Ob-
manns Hauke seinen Wurf nicht wiederholen durfte.

„Vorwärts!” riefen die Geestleute, und ihr
Kret'ler zog den schwarzen Stab aus dem Boden,
und der Werfer trat auf seinen Nummer-Ruf
dort an und schleuderte die Kugel vorwärts. Als
der Großknecht des Deichgrafen dem Wurfe zusehen
wollte, hatte er an Elke Volkerts vorbei müssen:
„Wem zu Liebe ließest Du heut' Deinen Verstand
zu Hause?” raunte sie ihm zu.

Da sah er sie fast grimmig an, und aller
Spaß war aus seinem breiten Gesichte verschwunden.
„Dir zu Lieb!” sagte er; „Denn Du hast Deinen
auch vergessen!”

„Geh' nur; ich kenne Dich, Ole Peters!”
erwiderte das Mädchen sich hoch aufrichtend; er
aber kehrte den Kopf ab und that, als habe er
das nicht gehört.

Und das Spiel und der schwarze und der
weiße Stab gingen weiter. Als Hauke wieder am
Wurf war, flog seine Kugel schon so weit, daß

das Ziel, die große weiß gekalkte Tonne, klar in
Sicht kam. Er war jetzt ein fester junger Kerl,
und Mathematik und Wurfkunst hatte er täglich
während seiner Knabenzeit getrieben. „Oho, Hauke!”
rief es aus dem Haufen; „das war ja, als habe
der Erzengel Michael selbst geworfen!” Eine alte
Frau mit Kuchen und Branntwein drängte sich
durch den Haufen zu ihm; sie schenkte ein Glas
voll und bot es ihm: „Komm,” sagte sie, „wir
wollen uns vertragen: das heut' ist besser, als da
Du mir die Katze todtschlugst!” Als er sie ansah,
erkannte er, daß es Trien' Jans war. „Ich dank'
Dir, Alte,” sagte er; „aber ich trink' das nicht.”
Er griff in seine Tasche und drückte ihr ein frisch-
geprägtes Markstück in die Hand: „Nimm das
und trink' selber das Glas aus, Trien'; so haben
wir uns vertragen!”

„Hast recht, Hauke!” erwiderte die Alte, indem
sie seiner Anweisung folgte; „hast recht; das ist
auch besser für ein altes Weib, wie ich!”

„Wie geht's mit Deinen Enten?” rief er ihr
noch nach, als sie sich schon mit ihrem Korbe
fortmachte; aber sie schüttelte nur den Kopf, ohne
sich umzuwenden, und patschte mit ihren alten

Händen in die Luft. „Nichts, nichts, Hauke;
da sind zu viele Ratten in Euren Gräben;
Gott tröst' mich; man muß sich anders nähren!”
Und somit drängte sie sich in den Menschenhaufen
und bot wieder ihren Schnaps und ihre Honig-
kuchen an.

Die Sonne war endlich schon hinter den Deich
hinabgesunken; statt ihrer glimmte ein rothvioletter
Schimmer empor; mitunter flogen schwarze Krähen
vorüber und waren auf Augenblicke wie vergoldet,
es wurde Abend. Auf den Fennen aber rückte
der dunkle Menschentrupp noch immer weiter von
den schwarzen schon fern liegenden Häusern nach
der Tonne zu; ein besonders tüchtiger Wurf mußte
sie jetzt erreichen können. Die Marschleute waren
an der Reihe; Hauke sollte werfen.

Die kreidige Tonne zeichnete sich weiß in
dem breiten Abendschatten, der jetzt von dem
Deiche über die Fläche fiel. „Die werdet Ihr
uns diesmal wohl noch lassen!” rief einer von den
Geestleuten; denn es ging scharf her; sie waren
um mindestens ein halb Stieg Fuß im Vortheil.

Die hagere Gestalt des Genannten trat eben
aus der Menge; die grauen Augen sahen aus dem

langen Friesengesicht vorwärts nach der Tonne;
in der herabhängenden Hand lag die Kugel.

„Der Vogel ist Dir wohl zu groß,” hörte
er in diesem Augenblicke Ole Peters Knarrstimme
dicht vor seinen Ohren: „Sollen wir ihn um
einen grauen Topf vertauschen?”

Hauke wandte sich und blickte ihn mit festen
Augen an: „Ich werfe für die Marsch!” sagte er.
„Wohin gehörst denn Du?”

„Ich denke, auch dahin; Du wirfst doch wohl
für Elke Volkerts!”

„Beiseit!” schrie Hauke und stellte sich wieder
in Positur. Aber Ole drängte mit dem Kopf noch
näher auf ihn zu. Da plötzlich, bevor noch Hauke
selber etwas dagegen unternehmen konnte, packte
den Zudringlichen eine Hand und riß ihn rück-
wärts, daß der Bursche gegen seine lachenden
Kameraden taumelte. Es war keine große Hand
gewesen, die das gethan hatte; denn als Hauke
flüchtig den Kopf wandte, sah er neben sich Elke
Volkerts ihren Aermel zurecht zupfen, und die
dunkeln Brauen standen ihr wie zornig in dem heißen
Antlitz.

Da flog es wie eine Stahlkraft in Hauke's

Theodor Storm, Der Schimmelreiter. 5

Arm; er neigte sich ein wenig, er wiegte die Kugel
ein paarmal in der Hand; dann holte er aus,
und eine Todesstille war auf beiden Seiten; alle
Augen folgten der fliegenden Kugel, man hörte
ihr Sausen, wie sie die Luft durchschnitt; plötzlich,
schon weit vom Wurfplatz, verdeckten sie die Flügel
einer Silbermöve, die ihren Schrei ausstoßend
vom Deich herüber kam; zugleich aber hörte man
es in der Ferne an die Tonne klatschen. „Hurrah
für Hauke!” riefen die Marschleute und lärmend
ging es durch die Menge: „Hauke! Hauke Haien
hat das Spiel gewonnen!”

Der aber, da ihn Alle dicht umdrängten,
hatte seitwärts nur nach einer Hand gegriffen; auch
da sie wieder riefen: „Was stehst Du, Hauke?
Die Kugel liegt ja in der Tonne!” nickte er nur
und ging nicht von der Stelle; erst als er fühlte,
daß sich die kleine Hand fest an die seine schloß,
sagte er: „Ihr mögt schon recht haben; ich glaube
auch, ich hab' gewonnen!”

Dann strömte der ganze Trupp zurück, und
Elke und Hauke wurden getrennt und von der
Menge auf den Weg zum Kruge fortgerissen,
der an des Deichgrafen Werfte nach der Geest

hinaufbog. Hier aber entschlüpften Beide dem
Gedränge, und während Elke auf ihre Kammer
ging, stand Hauke hinten vor der Stallthür auf
der Werfte und sah, wie der dunkle Menschen-
trupp allmälig nach dort hinaufwanderte, wo im
Kirchspielskrug ein Raum für die Tanzenden bereit
stand. Das Dunkel breitete sich allmälig über
die weite Gegend; es wurde immer stiller um ihn
her, nur hinter ihm im Stalle regte sich das
Vieh; oben von der Geest her glaubte er schon
das Pfeifen der Clarinetten aus dem Kruge zu
vernehmen. Da hörte er um die Ecke des Hauses
das Rauschen eines Kleides, und kleine feste Schritte
gingen den Fußsteig hinab, der durch die Fennen
nach der Geest hinaufführte. Nun sah er auch
im Dämmer die Gestalt dahinschreiten und sah,
daß es Elke war; sie ging auch zum Tanze nach
dem Krug. Das Blut schoß ihm in den Hals
hinauf; sollte er ihr nicht nachlaufen und mit
ihr gehen? Aber Hauke war kein Held den Frauen
gegenüber; mit dieser Frage sich beschäftigend blieb
er stehen, bis sie im Dunkel seinem Blick ent-
schwunden war.

Dann, als die Gefahr sie einzuholen vorüber

5 *

war, ging auch er denselben Weg, bis er droben
den Krug bei der Kirche erreicht hatte, und das
Schwatzen und Schreien der vor dem Hause und
auf dem Flur sich Drängenden und das Schrillen
der Geigen und Clarinetten betäubend ihn um-
rauschte. Unbeachtet drückte er sich in den „Gilde-
saal”; er war nicht groß und so voll, daß man
kaum einen Schritt weit vor sich hinsehen konnte.
Schweigend stellte er sich an den Thürpfosten und
blickte in das unruhige Gewimmel; die Menschen
kamen ihm wie Narren vor; er hatte auch nicht
zu sorgen, daß Jemand noch an den Kampf des
Nachmittages dachte, und wer vor einer Stunde
erst das Spiel gewonnen hatte; jeder sah nur auf
seine Dirne und drehte sich mit ihr im Kreis
herum. Seine Augen suchten nur die Eine, und
endlich — dort! Sie tanzte mit ihrem Vetter,
dem jungen Deichgevollmächtigten; aber schon sah
er sie nicht mehr; nur andere Dirnen aus Marsch
und Geest, die ihn nicht kümmerten. Dann
schnappten Violinen und Clarinetten plötzlich ab,
und der Tanz war zu Ende; aber gleich begann
auch schon ein anderer. Hauke flog es durch den
Kopf, ob denn Elke ihm auch Wort halten, ob

sie nicht mit Ole Peters ihm vorbeitanzen werde.
Fast hätte er einen Schrei bei dem Gedanken aus-
gestoßen; dann — — ja, was wollte er dann?
Aber sie schien bei diesem Tanze gar nicht mit-
zuhalten, und endlich ging auch der zu Ende, und
ein anderer, ein Zweitritt, der eben erst hier in die
Mode gekommen war, folgte. Wie rasend setzte
die Musik ein, die jungen Kerle stürzten zu den
Dirnen, die Lichter an den Wänden flirrten.
Hauke reckte sich fast den Hals aus, um die
Tanzenden zu erkennen; und dort, im dritten
Paare, das war Ole Peters; aber wer war die
Tänzerin? Ein breiter Marschbursche stand vor
ihr und deckte ihr Gesicht! Doch der Tanz ras'te
weiter, und Ole mit seiner Partnerin drehte sich
heraus; „Vollina! Vollina Harders!” rief Hauke
fast laut und seufzte dann gleich wieder erleichtert
auf. Aber wo blieb Elke? Hatte sie keinen Tänzer,
oder hatte sie alle ausgeschlagen, weil sie nicht mit
Ole hatte tanzen wollen? — Und die Musik setzte
wieder ab, und ein neuer Tanz begann; aber
wieder sah er Elke nicht! Doch dort kam Ole,
noch immer die dicke Vollina in den Armen! „Nun,
nun,” sagte Hauke; „da wird Jeß Harders mit

seinen fünfundzwanzig Demath auch wohl bald
aufs Altentheil müssen! — Aber wo ist Elke?”

Er verließ seinen Thürpfosten und drängte sich
weiter in den Saal hinein; da stand er plötzlich
vor ihr, die mit einer älteren Freundin in einer
Ecke saß. „Hauke!” rief sie, mit ihrem schmalen
Antlitz zu ihm aufblickend; „bist Du hier? Ich
sah Dich doch nicht tanzen!”

„Ich tanzte auch nicht,” erwiderte er.

— „Weshalb nicht, Hauke?” und sich halb
erhebend, setzte sie hinzu: „Willst Du mit mir
tanzen? Ich hab' es Ole Peters nicht gegönnt;
der kommt nicht wieder!”

Aber Hauke machte keine Anstalt: „Ich danke,
Elke,” sagte er; „ich verstehe das nicht gut genug;
sie könnten über Dich lachen; und dann ...”
er stockte plötzlich und sah sie nur aus seinen
grauen Augen herzlich an, als ob er's ihnen über-
lassen müsse, das Uebrige zu sagen.

„Was meinst Du, Hauke?” frug sie leise.

— „Ich mein', Elke, es kann ja doch der
Tag nicht schöner für mich ausgeh'n, als er's schon
gethan hat.”

„Ja,” sagte sie, „Du hast das Spiel gewonnen.”

„Elke!” mahnte er kaum hörbar.

Da schlug ihr eine heiße Lohe in das An-
gesicht: „Geh!” sagte sie; „was willst Du?” und
schlug die Augen nieder.

Als aber die Freundin jetzt von einem Burschen
zum Tanze fortgezogen wurde, sagte Hauke lauter:
„Ich dachte, Elke, ich hätt' was Besseres gewonnen!”

Noch ein paar Augenblicke suchten ihre Augen
auf dem Boden; dann hob sie sie langsam, und
ein Blick, mit der stillen Kraft ihres Wesens, traf
in die seinen, der ihn wie Sommerluft durch-
strömte. „Thu', wie Dir ums Herz ist, Hauke!”
sprach sie; „wir sollten uns wohl kennen!”

Elke tanzte an diesem Abend nicht mehr, und
als Beide dann nach Hause gingen, hatten sie sich
Hand in Hand gefaßt; aus der Himmelshöhe
funkelten die Sterne über der schweigenden Marsch;
ein leichter Ostwind wehte und brachte strenge
Kälte; die Beiden aber gingen, ohne viel Tücher
und Umhang, dahin, als sei es plötzlich Frühling
worden.


Hauke hatte sich auf ein Ding besonnen,
dessen passende Verwendung zwar in ungewisser

Zukunft lag, mit dem er sich aber eine stille Feier
zu bereiten gedachte. Deshalb ging er am nächsten
Sonntag in die Stadt zum alten Goldschmied
Andersen und bestellte einen starken Goldring.
„Streckt den Finger her, damit wir messen!” sagte
der Alte und faßte ihm nach dem Goldfinger.
„Nun,” meinte er, „der ist nicht gar so dick,
wie sie bei Euch Leuten sonst zu sein pflegen!”
Aber Hauke sagte: „Messet lieber am kleinen
Finger!” und hielt ihm den entgegen.

Der Goldschmied sah ihn etwas verdutzt an;
aber was kümmerten ihn die Einfälle der jungen
Bauernburschen: „Da werden wir schon so einen
unter den Mädchenringen haben!” sagte er, und
Hauke schoß das Blut durch beide Wangen. Aber
der kleine Goldring paßte auf seinen kleinen Finger,
und er nahm ihn hastig und bezahlte ihn mit
blankem Silber; dann steckte er ihn unter lautem
Herzklopfen, und als ob er einen feierlichen Act
begehe, in die Westentasche. Dort trug er ihn seit-
dem an jedem Tage mit Unruhe und doch mit
Stolz, als sei die Westentasche nur dazu da, um
einen Ring darin zu tragen.

Er trug ihn so über Jahr und Tag, ja der

Ring mußte sogar aus dieser noch in eine neue
Westentasche wandern; die Gelegenheit zu seiner
Befreiung hatte sich noch immer nicht ergeben wollen.
Wohl war's ihm durch den Kopf geflogen, nur
graden Wegs vor seinen Wirth hinzutreten; sein
Vater war ja doch auch ein Eingesessener! Aber
wenn er ruhiger wurde, dann wußte er wohl, der
alte Deichgraf würde seinen Kleinknecht ausgelacht
haben. Und so lebten er und des Deichgrafen
Tochter neben einander hin; auch sie in mädchen-
haftem Schweigen, und Beide doch, als ob sie all-
zeit Hand in Hand gingen.

Ein Jahr nach jenem Winterfesttag hatte Ole
Peters seinen Dienst gekündigt und mit Vollina
Harders Hochzeit gemacht; Hauke hatte recht ge-
habt: der Alte war auf Altentheil gegangen, und
statt der dicken Tochter ritt nun der muntere
Schwiegersohn die gelbe Stute in die Fenne und,
wie es hieß, rückwärts allzeit gegen den Deich
hinan. Hauke war Großknecht geworden, und ein
Jüngerer an seine Stelle getreten; wohl hatte der
Deichgraf ihn erst nicht wollen aufrücken lassen.
„Kleinknecht ist besser!” hatte er gebrummt; „ich
brauch' ihn hier bei meinen Büchern!” Aber Elke

hatte ihm vorgehalten: „dann geht auch Hauke,
Vater!” Da war dem Alten bange geworden, und
Hauke war zum Großknecht aufgerückt, hatte aber
trotz dessen nach wie vor auch an der Deichgraf-
schaft mitgeholfen.

Nach einem andern Jahr aber begann er gegen
Elke davon zu reden, sein Vater werde kümmer-
lich, und die paar Tage, die der Wirth ihn im
Sommer in dessen Wirthschaft lasse, thäten's nun
nicht mehr; der Alte quäle sich, er dürfe das nicht
länger anseh'n. — Es war ein Sommerabend; die
beiden standen im Dämmerschein unter der großen
Esche vor der Hausthür. Das Mädchen sah eine
Weile stumm in die Zweige des Baumes hinauf;
dann entgegnete sie: „Ich hab's nicht sagen wollen,
Hauke; ich dachte, Du würdest selber wohl das
Rechte treffen.”

„Ich muß dann fort aus Eurem Hause,”
sagte er, „und kann nicht wiederkommen.”

Sie schwiegen eine Weile und sahen in das
Abendroth, das drüben hinterm Deiche in das
Meer versank. „Du mußt es wissen,” sagte sie;
„ich war heut' Morgen noch bei Deinem Vater
und fand ihn in seinem Lehnstuhl eingeschlafen;

die Reißfeder in der Hand, das Reißbrett mit
einer halben Zeichnung lag vor ihm auf dem
Tisch; — und da er erwacht war und mühsam
ein Viertelstündchen mit mir geplaudert hatte, und
ich nun gehen wollte, da hielt er mich so angst-
voll an der Hand zurück, als fürchte er, es sei
zum letzten Mal; aber ...”

„Was aber, Elke?” frug Hauke, da sie fort-
zufahren zögerte.

Ein paar Thränen rannen über die Wangen
des Mädchens. „Ich dachte nur an meinen Vater,”
sagte sie; „glaub' mir, es wird ihn schwer an-
kommen, Dich zu missen.” Und als ob sie zu dem
Worte sich ermannen müsse, fügte sie hinzu: „Mir
ist es oft, als ob auch er auf seine Todtenkammer
rüste.”

Hauke antwortete nicht; ihm war es plötzlich,
als rühre sich der Ring in seiner Tasche; aber
noch bevor er seinen Unmuth über diese un-
willkürliche Lebensregung unterdrückt hatte, fuhr
Elke fort: „Nein, zürn' nicht, Hauke! Ich trau',
Du wirst auch so uns nicht verlassen!”

Da ergriff er eifrig ihre Hand, und sie ent-
zog sie ihm nicht. Noch eine Weile standen die

jungen Menschen in dem sinkenden Dunkel bei
einander, bis ihre Hände auseinanderglitten, und
jedes seine Wege ging. — Ein Windstoß fuhr
empor und rauschte durch die Eschenblätter und
machte die Läden klappern, die an der Vorderseite
des Hauses waren; allmälig aber kam die Nacht,
und Stille lag über der ungeheueren Ebene.


Durch Elke's Zuthun war Hauke von dem
alten Deichgrafen seines Dienstes entlassen worden,
obgleich er ihm rechtzeitig nicht gekündigt hatte,
und zwei neue Knechte waren jetzt im Hause. —
Noch ein paar Monate weiter, dann starb Tede
Haien; aber bevor er starb, rief er den Sohn
an seine Lagerstatt: „Setz' Dich zu mir, mein
Kind,” sagte der Alte mit matter Stimme, „dicht
zu mir! Du brauchst Dich nicht zu fürchten; wer
bei mir ist, das ist nur der dunkle Engel des
Herrn, der mich zu rufen kommt.”

Und der erschütterte Sohn setzte sich dicht an
das dunkle Wandbett: „Sprecht Vater, was Ihr
noch zu sagen habt!”

„Ja, mein Sohn, noch Etwas,” sagte der
Alte und streckte seine Hände über das Deckbett.

„Als Du, noch ein halber Junge, zu dem Deich-
grafen in Dienst gingst, da lag's in Deinem Kopf,
das selbst einmal zu werden. Das hatte mich an-
gesteckt, und ich dachte auch allmälig, Du seiest
der rechte Mann dazu. Aber Dein Erbe war für
solch ein Amt zu klein — ich habe während Deiner
Dienstzeit knapp gelebt — ich dacht' es zu ver-
mehren.”

Hauke faßte heftig seines Vaters Hände, und
der Alte suchte sich aufzurichten, daß er ihn sehen
könne. „Ja, ja, mein Sohn,” sagte er, „dort
in der obersten Schublade der Schatulle liegt das
Document. Du weißt, die alte Antje Wohlers
hat eine Fenne von fünf und einem halben Demath;
aber sie konnte mit dem Miethgelde allein in
ihrem krüppelhaften Alter nicht mehr durch-
finden; da habe ich allzeit um Martini eine
bestimmte Summe, und auch mehr, wenn ich es
hatte, dem armen Mensch gegeben; und dafür
hat sie die Fenne mir übertragen; es ist Alles
gerichtlich fertig. — — Nun liegt auch sie am
Tode; die Krankheit unserer Marschen, der Krebs,
hat sie befallen; Du wirst nicht mehr zu zahlen
brauchen!”

Eine Weile schloß er die Augen; dann sagte
er noch: „Es ist nicht viel; doch hast Du mehr
dann, als Du bei mir gewohnt warst. Mög' es
Dir zu Deinem Erdenleben dienen!”

Unter den Dankesworten des Sohnes schlief
der Alte ein. Er hatte nichts mehr zu besorgen;
und schon nach einigen Tagen hatte der dunkle
Engel des Herrn ihm seine Augen für immer zu-
gedrückt, und Hauke trat sein väterliches Erbe an.

— — Am Tage nach dem Begräbniß kam
Elke in dessen Haus. „Dank, daß Du einguckst,
Elke!” rief Hauke ihr als Gruß entgegen.

Aber sie erwiderte: „Ich guck' nicht ein; ich
will bei Dir ein wenig Ordnung schaffen, damit
Du ordentlich in Deinem Hause wohnen kannst!
Dein Vater hat vor seinen Zahlen und Rissen
nicht viel um sich gesehen, und auch der Tod
schafft Wirrsal; ich will's Dir wieder ein wenig
lebig machen!”

Er sah aus seinen grauen Augen voll Ver-
trauen auf sie hin: „So schaff' nur Ordnung!”
sagte er; „ich hab's auch lieber.”

Und dann begann sie aufzuräumen: das Reiß-
brett, das noch da lag, wurde abgestäubt und auf

den Boden getragen; Reißfedern und Bleistift und
Kreide sorgfältig in einer Schatullen-Schublade
weggeschlossen; dann wurde die junge Dienstmagd
zur Hülfe hereingerufen, und mit ihr das Geräthe
der ganzen Stube in eine andere und bessere
Stellung gebracht, so daß es anschien, als sei die-
selbe nun heller und größer geworden. Lächelnd
sagte Elke: „das können nur wir Frauen!” und
Hauke, trotz seiner Trauer um den Vater, hatte
mit glücklichen Augen zugesehen; auch wohl selber,
wo es nöthig war, geholfen.

Und als gegen die Dämmerung — es war
zu Anfang des Septembers — Alles war, wie sie
es für ihn wollte, faßte sie seine Hand und nickte
ihm mit ihren dunkeln Augen zu: „Nun komm
und iß bei uns zu Abend; denn meinem Vater
hab' ich's versprechen müssen, Dich mitzubringen;
wenn Du dann heimgehst, kannst Du ruhig in
Dein Haus treten!”

Als sie dann in die geräumige Wohnstube des
Deichgrafen traten, wo bei verschlossenen Läden
schon die beiden Lichter auf dem Tische brannten,
wollte dieser aus seinem Lehnstuhl in die Höhe,
aber mit seinem schweren Körper zurücksinkend,

rief er nur seinem früheren Knecht entgegen: „Recht,
recht, Hauke, daß Du Deine alten Freunde auf-
suchst! Komm nur näher, immer näher!” Und
als Hauke an seinen Stuhl getreten war, faßte
er dessen Hand mit seinen beiden runden Händen:
„Nun, nun, mein Junge;” sagte er, „sei nur ruhig
jetzt; denn sterben müssen wir Alle, und Dein Vater
war keiner von den Schlechtsten! — Aber Elke, nun
sorg', daß Du den Braten auf den Tisch kriegst;
wir müssen uns stärken! Es gibt viel Arbeit für
uns, Hauke! Die Herbstschau ist in Anmarsch;
Deich- und Sielrechnungen haushoch; der neuliche
Deichschaden am Westerkoog — ich weiß nicht,
wo mir der Kopf steht; aber Deiner, Gott Lob,
ist um ein gut Stück jünger; Du bist ein braver
Junge, Hauke!”

Und nach dieser langen Rede, womit der
Alte sein ganzes Herz dargelegt hatte, ließ er sich
in seinen Stuhl zurückfallen und blinzelte sehn-
süchtig nach der Thür, durch welche Elke eben mit
der Bratenschüssel hereintrat. Hauke stand lächelnd
neben ihm. „Nun setz' Dich,” sagte der Deich-
graf, „damit wir nicht unnöthig Zeit verspillen;
kalt schmeckt das nicht!”

Und Hauke setzte sich; es schien ihm Selbst-
verstand, die Arbeit von Elke's Vater mitzuthun.
Und als die Herbstschau dann gekommen war, und
ein paar Monde mehr ins Jahr gingen, da hatte
er freilich auch den besten Theil daran gethan.”


Der Erzähler hielt inne und blickte um sich.
Ein Mövenschrei war gegen das Fenster geschlagen,
und draußen vom Hausflur aus wurde ein Trampeln
hörbar, als ob einer den Klei von seinen schweren
Stiefeln abtrete.

Deichgraf und Gevollmächtigte wandten die
Köpfe gegen die Stubenthür. „Was ist?” rief der
Erstere.

Ein starker Mann, den Südwester auf
dem Kopf, war eingetreten. „Herr,” sagte er,
„wir Beide haben es gesehen, Hans Nickels und
ich: der Schimmelreiter hat sich in den Bruch
gestürzt!”

„Wo saht Ihr das?” frug der Deichgraf.

— „Es ist ja nur die eine Wehle; in Jansens
Fenne, wo der Hauke-Haienkoog beginnt.”

„Saht Ihr's nur einmal?”

— „Nur einmal; es war auch nur wie

Theodor Storm, Der Schimmelreiter. 6

Schatten; aber es braucht drum nicht das erste
Mal gewesen zu sein.”

Der Deichgraf war aufgestanden. „Sie wollen
entschuldigen,” sagte er, sich zu mir wendend, „wir
müssen draußen nachsehn, wo das Unheil hin
will!” Dann ging er mit dem Boten zur Thür
hinaus; aber auch die übrige Gesellschaft brach auf
und folgte ihm.

Ich blieb mit dem Schullehrer allein in dem
großen öden Zimmer; durch die unverhangenen
Fenster, welche nun nicht mehr durch die Rücken
der davor sitzenden Gäste verdeckt wurden, sah man
frei hinaus, und wie der Sturm die dunklen
Wolken über den Himmel jagte. Der Alte saß
noch auf seinem Platze, ein überlegenes, fast mit-
leidiges Lächeln auf seinen Lippen. „Es ist hier
zu leer geworden,” sagte er; „darf ich Sie zu mir
auf mein Zimmer laden? Ich wohne hier im
Hause; und glauben Sie mir, ich kenne die Wetter
hier am Deich; für uns ist nichts zu fürchten.”

Ich nahm das dankend an; denn auch mich
wollte hier zu frösteln anfangen, und wir stiegen
unter Mitnahme eines Lichtes die Stiegen zu einer
Giebelstube hinauf, die zwar gleichfalls gegen Westen

hinauslag, deren Fenster aber jetzt mit dunklen
Wollteppichen verhangen waren. In einem Bücher-
regal sah ich eine kleine Bibliothek, daneben die
Porträte zweier alter Professoren; vor einem Tische
stand ein großer Ohrenlehnstuhl. „Machen Sie
sich's bequem!” sagte mein freundlicher Wirth und
warf einige Torf in den noch glimmenden kleinen
Ofen, der oben von einem Blechkessel gekrönt war.
„Nur noch ein Weilchen! Er wird bald sausen;
dann brau' ich uns ein Gläschen Grog; das hält
Sie munter!”

„Dessen bedarf es nicht,” sagte ich; „ich
werd' nicht schläfrig, wenn ich Ihren Hauke auf
seinem Lebensweg begleite!”

— „Meinen Sie?” und er nickte mit seinen
klugen Augen zu mir herüber, nachdem ich behaglich
in seinem Lehnstuhl untergebracht war. „Nun, wo
blieben wir denn? — — Ja, ja; ich weiß
schon! Also:

Hauke hatte sein väterliches Erbe angetreten,
und da die alte Antje Wohlers auch ihrem Leiden
erlegen war, so hatte deren Fenne es vermehrt.
Aber seit dem Tode, oder, richtiger, seit den
letzten Worten seines Vaters war in ihm Etwas

6 *

aufgewachsen, dessen Keim er schon seit seiner Knaben-
zeit in sich getragen hatte; er wiederholte es sich
mehr als zu oft, er sei der rechte Mann, wenn's
einen neuen Deichgrafen geben müsse. Das war
es; sein Vater, der es verstehen mußte, der ja der
klügste Mann im Dorf gewesen war, hatte ihm
dieses Wort wie eine letzte Gabe seinem Erbe bei-
gelegt; die Wohler'sche Fenne, die er ihm auch
verdankte, sollte den ersten Trittstein zu dieser Höhe
bilden! Denn, freilich, auch mit dieser — ein Deich-
graf mußte noch einen andern Grundbesitz auf-
weisen können! — — Aber sein Vater hatte sich
einsame Jahre knapp beholfen, und mit dem, was
er sich entzogen hatte, war er des neuen Besitzes
Herr geworden; das konnte er auch, er konnte
noch mehr; denn seines Vaters Kraft war schon
verbraucht gewesen, er aber konnte noch jahrelang
die schwerste Arbeit thun! — — Freilich, wenn er
es dadurch nach dieser Seite hin erzwang, durch
die Schärfen und Spitzen, die er der Verwaltung
seines alten Dienstherrn zugesetzt hatte, war ihm
eben keine Freundschaft im Dorf zu Wege gebracht
worden, und Ole Peters, sein alter Widersacher,
hatte jüngsthin eine Erbschaft gethan und begann

ein wohlhabender Mann zu werden! Eine Reihe
von Gesichtern ging vor seinem innern Blick vor-
über, und sie sahen ihn alle mit bösen Augen an;
da faßte ihn ein Groll gegen diese Menschen, er
streckte die Arme aus, als griffe er nach ihnen;
denn sie wollten ihn vom Amte drängen, zu dem
von allen nur er berufen war. — Und die Ge-
danken ließen ihn nicht; sie waren immer wieder
da, und so wuchsen in seinem jungen Herzen neben
der Ehrenhaftigkeit und Liebe auch die Ehrsucht
und der Haß. Aber diese Beiden verschloß er
tief in seinem Innern; selbst Elke ahnte nichts
davon.

— Als das neue Jahr gekommen war, gab
es eine Hochzeit; die Braut war eine Verwandte
von den Haiens, und Hauke und Elke waren
Beide dort geladene Gäste; ja, bei dem Hochzeit-
essen traf es sich durch das Ausbleiben eines näheren
Verwandten, daß sie ihre Plätze neben einander
fanden. Nur ein Lächeln, das über Beider Antlitz
glitt, verrieth ihre Freude darüber. Aber Elke
saß heute theilnahmlos in dem Geräusche des
Plauderns und Gläserklirrens

„Fehlt Dir etwas?” frug Hauke.

— „O, eigentlich nichts; es sind mir nur zu
viele Menschen hier.”

„Aber Du siehst so traurig aus!”

Sie schüttelte den Kopf; dann sprachen sie
wieder nicht.

Da stieg es über ihr Schweigen wie Eifersucht
in ihm auf, und heimlich unter dem überhängenden
Tischtuch ergriff er ihre Hand; aber sie zuckte
nicht, sie schloß sich wie vertrauensvoll um seine.
Hatte ein Gefühl der Verlassenheit sie befallen, da
ihre Augen täglich auf der hinfälligen Gestalt des
Vaters haften mußten? — Hauke dachte nicht daran,
sich so zu fragen; aber ihm stand der Athem still,
als er jetzt seinen Goldring aus der Tasche zog.
„Läßt Du ihn sitzen?” frug er zitternd, während er
den Ring auf den Goldfinger der schmalen Hand schob.

Gegenüber am Tische saß die Frau Pastorin;
sie legte plötzlich ihre Gabel hin und wandte sich
zu ihrem Nachbar: „Mein Gott, das Mädchen!”
rief sie; „sie wird ja todtenblaß!”

Aber das Blut kehrte schon zurück in Elke's
Antlitz. „Kannst Du warten, Hauke?” frug sie leise.

Der kluge Friese besann sich doch noch ein
paar Augenblicke. „Auf was?” sagte er dann.

— „Du weißt das wohl; ich brauch' Dir's
nicht zu sagen.”

„Du hast recht,” sagte er; „ja, Elke, ich kann
warten — wenn's nur ein menschlich Abseh'n hat!”

„O Gott, ich fürcht', ein nahes! Sprich nicht so,
Hauke; Du sprichst von meines Vaters Tod!” Sie
legte die andere Hand auf ihre Brust: „Bis dahin,”
sagte sie, „trag' ich den Goldring hier; Du sollst
nicht fürchten, daß Du bei meiner Lebzeit ihn zurück-
bekommst!”

Da lächelten sie Beide, und ihre Hände preßten
sich in einander, daß bei anderer Gelegenheit das
Mädchen wohl laut aufgeschrieen hätte.

Die Frau Pastorin hatte indessen unablässig
nach Elke's Augen hingesehen, die jetzt unter dem
Spitzenstrich des goldbrokatenen Käppchens wie in
dunklem Feuer brannten. Bei dem zunehmenden
Getöse am Tische aber hatte sie nichts verstanden;
auch an ihren Nachbar wandte sie sich nicht wieder;
denn keimende Ehen — und um eine solche schien
es ihr sich denn doch hier zu handeln — schon
um des daneben keimenden Traupfennigs für ihren
Mann, den Pastor, pflegte sie nicht zu stören.


Elke's Vorahnung war in Erfüllung gegangen;
eines Morgens nach Ostern hatte man den Deich-
grafen Tede Volkerts todt in seinem Bett ge-
funden; man sah's an seinem Antlitz, ein ruhiges
Ende war darauf geschrieben. Er hatte auch
mehrfach in den letzten Monden Lebensüberdruß
geäußert; sein Leibgericht, der Ofenbraten, selbst
seine Enten hatten ihm nicht mehr schmecken wollen.

Und nun gab es eine große Leiche im Dorf.
Droben auf der Geest auf dem Begräbnißplatz
um die Kirche war zu Westen eine mit Schmiede-
gitter umhegte Grabstätte; ein breiter blauer
Grabstein stand jetzt aufgehoben gegen eine Trauer-
esche, auf welchem das Bild des Todes mit stark
gezahnten Kiefern ausgehauen war; darunter in
großen Buchstaben:

Dat is de Dot, de Allens fritt,
Nimmt Kunst un Wetenschop di mit;
De kloke Mann is nu vergån,
Gott gäw em selik Uperstån.

Es war die Begräbnißstätte des früheren Deich-
grafen Volkert Tedsen; nun war eine frische Grube
gegraben, wo hinein dessen Sohn, der jetzt ver-
storbene Deichgraf Tede Volkerts begraben werden

sollte. Und schon kam unten aus der Marsch der
Leichenzug heran, eine Menge Wagen aus allen
Kirchspielsdörfern; auf dem vordersten stand der
schwere Sarg, die beiden blanken Rappen des
deichgräflichen Stalles zogen ihn schon den sandigen
Anberg zur Geest hinauf; Schweife und Mähnen
der Pferde wehten in dem scharfen Frühjahrswind.
Der Gottesacker um die Kirche war bis an die
Wälle mit Menschen angefüllt; selbst auf dem
gemauerten Thore huckten Buben mit kleinen
Kindern in den Armen; sie wollten alle das Be-
graben anseh'n.

Im Hause drunten in der Marsch hatte Elke
in Pesel und Wohngelaß das Leichenmahl gerüstet;
alter Wein wurde bei den Gedecken hingestellt;
an den Platz des Oberdeichgrafen — denn auch er
war heut' nicht ausgeblieben — und an den des
Pastors je eine Flasche Langkork. Als Alles be-
sorgt war, ging sie durch den Stall vor die Hof-
thür; sie traf Niemanden auf ihrem Wege; die
Knechte waren mit zwei Gespannen in der
Leichenfuhr. Hier blieb sie stehen und sah,
während ihre Trauerkleider im Frühlingswinde
flatterten, wie drüben an dem Dorfe jetzt die

letzten Wagen zur Kirche hinauffuhren. Nach
einer Weile entstand dort ein Gewühl, dem eine
Todtenstille zu folgen schien. Elke faltete die
Hände; sie senkten wohl den Sarg jetzt in die
Grube: „Und zur Erde wieder sollst Du werden!”
Unwillkürlich, leise, als hätte sie von dort es
hören können, sprach sie die Worte nach; dann
füllten ihre Augen sich mit Thränen, ihre über
der Brust gefalteten Hände sanken in den Schooß;
„Vater unser, der Du bist im Himmel!” betete
sie voll Inbrunst. Und als das Gebet des Herrn
zu Ende war, stand sie noch lange unbeweglich,
sie, die jetzige Herrin dieses großen Marschhofes;
und Gedanken des Todes und des Lebens begannen
sich in ihr zu streiten.

Ein fernes Rollen weckte sie. Als sie die
Augen öffnete, sah sie schon wieder einen Wagen
um den anderen in rascher Fahrt von der Marsch
herab und gegen ihren Hof heran kommen. Sie
richtete sich auf, blickte noch einmal scharf hinaus
und ging dann, wie sie gekommen war, durch
den Stall in die feierlich hergestellten Wohn-
räume zurück. Auch hier war Niemand; nur durch
die Mauer hörte sie das Rumoren der Mägde in

der Küche. Die Festtafel stand so still und einsam;
der Spiegel zwischen den Fenstern war mit weißen
Tüchern zugesteckt und ebenso die Messingknöpfe
an dem Beilegerofen; es blinkte nichts mehr in
der Stube. Elke sah die Thüren vor dem Wand-
bett, in dem ihr Vater seinen letzten Schlaf gethan
hatte, offen stehen und ging hinzu und schob sie
fest zusammen; wie gedankenlos las sie den Sinn-
spruch, der zwischen Rosen und Nelken mit goldenen
Buchstaben darauf geschrieben stand:

„Hest du din Dågwark richtig dån,
da kommt de Slåp von sülvst heran.”

Das war noch von dem Großvater! —
Einen Blick warf sie auf den Wandschrank; er
war fast leer; aber durch die Glasthüren sah sie
noch den geschliffenen Pocal darin, der ihrem
Vater, wie er gern erzählt hatte, einst bei einem
Ringreiten in seiner Jugend als Preis zu Theil
geworden war. Sie nahm ihn heraus und setzte
ihn bei dem Gedeck des Oberdeichgrafen. Dann
ging sie ans Fenster; denn schon hörte sie die
Wagen an der Werfte heraufrollen; einer um den
andern hielt vor dem Hause, und munterer, als
sie gekommen waren, sprangen jetzt die Gäste von

ihren Sitzen auf den Boden. Hände reibend und
plaudernd drängte sich Alles in die Stube; nicht
lange, so setzte man sich an die festliche Tafel,
auf der die wohlbereiteten Speisen dampften, im
Pesel der Oberdeichgraf mit dem Pastor; und
Lärm und lautes Schwatzen lief den Tisch entlang,
als ob hier nimmer der Tod seine furchtbare
Stille ausgebreitet hätte. Stumm, das Auge auf
ihre Gäste, ging Elke mit den Mägden an den
Tischen herum, daß an dem Leichenmahle nichts
versehen werde. Auch Hauke Haien saß im Wohn-
zimmer neben Ole Peters und anderen kleineren
Besitzern.

Nachdem das Mahl beendet war, wurden
die weißen Thonpfeifen aus der Ecke geholt und
angebrannt, und Elke war wiederum geschäftig,
die gefüllten Kaffeetassen den Gästen anzubieten;
denn auch der wurde heute nicht gespart. Im
Wohnzimmer an dem Pulte des eben Begrabenen
stand der Oberdeichgraf im Gespräche mit dem
Pastor und dem weißhaarigen Deichgevollmächtigten
Jewe Manners. „Alles gut, Ihr Herren,” sagte
der Erste, „den alten Deichgrafen haben wir mit
Ehren beigesetzt; aber woher nehmen wir den neuen?

Ich denke, Manners, Ihr werdet Euch dieser Würde
unterziehen müssen!”

Der alte Manners hob lächelnd das schwarze
Sammetkäppchen von seinen weißen Haaren: „Herr
Oberdeichgraf,” sagte er, „das Spiel würde zu
kurz werden; als der verstorbene Tede Volkerts
Deichgraf, da wurde ich Gevollmächtigter und bin
es nun schon vierzig Jahre!”

„Das ist kein Mangel, Manners; so kennt
Ihr die Geschäfte um so besser und werdet nicht
Noth mit ihnen haben!”

Aber der Alte schüttelte den Kopf: „Nein,
nein, Euer Gnaden, lasset mich, wo ich bin, so
laufe ich wohl noch ein paar Jahre mit!”

Der Pastor stand ihm bei: „Weshalb,”
sagte er, „nicht den ins Amt nehmen, der es
thatsächlich in den letzten Jahren doch geführt hat?”

Der Oberdeichgraf sah ihn an: „Ich verstehe
nicht, Herr Pastor!”

Aber der Pastor wies mit dem Finger in den
Pesel, wo Hauke in langsam ernster Weise zwei
älteren Leuten Etwas zu erklären schien. „Dort
steht er,” sagte er, „die lange Friesengestalt mit
den klugen grauen Augen neben der hageren Nase

und den zwei Schädelwölbungen darüber! Er war
des Alten Knecht und sitzt jetzt auf seiner eigenen
kleinen Stelle; er ist zwar etwas jung!”

„Er scheint ein Dreißiger,” sagte der Ober-
deichgraf, den ihm so Vorgestellten musternd.

„Er ist kaum vierundzwanzig,” bemerkte der
Gevollmächtigte Manners; „aber der Pastor hat
recht: was in den letzten Jahren Gutes für Deiche
und Siele und dergleichen vom Deichgrafenamt in
Vorschlag kam, das war von ihm; mit dem Alten
war's doch zuletzt nichts mehr.”

„So, so?” machte der Oberdeichgraf; „und
Ihr meinet, er wäre nun auch der Mann, um
in das Amt seines alten Herrn einzurücken?”

„Der Mann wäre er schon,” entgegnete Jewe
Manners; „aber ihm fehlt das, was man hier
„Klei unter den Füßen” nennt; sein Vater hatte
so um fünfzehn, er mag gut zwanzig Demath
haben; aber damit ist bis jetzt hier Niemand Deich-
graf geworden.”

Der Pastor that schon den Mund auf, als
wolle er Etwas einwenden, da trat Elke Volkerts,
die eine Weile schon im Zimmer gewesen, plötzlich
zu ihnen: „Wollen Euer Gnaden mir ein Wort

erlauben?” sprach sie zu dem Oberbeamten; „es
ist nur, damit aus einem Irrthum nicht ein Un-
recht werde!”

„So sprecht, Jungfer Elke!” entgegnete dieser;
„Weisheit von hübschen Mädchenlippen hört sich
allzeit gut!”

— „Es ist nicht Weisheit, Euer Gnaden; ich
will nur die Wahrheit sagen.”

„Auch die muß man ja hören können, Jungfer
Elke!”

Das Mädchen ließ ihre dunkeln Augen noch
einmal zur Seite gehen, als ob sie wegen über-
flüssiger Ohren sich versichern wolle: „Euer Gnaden,”
begann sie dann, und ihre Brust hob sich in
stärkerer Bewegung, „mein Pathe, Jewe Manners,
sagte Ihnen, daß Hauke Haien nur etwa zwanzig
Demath im Besitz habe; das ist im Augenblick
auch richtig; aber sobald es sein muß, wird Hauke
noch um so viel mehr sein eigen nennen, als dieser,
meines Vaters, jetzt mein Hof an Demathzahl
beträgt; für einen Deichgrafen wird das zusammen
denn wohl reichen.”

Der alte Manners reckte den weißen Kopf
gegen sie, als müsse er erst sehen, wer denn eigentlich

da rede: „Was ist das?” sagte er; „Kind, was
sprichst Du da?”

Aber Elke zog an einem schwarzen Bändchen
einen blinkenden Goldring aus ihrem Mieder:
„Ich bin verlobt, Pathe Manners,” sagte sie;
„hier ist der Ring, und Hauke Haien ist mein
Bräutigam.”

— „Und wann — ich darf's wohl fragen, da
ich Dich aus der Taufe hob, Elke Volkerts —
wann ist denn das passirt?”

— „Das war schon vor geraumer Zeit; doch
war ich mündig, Pathe Manners,” sagte sie;
„mein Vater war schon hinfällig worden, und da
ich ihn kannte, so wollt' ich ihn nicht mehr damit
beunruhigen; itzt, da er bei Gott ist, wird er ein-
sehen, daß sein Kind bei diesem Manne wohl ge-
borgen ist. Ich hätte es auch das Trauerjahr
hindurch schon ausgeschwiegen; jetzt aber, um
Hauke's und um des Kooges willen, hab' ich reden
müssen.” Und zum Oberdeichgrafen gewandt, setzte
sie hinzu: „Euer Gnaden wollen mir das verzeihen!”

Die drei Männer sahen sich an; der Pastor
lachte, der alte Gevollmächtigte ließ es bei einem
„Hmm, Hmm!” bewenden, während der Oberdeich-

graf wie vor einer wichtigen Entscheidung sich die
Stirn rieb. „Ja, liebe Jungfer,” sagte er endlich,
„aber wie steht es denn hier im Kooge mit den
ehelichen Güterrechten? Ich muß gestehen, ich bin
augenblicklich nicht recht capitelfest in diesem
Wirrsal!”

„Das brauchen Euer Gnaden auch nicht,”
entgegnete des Deichgrafen Tochter, „ich werde vor
der Hochzeit meinem Bräutigam die Güter über-
tragen. Ich habe auch meinen kleinen Stolz,”
setzte sie lächelnd hinzu; „ich will den reichsten
Mann im Dorfe heirathen!”

„Nun, Manners,” meinte der Pastor, „ich
denke, Sie werden auch als Pathe nichts dagegen
haben, wenn ich den jungen Deichgrafen mit des
alten Tochter zusammengebe!”

Der Alte schüttelte leis den Kopf: „Unser
Herr Gott gebe seinen Segen!” sagte er andächtig.

Der Oberdeichgraf aber reichte dem Mädchen
seine Hand: „Wahr und weise habt Ihr gesprochen,
Elke Volkerts; ich danke Euch für so kräftige Er-
läuterungen und hoffe auch in Zukunft, und bei
freundlicheren Gelegenheiten als heute, der Gast
Eueres Hauses zu sein; aber — daß ein Deichgraf

Theodor Storm, Der Schimmelreiter. 7

von solch junger Jungfer gemacht wurde, das ist
das Wunderbare an der Sache!”

„Euer Gnaden,” erwiderte Elke und sah den
gütigen Oberbeamten noch einmal mit ihren ernsten
Augen an, „einem rechten Manne wird auch die
Frau wohl helfen dürfen!” Dann ging sie in den
anstoßenden Pesel und legte schweigend ihre Hand
in Hauke Haien's.


Es war um mehrere Jahre später: in dem
kleinen Hause Tede Haien's wohnte jetzt ein rüstiger
Arbeiter mit Frau und Kind; der junge Deichgraf
Hauke Haien saß mit seinem Weibe Elke Volkerts
auf deren väterlicher Hofstelle. Im Sommer rauschte
die gewaltige Esche nach wie vor am Hause; aber
auf der Bank, die jetzt darunter stand, sah man
abends meist nur die junge Frau, einsam mit einer
häuslichen Arbeit in den Händen; noch immer fehlte
ein Kind in dieser Ehe; der Mann aber hatte
Anderes zu thun, als Feierabend vor der Thür zu
halten; denn trotz seiner früheren Mithülfe lagen
aus des Alten Amtsführung eine Menge unerledigter
Dinge, an die auch er derzeit zu rühren nicht für
gut gefunden hatte; jetzt aber mußte allmälig
Alles aus dem Wege; er fegte mit einem scharfen
Besen. Dazu kam die Bewirthschaftung der durch
seinen eigenen Landbesitz vergrößerten Stelle, bei

7 *

der er gleichwohl den Kleinknecht noch zu sparen
suchte; so sahen sich die beiden Eheleute, außer am
Sonntag, wo Kirchgang gehalten wurde, meist nur
bei dem von Hauke eilig besorgten Mittagessen
und beim Auf- und Niedergang des Tages; es war
ein Leben fortgesetzter Arbeit, doch gleichwohl ein
zufriedenes.

Dann kam ein störendes Wort in Umlauf. —
Als von den jüngeren Besitzern der Marsch- und
Geestgemeinde eines Sonntags nach der Kirche ein
etwas unruhiger Trupp im Kruge droben am Trunke
festgeblieben war, redeten sie beim vierten oder
fünften Glase zwar nicht über König und Re-
gierung — so hoch wurde damals noch nicht ge-
griffen — wohl aber über Communal- und Ober-
beamte, vor Allem über Gemeindeabgaben und
-Lasten, und je länger sie redeten, desto weniger
fand davon Gnade vor ihren Augen, insonders
nicht die neuen Deichlasten; alle Sielen und
Schleusen, die sonst immer gehalten hätten, seien
jetzt reparaturbedürftig; am Deiche fänden sich
immer neue Stellen, die Hunderte von Karren
Erde nöthig hätten; der Teufel möchte die Ge-
schichte holen!

„Das kommt von Eurem klugen Deichgrafen,”
rief einer von den Geestleuten, „der immer grübeln
geht und seine Finger dann in Alles steckt!”

„Ja, Marten,” sagte Ole Peters, der dem
Sprecher gegenüber saß; „recht hast Du, er ist
hinterspinnig und sucht beim Oberdeichgraf sich 'nen
weißen Fuß zu machen; aber wir haben ihn nun
einmal!”

„Warum habt Ihr ihn Euch aufhucken lassen?”
sagte der Andre; „nun müßt Ihr's baar be-
zahlen.”

Ole Peters lachte. „Ja, Marten Fedders,
das ist nun so bei uns, und davon ist nichts
abzukratzen: der alte wurde Deichgraf von seines
Vaters, der neue von seines Weibes wegen.”
Das Gelächter, das jetzt um den Tisch lief,
zeigte, welchen Beifall das geprägte Wort gefunden
hatte.

Aber es war an öffentlicher Wirthstafel ge-
sprochen worden, es blieb nicht da, es lief bald
um im Geest- wie unten in dem Marschdorf; so
kam es auch an Hauke. Und wieder ging vor
seinem inneren Auge die Reihe übelwollender Ge-
sichter vorüber, und noch höhnischer, als es ge-

wesen war, hörte er das Gelächter an dem Wirths-
haustische. „Hunde!” schrie er, und seine Augen
sahen grimm zur Seite, als wolle er sie peitschen
lassen.

Da legte Elke ihre Hand auf seinen Arm:
„Laß sie! die wären Alle gern, was Du bist!”

— „Das ist es eben!” entgegnete er grollend.

„Und,” fuhr sie fort, „hat denn Ole Peters
sich nicht selber eingefreit?”

„Das hat er, Elke; aber was er mit Vollina
freite, das reichte nicht zum Deichgrafen!”

— „Sag' lieber: er reichte nicht dazu!” und
Elke drehte ihren Mann, so daß er sich im Spiegel
sehen mußte; denn sie standen zwischen den Fenstern
in ihrem Zimmer. „Da steht der Deichgraf!”
sagte sie; „nun sieh ihn an; nur wer ein Amt
regieren kann, der hat es!”

„Du hast nicht unrecht,” entgegnete er sinnend,
„und doch ..... Nun, Elke; ich muß zur Oster-
schleuse; die Thüren schließen wieder nicht!”

Sie drückte ihm die Hand: „Komm, sieh mich
erst einmal an! Was hast Du, Deine Augen sehen
so ins Weite?”

„Nichts, Elke; Du hast ja recht.” —

Er ging; aber nicht lange war er gegangen,
so war die Schleusenreparatur vergessen. Ein anderer
Gedanke, den er, halb nur ausgedacht und seit
Jahren mit sich umhergetragen hatte, der aber vor
den drängenden Amtsgeschäften ganz zurückgetreten
war, bemächtigte sich seiner jetzt aufs Neue und
mächtiger als je zuvor, als seien plötzlich die Flügel
ihm gewachsen.

Kaum daß er es selber wußte, befand er sich
oben auf dem Hafdeich, schon eine weite Strecke
südwärts nach der Stadt zu; das Dorf, das nach
dieser Seite hinauslag, war ihm zur Linken längst
verschwunden; noch immer schritt er weiter, seine
Augen unablässig nach der Seeseite auf das breite
Vorland gerichtet; wäre Jemand neben ihm ge-
gangen, er hätte es sehen müssen, welch' eindringliche
Geistesarbeit hinter diesen Augen vorging. Endlich
blieb er stehen: das Vorland schwand hier zu einem
schmalen Streifen an dem Deich zusammen. „Es
muß gehen!” sprach er bei sich selbst. „Sieben
Jahr' im Amt; sie sollen nicht mehr sagen, daß
ich nur Deichgraf bin von meines Weibes wegen!”

Noch immer stand er, und seine Blicke schweiften
scharf und bedächtig nach allen Seiten über das

grüne Vorland; dann ging er zurück, bis wo auch
hier ein schmaler Streifen grünen Weidelands die
vor ihm liegende breite Landfläche ablöste. Hart
an dem Deiche aber schoß ein starker Meeresstrom
durch diese, der fast das ganze Vorland von dem
Festlande trennte und zu einer Hallig machte; eine
rohe Holzbrücke führte nach dort hinüber, damit
man mit Vieh und Heu- oder Getreidewagen hin-
über und wieder zurück gelangen könne. Jetzt war
es Ebbzeit, und die goldene Septembersonne glitzerte
auf dem etwa hundert Schritte breiten Schlick-
streifen und auf dem tiefen Priehl in seiner Mitte,
durch den auch jetzt das Meer noch seine Wasser trieb.
„Das läßt sich dämmen!” sprach Hauke bei sich
selber, nachdem er diesem Spiele eine Zeit lang
zugesehen; dann blickte er auf, und von dem Deiche,
auf dem er stand, über den Priehl hinweg, zog er
in Gedanken eine Linie längs dem Rande des ab-
getrennten Landes, nach Süden herum und ostwärts
wiederum zurück über die dortige Fortsetzung des
Priehles und an den Deich heran. Die Linie aber,
welche er unsichtbar gezogen hatte, war ein neuer Deich,
neu auch in der Construction seines Profiles, welches
bis jetzt nur noch in seinem Kopf vorhanden war.

„Das gäbe einen Koog von circa tausend
Demath,” sprach er lächelnd zu sich selber; „nicht
groß just; aber ...”

Eine andere Calculation überkam ihn: das
Vorland gehörte hier der Gemeinde, ihren einzelnen
Mitgliedern eine Zahl von Antheilen, je nach der
Größe ihres Besitzes im Gemeindebezirk oder nach
sonst zu Recht bestehender Erwerbung; er begann
zusammenzuzählen, wie viel Antheile er von seinem,
wie viele er von Elke's Vater überkommen, und
was an solchen er während seiner Ehe schon selbst
gekauft hatte, theils in dem dunklen Gefühle eines
künftigen Vortheils, theils bei Vermehrung seiner
Schafzucht. Es war schon eine ansehnliche Menge;
denn auch von Ole Peters hatte er dessen sämmt-
liche Theile angekauft, da es diesem zum Verdruß
geschlagen war, als bei einer theilweisen Ueber-
strömung ihm sein bester Schafbock ertrunken war.
Aber das war ein seltsamer Unfall gewesen; denn,
soweit Hauke's Gedächtniß reichte, waren selbst bei
hohen Fluthen dort nur die Ränder überströmt
worden. Welch' treffliches Weide- und Kornland
mußte es geben und von welchem Werthe, wenn
das Alles von seinem neuen Deich umgeben war!

Wie ein Rausch stieg es ihm ins Gehirn; aber er
preßte die Nägel in seine Handflächen und zwang
seine Augen, klar und nüchtern zu sehen, was dort
vor ihm lag: eine große deichlose Fläche, wer
wußt' es, welchen Stürmen und Fluthen schon in
den nächsten Jahren preisgegeben, an deren äußerstem
Rande jetzt ein Trupp von schmutzigen Schafen
langsam grasend entlang wanderte; dazu für ihn
ein Haufen Arbeit, Kampf und Aerger! Trotz alle-
dem, als er vom Deich hinab und den Fußsteig
über die Fennen auf seine Werfte zuging, ihm
war's, als brächte er einen großen Schatz mit sich
nach Hause.

Auf dem Flur trat Elke ihm entgegen: „Wie
war es mit der Schleuse?” frug sie.

Er sah mit geheimnißvollem Lächeln auf sie
nieder: „Wir werden bald eine andere Schleuse
brauchen,” sagte er; „und Sielen und einen neuen
Deich!”

„Ich versteh' Dich nicht.” entgegnete Elke,
während sie in das Zimmer gingen; „was willst
Du, Hauke?”

„Ich will,” sagte er langsam und hielt dann
einen Augenblick inne, „ich will, daß das große

Vorland, das unserer Hofstatt gegenüber beginnt
und dann nach Westen ausgeht, zu einem festen
Kooge eingedeicht werde: die hohen Fluthen haben
fast ein Menschenalter uns in Ruh' gelassen; wenn
aber eine von den schlimmen wiederkommt und
den Anwachs stört, so kann mit einem Mal die
ganze Herrlichkeit zu Ende sein; nur der alte
Schlendrian hat das bis heut' so lassen können!”

Sie sah ihn voll Erstaunen an: „So schiltst
Du Dich ja selber!” sagte sie.

— „Das thu' ich, Elke; aber es war bisher
auch so viel Anderes zu beschaffen!”

„Ja, Hauke; gewiß, Du hast genug gethan!”

Er hatte sich in den Lehnstuhl des alten Deich-
grafen gesetzt, und seine Hände griffen fest um beide
Lehnen.

„Hast Du denn guten Muth dazu?” frug
ihn sein Weib.

— „Das hab' ich, Elke!” sprach er hastig.

„Sei nicht zu rasch, Hauke; das ist ein Werk
auf Tod und Leben; und fast Alle werden Dir
entgegen sein, man wird Dir Deine Müh' und
Sorg' nicht danken!”

Er nickte: „Ich weiß!” sagte er.

„Und wenn es nun nicht gelänge!” rief sie
wieder; „von Kindesbeinen an hab' ich gehört, der
Priehl sei nicht zu stopfen, und darum dürfe nicht
daran gerührt werden.”

„Das war ein Vorwand für die Faulen!”
sagte Hauke; „weshalb denn sollte man den Priehl
nicht stopfen können?”

— „Das hört' ich nicht; vielleicht, weil er
gerade durchgeht; die Spülung ist zu stark.” —
Eine Erinnerung überkam sie, und ein fast schelmisches
Lächeln brach aus ihren ernsten Augen: „Als ich
Kind war,” sprach sie, „hörte ich einmal die Knechte
darüber reden; sie meinten, wenn ein Damm dort
halten solle, müsse was Lebigs da hinein geworfen
und mit verdämmt werden; bei einem Deichbau
auf der andern Seite, vor wohl hundert Jahren,
sei ein Zigeunerkind verdämmet worden, das sie
um schweres Geld der Mutter abgehandelt hätten;
jetzt aber würde wohl Keine ihr Kind verkaufen!”

Hauke schüttelte den Kopf: „Da ist es gut,
daß wir keins haben; sie würden es sonst noch
schier von uns verlangen!”

„Sie sollten's nicht bekommen!” sagte Elke
und schlug wie in Angst die Arme über ihren Leib.

Und Hauke lächelte; doch sie frug noch einmal:
„Und die ungeheuren Kosten? Hast Du das be-
dacht?”

— „Das hab' ich, Elke; was wir dort heraus-
bringen, wird sie bei Weitem überholen, auch die
Erhaltungskosten des alten Deiches gehen für ein
gut' Stück in dem neuen unter; wir arbeiten ja
selbst und haben über achtzig Gespanne in der
Gemeinde, und an jungen Fäusten ist hier auch
kein Mangel. Du sollst mich wenigstens nicht um-
sonst zum Deichgrafen gemacht haben, Elke; ich
will ihnen zeigen, daß ich einer bin!”

Sie hatte sich vor ihm niedergehuckt und ihn
sorgvoll angeblickt; nun erhob sie sich mit einem
Seufzer: „Ich muß weiter zu meinem Tagewerk,”
sagte sie, und ihre Hand strich langsam über seine
Wange; „thu' Du das Deine, Hauke!”

„Amen, Elke!” sprach er mit ernstem Lächeln;
„Arbeit ist für uns Beide da!”

— — Und es war Arbeit genug für Beide,
die schwerste Last aber fiel jetzt auf des Mannes
Schulter. An Sonntagnachmittagen, oft auch nach
Feierabend, saß Hauke mit einem tüchtigen Feld-
messer zusammen, vertieft in Rechenaufgaben,

Zeichnungen und Rissen; war er allein, dann ging
es ebenso und endete oft weit nach Mitternacht.
Dann schlich er in die gemeinsame Schlafkammer —
denn die dumpfen Wandbetten im Wohngemach
wurden in Hauke's Wirthschaft nicht mehr ge-
braucht — und sein Weib, damit er endlich nur
zur Ruhe komme, lag wie schlafend mit geschlossenen
Augen, obgleich sie mit klopfendem Herzen nur auf
ihn gewartet hatte; dann küßt er mitunter ihre
Stirn und sprach ein leises Liebeswort dabei, und
legte sich selbst zum Schlafe, der ihm oft nur beim
ersten Hahnenkraht zu willen war. Im Winter-
sturm lief er auf den Deich hinaus, mit Bleistift
und Papier in der Hand, und stand und zeichnete
und notierte, während ein Windstoß ihm die Mütze
vom Kopf riß, und das lange, fahle Haar ihm
um sein heißes Antlitz flog; bald fuhr er, solange
nur das Eis ihm nicht den Weg versperrte, mit
einem Knecht zu Boot ins Wattenmeer hinaus und
maß dort mit Loth und Stange die Tiefen der
Ströme, über die er noch nicht sicher war. Elke
zitterte oft genug für ihn; aber war er wieder
da, so hätte er das nur aus ihrem festen Hände-
druck oder dem leuchtenden Blitz aus ihren sonst

so stillen Augen merken können. „Geduld, Elke,”
sagte er, da ihm einmal war, als ob sein Weib
ihn nicht lassen könne; „ich muß erst selbst im
Reinen sein, bevor ich meinen Antrag stelle!” Da
nickte sie und ließ ihn gehen. Der Ritte in die
Stadt zum Oberdeichgrafen wurden auch nicht
wenige, und allem diesen und den Mühen in
Haus- und Landwirthschaft folgten immer wieder
die Arbeiten in die Nacht hinein. Sein Verkehr
mit anderen Menschen außer in Arbeit und Ge-
schäft verschwand fast ganz; der selbst mit seinem
Weibe wurde immer weniger. „Es sind schlimme
Zeiten, und sie werden noch lange dauern,”
sprach Elke bei sich selber, und ging an ihre
Arbeit.

Endlich, Sonne und Frühlingswinde hatten
schon überall das Eis gebrochen, war auch die
letzte Vorarbeit gethan; die Eingabe an den Ober-
deichgrafen zur Befürwortung an höherem Orte,
enthaltend den Vorschlag einer Bedeichung des er-
wähnten Vorlandes, zur Förderung des öffentlichen
Besten, infonders des Kooges, wie nicht weniger
der Herrschaftlichen Kasse, da höchstderselben in
kurzen Jahren die Abgaben von ca. 1000 Demath

daraus erwachsen würden, — war sauber abge-
schrieben und nebst anliegenden Rissen und Zeich-
nungen aller Localitäten, jetzt und künftig, der
Schleusen und Siele und was noch sonst dazu
gehörte, in ein festes Convolut gepackt und mit dem
deichgräflichen Amtssiegel versehen worden.

„Da ist es, Elke,” sagte der junge Deichgraf,
„nun gib ihm Deinen Segen!”

Elke legte ihre Hand in seine: „Wir wollen
fest zusammenhalten,” sagte sie.

— „Das wollen wir.”


Dann wurde die Eingabe durch einen reitenden
Boten in die Stadt gesandt.

„Sie wollen bemerken, lieber Herr,” unterbrach
der Schulmeister seine Erzählung, mich freundlich
mit seinen feinen Augen fixirend, „daß ich das
bisher Berichtete während meiner fast vierzig-
jährigen Wirksamkeit in diesem Kooge aus den
Ueberlieferungen verständiger Leute, oder aus Er-
zählungen der Enkel und Urenkel solcher zusammen-
gefunden habe; was ich, damit Sie dieses mit
dem endlichen Verlauf in Einklang zu bringen
vermögen, Ihnen jetzt vorzutragen habe, das war

derzeit und ist auch jetzt noch das Geschwätz des
ganzen Marschdorfes, so bald nur um Allerheiligen
die Spinnräder an zu schnurren fangen.

Von der Hofstelle des Deichgrafen, etwa fünf
bis sechshundert Schritte weiter nordwärts, sah
man derzeit, wenn man auf dem Deiche stand, ein
paar tausend Schritt ins Wattenmeer hinaus und
etwas weiter von dem gegenüberliegenden Marsch-
ufer entfernt eine kleine Hallig, die sie „Jeverssand”
auch „Jevershallig” nannten. Von den derzeitigen
Großvätern war sie noch zur Schafweide benutzt
worden, denn Gras war damals noch darauf ge-
wachsen; aber auch das hatte aufgehört, weil die
niedrige Hallig ein paar Mal, und just im Hoch-
sommer, unter Seewasser gekommen und der Gras-
wuchs dadurch verkümmert und auch zur Schaf-
weide unnutzbar geworden war. So kam es denn,
daß außer von Möwen und den andern Vögeln, die
am Strande fliegen, und etwa einmal von einem
Fischadler dort kein Besuch mehr stattfand; und
an mondhellen Abenden sah man vom Deiche aus
nur die Nebeldünste leichter oder schwerer darüber
hinziehen. Ein paar weißgebleichte Knochengerüste
ertrunkener Schafe und das Gerippe eines Pferdes,

Theodor Storm, Der Schimmelreiter. 8

von dem freilich Niemand begriff, wie es dort hin-
gekommen sei, wollte man, wenn der Mond von
Osten auf die Hallig schien, dort auch erkennen
können.

Es war zu Ende März, als an dieser Stelle
nach Feierabend der Tagelöhner aus dem Tede
Haienschen Hause und Iven Johns, der Knecht des
jungen Deichgrafen, neben einander standen und
unbeweglich nach der im trüben Mondduft kaum
erkennbaren Hallig hinüberstarrten; etwas Auf-
fälliges schien sie dort so festzuhalten. Der Tage-
löhner steckte die Hände in die Tasche und schüttelte
sich: „Komm Iven,” sagte er, „das ist nichts
Gutes; laß uns nach Haus gehen!”

Der andere lachte, wenn auch ein Grauen
bei ihm hindurchklang: „Ei was! Es ist eine lebige
Creatur, eine große! Wer, zum Teufel, hat sie
nach dem Schlickstück hinaufgejagt! Sieh' nur, nun
reckt's den Hals zu uns hinüber! Nein, es senkt
den Kopf; es frißt! Ich dächt', es wär' dort
nichts zu fressen! Was es nur sein mag?”

„Was geht das uns an!” entgegnete der Andere.
„Gute Nacht, Iven, wenn Du nicht mit willst; ich
gehe nach Haus!”

— „Ja, ja; Du hast ein Weib, Du kommst
ins warme Bett! Bei mir ist auch in meiner
Kammer lauter Märzenluft!”

„Gut' Nacht denn!” rief der Tagelöhner
zurück, während er auf dem Deich nach Hause trabte.
Der Knecht sah sich ein paar Mal nach dem Fort-
laufenden um; aber die Begier, Unheimliches zu
schauen, hielt ihn noch fest. Da kam eine unter-
setzte, dunkle Gestalt auf dem Deich vom Dorf her
gegen ihn heran; es war der Dienstjunge des
Deichgrafen. „Was willst Du, Carsten?” rief
ihm der Knecht entgegen.

„Ich? — nichts,” sagte der Junge; „aber
unser Wirth will Dich sprechen, Iven Johns!”

Der Knecht hatte die Augen schon wieder nach
der Hallig: „Gleich; ich komme gleich!” sagte er.

— „Wonach guckst Du denn so?” frug der
Junge.

Der Knecht hob den Arm und wies stumm nach
der Hallig. „Oha!” flüsterte der Junge; „da geht
ein Pferd — ein Schimmel — das muß der Teufel
reiten — wie kommt ein Pferd nach Jevershallig?”

— „Weiß nicht, Carsten; wenn's nur ein
richtiges Pferd ist!”

8*

„Ja, ja, Iven; sieh nur, es frißt ganz wie
ein Pferd! Aber wer hat's dahin gebracht; wir
haben im Dorf so große Böte gar nicht! Viel-
leicht auch ist es nur ein Schaf; Peter Ohm sagt,
im Mondschein wird aus zehn Torfringeln ein
ganzes Dorf. Nein, sieh! Nun springt es —
es muß doch ein Pferd sein!”

Beide standen eine Weile schweigend, die
Augen nur nach Dem gerichtet, was sie drüben
undeutlich vor sich gehen sahen. Der Mond stand
hoch am Himmel und beschien das weite Watten-
meer, das eben in der steigenden Fluth seine Wasser
über die glitzernden Schlickflächen zu spülen be-
gann; nur das leise Geräuch des Wassers, keine
Thierstimme war in der ungeheuren Weite hier
zu hören; auch in der Marsch, hinter dem Deiche,
war es leer; Kühe und Rinder waren alle noch
in den Ställen. Nichts regte sich; nur was sie für
ein Pferd, einen Schimmel hielten, schien dort
auf Jevershallig noch beweglich. „Es wird heller,”
unterbrach der Knecht die Stille; „ich sehe deutlich
die weißen Schafgerippe schimmern!”

„Ich auch,” sagte der Junge, und reckte den
Hals; dann aber, als komme es ihm plötzlich,

zupfte er den Knecht am Aermel: „Iven,” raunte er,
„das Pferdsgerippe, das sonst dabei lag, wo ist es?
Ich kann's nicht sehen!”

„Ich seh' es auch nicht! Seltsam!” sagte
der Knecht.

— „Nicht so seltsam, Iven! Mitunter, ich
weiß nicht, in welchen Nächten, sollen die Knochen
sich erheben und thun, als ob sie lebig wären!”

„So?” machte der Knecht; „das ist ja Alt-
weiberglaube!”

„Kann sein, Iven,” meinte der Junge.

„Aber, ich mein', Du sollst mich holen; komm,
wir müssen nach Haus! Es bleibt hier immer doch
dasselbe.”

Der Junge war nicht fortzubringen, bis der
Knecht ihn mit Gewalt herumgedreht und auf den
Weg gebracht hatte. „Hör', Carsten,” sagte dieser,
als die gespensterhafte Hallig ihnen schon ein gut
Stück im Rücken lag, „Du giltst ja für einen
Allerweltsbengel; ich glaub', Du möchtest das am
liebsten selber untersuchen!”

„Ja,” entgegnete Carsten, nachträglich noch
ein wenig schaudernd, „ja, das möcht' ich, Iven!”

— „Ist das Dein Ernst? — dann,” sagte

der Knecht, nachdem der Junge ihm nachdrücklich
darauf die Hand geboten hatte, „lösen wir morgen
Abend unser Boot; Du fährst nach Jeverssand;
ich bleib' solange auf dem Deiche stehen.”

„Ja,” erwiderte der Junge, „das geht! Ich
nehme meine Peitsche mit!”

„Thu das!”

Schweigend kamen sie an das Haus ihrer
Herrschaft, zu dem sie langsam die hohe Werft
hinanstiegen.


Um die selbe Zeit des folgenden Abends saß
der Knecht auf dem großen Steine vor der Stallthür,
als der Junge mit seiner Peitsche knallend zu ihm
kam. „Das pfeift ja wunderlich!” sagte Jener.

„Freilich, nimm Dich in Acht,” entgegnete der
Junge; „ich hab' auch Nägel in die Schnur ge-
flochten.”

„So komm!” sagte der Andere.

Der Mond stand, wie gestern, am Ost-
himmel und schien klar aus seiner Höhe. Bald
waren Beide wieder draußen auf dem Deich und
sahen hinüber nach Jevershallig, die wie ein Nebel-
fleck im Wasser stand. „Da geht es wieder,” sagte

der Knecht; „nach Mittag war ich hier, da war's
nicht da; aber ich sah deutlich das weiße Pferds-
gerippe liegen!”

Der Junge reckte den Hals: „das ist jetzt
nicht da, Iven,” flüsterte er.

„Nun, Carsten, wie ist's?” sagte der Knecht.
„Juckt's Dich noch, hinüberzufahren?”

Carsten besann sich einen Augenblick; dann
klatschte er mit seiner Peitsche in die Luft: „Mach'
nur das Boot los, Iven!”

Drüben aber war es, als hebe, was dorten
ging, den Hals, und recke gegen das Festland hin
den Kopf. Sie sahen es nicht mehr; sie gingen
schon den Deich hinab, und bis zur Stelle, wo
das Boot gelegen war. „Nun, steig nur ein!”
sagte der Knecht, nachdem er es losgebunden hatte.
„Ich bleib', bis Du zurück bist! Zu Osten mußt
Du anlegen; da hat man immer landen können!”
Und der Junge nickte schweigend und fuhr mit
seiner Peitsche in die Mondnacht hinaus; der
Knecht wanderte unterm Deich zurück und bestieg
ihn wieder an der Stelle, wo sie vorhin gestanden
hatten. Bald sah er, wie drüben bei einer
schroffen, dunkelen Stelle, an die ein breiter Priehl

hinanführte, das Boot sich beilegte, und eine unter-
setzte Gestalt daraus ans Land sprang. — War's
nicht, als klatschte der Junge mit seiner Peitsche?
Aber es konnte auch das Geräusch der steigenden
Fluth sein. Mehrere hundert Schritte nordwärts
sah er, was sie für einen Schimmel angesehen
hatten; und jetzt! — ja, die Gestalt des Jungen
kam gerade darauf zugegangen. Nun hob es den
Kopf, als ob es stutze; und der Junge — es war
deutlich jetzt zu hören — klatschte mit der Peitsche.
Aber — was fiel ihm ein? er kehrte um, er ging
den Weg zurück, den er gekommen war. Das drüben
schien unablässig fortzuweiden, kein Wiehern war
von dort zu hören gewesen; wie weiße Wasserstreifen
schien es mitunter über die Erscheinung hinzuziehen.
Der Knecht sah wie gebannt hinüber.

Da hörte er das Anlegen des Bootes am
diesseitigen Ufer, und bald sah er aus der
Dämmerung den Jungen gegen sich am Deich
heraufsteigen. „Nun, Carsten,” frug er, „was
war es?”

Der Junge schüttelte den Kopf. „Nichts war
es!” sagte er. „Noch kurz vom Bootaus hatte
ich es gesehen; dann aber, als ich auf der Hallig

war — weiß der Henker, wo sich das Thier ver-
krochen hatte; der Mond schien doch hell genug;
aber als ich an die Stelle kam, war nichts da
als die bleichen Knochen von einem halben Dutzend
Schafen, und etwas weiter lag auch das Pferds-
gerippe mit seinem weißen, langen Schädel, und
ließ den Mond in seine leeren Augenhöhlen
scheinen!”

„Hmm!” meinte der Knecht; „hast auch recht
zugesehen?”

„Ja, Iven, ich stand dabei; ein gottvergessener
Kiewiet, der hinter dem Gerippe sich zur Nachtruh'
hingeduckt hatte, flog schreiend auf, daß ich er-
schrak und ein paar Mal mit der Peitsche hinten-
nach klatschte.”

„Und das war Alles?”

„Ja, Iven; ich weiß nicht mehr.”

„Es ist auch genug,” sagte der Knecht, zog
den Jungen am Arm zu sich heran und wies
hinüber nach der Hallig. „Dort, siehst Du etwas,
Carsten?”

— „Wahrhaftig, da geht's ja wieder!”

„Wieder?” sagte der Knecht; „ich hab' die
ganze Zeit hinübergeschaut; aber es ist gar nicht

fortgewesen; Du gingst ja gerade auf das Un-
wesen los!”

Der Junge starrte ihn an; ein Entsetzen lag
plötzlich auf seinem sonst so kecken Angesicht, das
auch dem Knechte nicht entging. „Komm!” sagte
dieser, „wir wollen nach Haus: von hier aus geht's
wie lebig, und drüben liegen nur die Knochen —
das ist mehr, als Du und ich begreifen können.
Schweig aber still davon, man darf dergleichen
nicht verreden!”

So wandten sie sich, und der Junge trabte
neben ihm; sie sprachen nicht, und die Marsch
lag in lautlosem Schweigen an ihrer Seite.

— — Nachdem aber der Mond zurückgegangen,
und die Nächte dunkel geworden waren, geschah
ein Anderes.

Hauke Haien war zur Zeit des Pferdemarktes
in die Stadt geritten, ohne jedoch mit diesem dort
zu thun zu haben. Gleichwohl, da er gegen Abend
heimkam, brachte er ein zweites Pferd mit sich
nach Hause; aber es war rauhhaarig und mager,
daß man jede Rippe zählen konnte, und die Augen
lagen ihm matt und eingefallen in den Schädel-
höhlen. Elke war vor die Hausthür getreten, um

ihren Eheliebsten zu empfangen: „Hilf Himmel!”
rief sie, „was soll uns der alte Schimmel?” Denn
da Hauke mit ihm vor das Haus geritten kam
und unter der Esche hielt, hatte sie gesehen, daß
die arme Creatur auch lahme.

Der junge Deichgraf aber sprang lachend von
seinem braunen Wallach: „Laß nur, Elke; es kostet
auch nicht viel!”

Die kluge Frau erwiderte: „Du weißt doch,
das Wohlfeilste ist auch meist das Theuerste.”

— „Aber nicht immer, Elke; das Thier ist
höchstens vier Jahr' alt; sieh es Dir nur genauer
an! Es ist verhungert und mißhandelt; da soll
ihm unser Hafer gut thun; ich werd' es selbst
versorgen, damit sie mir's nicht überfüttern.”

Das Thier stand indessen mit gesenktem Kopf;
die Mähnen hingen lang am Hals herunter. Frau
Elke, während ihr Mann nach den Knechten rief,
ging betrachtend um dasselbe herum; aber sie
schüttelte den Kopf: „So eins ist noch nie in
unserem Stall gewesen!”

Als jetzt der Dienstjunge um die Hausecke
kam, blieb er plötzlich mit erschrocknen Augen
stehen. „Nun, Carsten,” rief der Deichgraf, „was

fährt Dir in die Knochen? Gefällt Dir mein
Schimmel nicht?”

„Ja — o ja, uns' Weerth, warum denn nicht!”

— „So bring' die Thiere in den Stall; gib
ihnen kein Futter; ich komme gleich selber hin!”

Der Junge faßte mit Vorsicht den Halfter
des Schimmels und griff dann hastig, wie zum
Schutze, nach dem Zügel des ihm ebenfalls ver-
trauten Wallachs. Hauke aber ging mit seinem Weibe
in das Zimmer; ein Warmbier hatte sie für ihn
bereit, und Brod und Butter waren auch zur Stelle.

Er war bald gesättigt; dann stand er auf
und ging mit seiner Frau im Zimmer auf und ab.
„Laß Dir erzählen, Elke,” sagte er, während der
Abendschein auf den Kacheln an den Wänden spielte,
„wie ich zu dem Thier gekommen bin: ich war
wohl eine Stunde beim Oberdeichgrafen gewesen;
er hatte gute Kunde für mich — es wird wohl
dieß und jenes anders werden, als in meinen
Rissen; aber die Hauptsache, mein Profil ist accep-
tirt, und schon in den nächsten Tagen kann der
Befehl zum neuen Deichbau da sein!”

Elke seufzte unwillkürlich: „Also doch?” sagte
sie sorgenvoll.

„Ja, Frau,” entgegnete Hauke; „hart wird's
hergehen; aber dazu, denk' ich, hat der Herrgott
uns zusammengebracht! Unsere Wirthschaft ist jetzt
so gut in Ordnung, ein groß' Theil kannst Du
schon auf Deine Schultern nehmen; denk' nur um
zehn Jahr' weiter — dann stehen wir vor einem
anderen Besitz.”

Sie hatte bei seinen ersten Worten die Hand
ihres Mannes versichernd in die ihrigen gepreßt;
seine letzten Worte konnten sie nicht erfreuen.
„Für wen soll der Besitz?” sagte sie. „Du müßtest
denn ein ander Weib nehmen; ich bring' Dir keine
Kinder.”

Thränen schossen ihr in die Augen; aber er
zog sie fest in seine Arme: „Das überlassen wir
dem Herrgott,” sagte er; „jetzt aber, und auch
dann noch sind wir jung genug, um uns der
Früchte unserer Arbeit selbst zu freuen.”

Sie sah ihn lange, während er sie hielt, aus
ihren dunklen Augen an. „Verzeih, Hauke,” sprach
sie; „ich bin mitunter ein verzagt' Weib!”

Er neigte sich zu ihrem Antlitz und küßte
sie: „Du bist mein Weib und ich Dein Mann,
Elke! Und anders wird es nun nicht mehr.”

Da legte sie die Arme fest um seinen Nacken:
„Du hast recht, Hauke, und was kommt, kommt
für uns Beide.” Dann löste sie sich erröthend
von ihm. „Du wolltest von dem Schimmel mir
erzählen,” sagte sie leise.

„Das wollt' ich, Elke. Ich sagte Dir schon,
mir war Kopf und Herz voll Freude über die gute
Nachricht, die der Oberdeichgraf mir gegeben hatte;
so ritt ich eben wieder aus der Stadt hinaus, da,
auf dem Damm, hinter dem Hafen, begegnet mir
ein ruppiger Kerl; ich wußt' nicht, war's ein Vaga-
bund, ein Kesselflicker oder was denn sonst. Der
Kerl zog den Schimmel am Halfter hinter sich;
das Thier aber hob den Kopf und sah mich aus
blöden Augen an; mir war's, als ob es mich um
Etwas bitten wolle; ich war ja auch in diesem
Augenblicke reich genug. „He, Landsmann!” rief
ich, „wo wollt Ihr mit der Kracke hin?”

Der Kerl blieb stehen und der Schimmel auch.
„Verkaufen!” sagte Jener und nickte mir listig zu.

„Nur nicht an mich!” rief ich lustig.

„Ich denke doch!” sagte er; „das ist ein wacker
Pferd und unter hundert Thalern nicht bezahlt.”

Ich lachte ihm ins Gesicht.

„Nun,” sagte er, „lacht nicht so hart; Ihr
sollt's mir ja nicht zahlen! Aber ich kann's nicht
brauchen, bei mir verkommt's; es würd' bei Euch
bald ander Ansehen haben!”

Da sprang ich von meinem Wallach und sah
dem Schimmel ins Maul, und sah wohl, es war
noch ein junges Thier. „Was soll's denn kosten?”
rief ich, da auch das Pferd mich wiederum wie
bittend ansah.

„Herr, nehmt's für dreißig Thaler!” sagte
der Kerl, „und den Halfter geb' ich Euch darein!”

„Und da, Frau, hab' ich dem Burschen in
die dargebotne braune Hand, die fast wie eine
Klaue aussah, eingeschlagen. So haben wir den
Schimmel, und ich denk' auch, wohlfeil genug!
Wunderlich nur war es, als ich mit den Pferden
wegritt, hört' ich bald hinter mir ein Lachen, und
als ich den Kopf wandte, sah ich den Slovaken;
der stand noch sperrbeinig, die Arme auf dem
Rücken, und lachte wie ein Teufel hinter mir
darein.”

„Pfui,” rief Elke; „wenn der Schimmel nur
nichts von seinem alten Herrn Dir zubringt! Mög'
er Dir gedeihen, Hauke!”

„Er selber soll es wenigstens, soweit ich's
leisten kann!” Und der Deichgraf ging in den
Stall, wie er vorhin dem Jungen es gesagt hatte.

— — Aber nicht allein an jenem Abend
fütterte er den Schimmel; er that es fortan immer
selbst und ließ kein Auge von dem Thiere; er
wollte zeigen, daß er einen Priesterhandel gemacht
habe; jedenfalls sollte nichts versehen werden. —
Und schon nach wenig Wochen hob sich die Haltung
des Thieres; allmälig verschwanden die rauhen
Haare; ein blankes, blau geapfeltes Fell kam zum
Vorschein, und da er es eines Tages auf der Hof-
statt umherführte, schritt es schlank auf seinen
festen Beinen. Hauke dachte des abenteuerlichen
Verkäufers: „Der Kerl war ein Narr oder ein
Schuft, der es gestohlen hatte!” murmelte er bei
sich selber. — Bald auch, wenn das Pferd im
Stall nur seine Schritte hörte, warf es den Kopf
herum und wieherte ihm entgegen; nun sah er
auch, es hatte, was die Araber verlangen, ein fleisch-
los Angesicht; d'raus blitzten ein paar feurige
braune Augen. Dann führte er es aus dem Stall
und legte ihm einen leichten Sattel auf; aber
kaum saß er droben, so fuhr dem Thier ein

Wiehern wie ein Lustschrei aus der Kehle; es flog
mit ihm davon, die Werfte hinab auf den Weg
und dann dem Deiche zu; doch der Reiter saß
fest, und als sie oben waren, ging es ruhiger,
leicht, wie tanzend, und warf den Kopf dem
Meere zu. Er klopfte und streichelte ihm den
blanken Hals; aber es bedurfte dieser Liebkosung
schon nicht mehr; das Pferd schien völlig eins
mit seinem Reiter, und, nachdem er eine Strecke
nordwärts den Deich hinausgeritten war, wandte
er es leicht und gelangte wieder an die Hofstatt.

Die Knechte standen unten an der Auffahrt
und warteten der Rückkunft ihres Wirthes. „So,
John,” rief dieser, indem er von seinem Pferde
sprang, „nun reite Du es in die Fenne zu den
andern; es trägt Dich wie in einer Wiege!”

Der Schimmel schüttelte den Kopf und wieherte
laut in die sonnige Marschlandschaft hinaus,
während ihm der Knecht den Sattel abschnallte,
und der Junge damit zur Geschirrkammer lief;
dann legte er den Kopf auf seines Herrn Schulter
und duldete behaglich dessen Liebkosung. Als aber
der Knecht sich jetzt auf seinen Rücken schwingen
wollte, sprang er mit einem jähen Satz zur Seite

Theodor Storm, Der Schimmelreiter. 9

und stand dann wieder unbeweglich, die schönen
Augen auf seinen Herrn gerichtet. „Hoho, Iven,”
rief dieser, „hat er Dir Leid's gethan?” und suchte
seinem Knecht vom Boden aufzuhelfen.

Der rieb sich eifrig an der Hüfte: „Nein,
Herr, es geht noch; aber den Schimmel reit' der
Teufel!”

„Und ich!” setzte Hauke lachend hinzu. „So
bring ihn am Zügel in die Fenne!”

Und als der Knecht etwas beschämt gehorchte,
ließ sich der Schimmel ruhig von ihm führen.

— — Einige Abende später standen Knecht
und Junge mit einander vor der Stallthür;
hinterm Deiche war das Abendroth erloschen, inner-
halb desselben war schon der Koog von tiefer
Dämmerung überwallt; nur selten kam aus der
Ferne das Gebrüll eines aufgestörten Rindes oder
der Schrei einer Lerche, deren Leben unter dem
Ueberfall eines Wiesels oder einer Wasserratte endete.
Der Knecht lehnte gegen den Thürpfosten und
rauchte aus einer kurzen Pfeife, deren Rauch er
schon nicht mehr sehen konnte; gesprochen hatten er
und der Junge noch nicht zusammen. Dem Letzteren
aber drückte etwas auf die Seele, er wußte nur

nicht, wie er dem schweigsamen Knechte ankommen
sollte. „Du, Iven!” sagte er endlich, „weißt Du,
das Pferdsgeripp' auf Jeverssand!”

„Was ist damit?” frug der Knecht.

„Ja, Iven, was ist damit? Es ist gar nicht
mehr da; weder Tages noch bei Mondschein; wohl
zwanzigmal bin ich auf den Deich hinausgelaufen!”

„Die alten Knochen sind wohl zusammen-
gepoltert!” sagte Iven und rauchte ruhig weiter.

„Aber ich war auch bei Mondschein draußen;
es geht auch drüben nichts auf Jeverssand!”

„Ja,” sagte der Knecht, „sind die Knochen
auseinander gefallen, so wird's wohl nicht mehr
aufstehen können!”

„Mach' keinen Spaß, Iven! Ich weiß jetzt;
ich kann Dir sagen, wo es ist!”

Der Knecht drehte sich jäh zu ihm: „Nun,
wo ist es denn?”

„Wo?” wiederholte der Junge nachdrücklich.
„Es steht in uns'rem Stall; da steht's, seit es
nicht mehr auf der Hallig ist. Es ist auch nicht
umsonst, daß der Wirth es allzeit selber füttert;
ich weiß Bescheid, Iven!”

Der Knecht paffte eine Weile heftig in die

9 *

Nacht hinaus. „Du bist nicht klug, Carsten,” sagte er
dann; „unser Schimmel? Wenn je ein Pferd ein
lebig's war, so ist es der! Wie kann so ein Allerwelts-
junge wie Du in solch' Altem-Weiberglauben sitzen!”

— — Aber der Junge war nicht zu bekehren:
wenn der Teufel in dem Schimmel steckte, warum
sollte er dann nicht lebendig sein? Im Gegentheil,
um desto schlimmer! — Er fuhr jedesmal erschreckt
zusammen, wenn er gegen Abend den Stall betrat,
in dem auch Sommers das Thier mitunter eingestellt
wurde, und es dann den feurigen Kopf so jäh nach
ihm herumwarf. „Hol's der Teufel!” brummte er
dann; „wir bleiben auch nicht lange mehr zusammen.”

So that er sich denn heimlich nach einem
neuen Dienste um, kündigte und trat um Aller-
heiligen als Knecht bei Ole Peters ein. Hier fand
er andächtige Zuhörer für seine Geschichte von dem
Teufelspferd des Deichgrafen; die dicke Frau Vollina
und deren geistesstumpfer Vater, der frühere Deich-
gevollmächtigte Jeß Harders, hörten in behaglichem
Gruseln zu und erzählten sie später Allen, die gegen
den Deichgrafen einen Groll im Herzen oder die an
derart Dingen ihr Gefallen hatten.


Inzwischen war schon Ende März durch die
Oberdeichgrafschaft der Befehl zur neuen Eindeichung
eingetroffen. Hauke berief zunächst die Deichge-
vollmächtigten zusammen, und im Kruge oben bei
der Kirche waren eines Tages alle erschienen und
hörten zu, wie er ihnen die Hauptpunkte aus den
bisher erwachsenen Schriftstücken vorlas: aus seinem
Antrage, aus dem Bericht des Oberdeichgrafen,
zuletzt den schließlichen Bescheid, worin vor Allem
auch die Annahme des von ihm vorgeschlagenen
Profiles enthalten war, und der neue Deich nicht
steil wie früher, sondern allmälig verlaufend nach
der Seeseite abfallen sollte; aber mit heiteren oder
auch nur zufriedenen Gesichtern hörten sie nicht.

„Ja, ja,” sagte ein alter Gevollmächtigter,
„da haben wir nun die Bescherung, und Proteste
werden nicht helfen, da der Oberdeichgraf unserem
Deichgrafen den Daumen hält!”

„Hast wohl recht, Dethlev Wiens,” setzte ein
zweiter hinzu; „die Frühlingsarbeit steht vor der
Thür, und nun soll auch ein millionenlanger Deich
gemacht werden — da muß ja Alles liegen
bleiben.”

„Das könnt Ihr dies Jahr noch zu Ende

bringen,” sagte Hauke; „so rasch wird der Stecken
nicht vom Zaun gebrochen!”

Das wollten Wenige zugeben. „Aber Dein
Profil!” sprach ein Dritter, was Neues auf die
Bahn bringend; „der Deich wird ja auch an der
Außenseite nach dem Wasser so breit, wie Lawrenz
sein Kind nicht lang war! Wo soll das Material
herkommen? Wann soll die Arbeit fertig werden?”

„Wenn nicht in diesem, so im nächsten Jahre;
das wird am meisten von uns selber abhängen!”
sagte Hauke.

Ein ärgerliches Lachen ging durch die Gesell-
schaft. „Aber wozu die unnütze Arbeit; der Deich
soll ja nicht höher werden als der alte,” rief
eine neue Stimme; „und ich mein', der steht schon
über dreißig Jahre!”

„Da sagt Ihr recht,” sprach Hauke, „vor
dreißig Jahren ist der alte Deich gebrochen; dann
rückwärts vor fünfunddreißig, und wiederum vor
fünfundvierzig Jahren; seitdem aber, obgleich er
noch immer steil und unvernünftig dasteht, haben
die höchsten Fluthen uns verschont. Der neue Deich
aber soll trotz solcher hundert und aber hundert
Jahre stehen; denn er wird nicht durchbrochen

werden, weil der milde Abfall nach der Seeseite
den Wellen keinen Angriffspunkt entgegenstellt, und
so werdet Ihr für Euch und Euere Kinder ein
sicheres Land gewinnen, und das ist es, weshalb
die Herrschaft und der Oberdeichgraf mir den
Daumen halten; das ist es auch, was Ihr zu
Eurem eigenen Vortheil einsehen solltet!”

Als die Versammelten hierauf nicht sogleich
zu antworten bereit waren, erhob sich ein alter
weißhaariger Mann mühsam von seinem Stuhle;
es war Frau Elke's Pathe, Jewe Manners, der
auf Hauke's Bitten noch immer in seinem Gevoll-
mächtigten-Amt verblieben war. „Deichgraf Hauke
Haien,” sprach er, „Du machst uns viel Unruhe
und Kosten, und ich wollte, Du hättest damit ge-
wartet, bis mich der Herrgott hätt' zur Ruhe
gehen lassen; aber — recht hast Du, das kann
nur die Unvernunft bestreiten. Wir haben Gott
mit jedem Tag zu danken, daß er uns trotz unserer
Trägheit das kostbare Stück Vorland gegen Sturm
und Wasserdrang erhalten hat; jetzt aber ist es
wohl die elfte Stunde, in der wir selbst die Hand
anlegen müssen, es auch nach all' unserem Wissen
und Können selber uns zu wahren und auf Gottes

Langmuth weiter nicht zu trotzen. Ich, meine
Freunde, bin ein Greis; ich habe Deiche bauen
und brechen sehen; aber den Deich, den Hauke
Haien nach ihm von Gott verliehener Einsicht
projectirt und bei der Herrschaft für Euch durch-
gesetzt hat, den wird Niemand von Euch Lebenden
brechen sehen; und wolltet Ihr ihm selbst nicht
danken, Euere Enkel werden ihm den Ehrenkranz
doch einstens nicht versagen können!”

Jewe Manners setzte sich wieder; er nahm
sein blaues Schnupftuch aus der Tasche und wischte
sich ein paar Tropfen von der Stirn. Der Greis
war noch immer als ein Mann von Tüchtigkeit
und unantastbarer Rechtschaffenheit bekannt, und
da die Versammlung eben nicht geneigt war, ihm
zuzustimmen, so schwieg sie weiter. Aber Hauke
Haien nahm das Wort; doch sahen Alle, daß er
bleich geworden. „Ich danke Euch, Jewe Manners,”
sprach er, „daß Ihr noch hier seid, und daß Ihr
das Wort gesprochen habt; Ihr andern Herren Ge-
vollmächtigten, wollet den neuen Deichbau, der
freilich mir zur Last fällt, zum mindesten ansehen
als ein Ding, das nun nicht mehr zu ändern steht, und
lasset uns demgemäß beschließen, was nun noth ist!”

„Sprechet!” sagte einer der Gevollmächtigten.
Und Hauke breitete die Karte des neuen Deiches
auf dem Tische aus: „Es hat vorhin Einer gefragt,”
begann er, „woher die viele Erde nehmen? —
Ihr seht, soweit das Vorland in die Watten
hinausgeht, ist außerhalb der Deichlinie ein Streifen
Landes freigelassen; daher und von dem Vorlande,
das nach Nord und Süd von dem neuen Kooge
an dem Deiche hinläuft, können wir die Erde
nehmen; haben wir an den Wasserseiten nur eine
tüchtige Lage Klei, nach innen oder in der Mitte
kann auch Sand genommen werden! — Nun aber
ist zunächst ein Feldmesser zu berufen, der die
Linie des neuen Deiches auf dem Vorland absteckt!
Der mir bei Ausarbeitung des Planes behülflich
gewesen, wird wohl am besten dazu passen. Ferner
werden wir zur Heranholung des Klei's oder
sonstigen Materiales die Anfertigung einspänniger
Sturzkarren mit Gabeldeichsel bei einigen Stell-
machern verdingen müssen; wir werden für die
Durchdämmung des Priehles und nach den Binnen-
seiten, wo wir etwa mit Sand fürlieb nehmen
müssen, ich kann jetzt nicht sagen, wie viel hundert
Fuder Stroh zur Bestickung des Deiches gebrauchen,

vielleicht mehr, als in der Marsch hier wird ent-
behrlich sein! — Lasset uns denn berathen, wie
zunächst dies Alles zu beschaffen und einzurichten
ist; auch die neue Schleuse hier an der Westseite
gegen das Wasser zu ist später einem tüchtigen
Zimmermann zur Herstellung zu übergeben.”

Die Versammelten hatten sich um den Tisch
gestellt, betrachteten mit halbem Aug' die Karte
und begannen allgemach zu sprechen; doch war's,
als geschähe es, damit nur überhaupt Etwas
gesprochen werde. Als es sich um Zuziehung des
Feldmessers handelte, meinte einer der Jüngeren:
„Ihr habt es ausgesonnen, Deichgraf; Ihr müsset
selbst am besten wissen, wer dazu taugen mag.”

Aber Hauke entgegnete: „Da Ihr Geschworene
seid, so müsset Ihr aus eigener, nicht aus meiner
Meinung sprechen, Jacob Meyen; und wenn Ihr's
dann besser sagt, so werd' ich meinen Vorschlag
fallen lassen!”

„Nun ja, es wird schon recht sein,” sagte
Jacob Meyen.

Aber einem der Aelteren war es doch nicht
völlig recht: er hatte einen Bruderssohn; so einer
im Feldmessen sollte hier in der Marsch noch nicht

gewesen sein; der sollte noch über des Deichgrafen
Vater, den seligen Tede Haien, gehen!

So wurde denn über die beiden Feldmesser
verhandelt und endlich beschlossen, ihnen gemein-
schaftlich das Werk zu übertragen. Aehnlich ging
es bei den Sturzkarren, bei der Strohlieferung und
allem Anderen, und Hauke kam spät und fast er-
schöpft auf seinem Wallach, den er noch derzeit
ritt, zu Hause an. Aber als er in dem alten
Lehnstuhl saß, der noch von seinem gewichtigen,
aber leichter lebenden Vorgänger stammte, war
auch sein Weib ihm schon zur Seite: „Du siehst
so müd' aus, Hauke,” sprach sie und strich mit
ihrer schmalen Hand das Haar ihm von der Stirn.

„Ein wenig wohl!” erwiderte er.

— „Und geht es denn?”

„Es geht schon,” sagte er mit bitterem Lächeln;
„aber ich selber muß die Räder schieben und froh
sein, wenn sie nicht zurückgehalten werden!”

— „Aber doch nicht von Allen?”

„Nein, Elke; Dein Pathe, Jewe Manners, ist
ein guter Mann; ich wollt', er wär' um dreißig
Jahre jünger.”


Als nach einigen Wochen die Deichlinie ab-
gesteckt und der größte Theil der Sturzkarren
geliefert war, waren sämmtliche Antheilbesitzer
des einzudeichenden Kooges, ingleichen die Besitzer
der hinter dem alten Deich belegenen Ländereien
durch den Deichgrafen im Kirchspielskrug versammelt
worden; es galt, ihnen einen Plan über die Ver-
theilung der Arbeit und Kosten vorzulegen und
ihre etwaigen Einwendungen zu vernehmen; denn
auch die Letzteren hatten, sofern der neue Deich und
die neuen Siele die Unterhaltungskosten der älteren
Werke verminderte, ihren Theil zu schaffen und
zu tragen. Dieser Plan war für Hauke ein schwer
Stück Arbeit gewesen, und wenn ihm durch Ver-
mittelung des Oberdeichgrafen neben einem Deich-
boten nicht auch noch ein Deichschreiber wäre zu-
geordnet worden, er würde es sobald nicht fertig
gebracht haben, obwohl auch jetzt wieder an jedem
neuen Tage in die Nacht hinein gearbeitet war. Wenn
er dann todtmüde sein Lager suchte, so hatte nicht wie
vordem sein Weib in nur verstelltem Schlafe seiner
gewartet; auch sie hatte so vollgemessen ihre tägliche
Arbeit, daß sie Nachts wie am Grunde eines tiefen
Brunnens in unstörbarem Schlafe lag.

Als Hauke jetzt seinen Plan verlesen und die
Papiere, die freilich schon drei Tage hier im Kruge
zur Einsicht ausgelegen hatten, wieder auf den
Tisch breitete, waren zwar ernste Männer zugegen,
die mit Ehrerbietung diesen gewissenhaften Fleiß
betrachteten und sich nach ruhiger Ueberlegung den
billigen Ansätzen ihres Deichgrafen unterwarfen;
Andere aber, deren Antheile an dem neuen Lande
von ihnen selbst oder ihren Vätern oder sonstigen
Vorbesitzern waren veräußert worden, beschwerten
sich, daß sie zu den Kosten des neuen Kooges hin-
zugezogen seien, dessen Land sie nichts mehr angehe,
uneingedenk, daß durch die neuen Arbeiten auch
ihre alten Ländereien nach und nach entbürdet
würden; und wieder Andere, die mit Antheilen
in dem neuen Koog gesegnet waren, schrieen, man
möge ihnen doch dieselben abnehmen, sie sollten um
ein Geringes feil sein; denn wegen der unbilligen
Leistungen, die ihnen dafür aufgebürdet würden,
könnten sie nicht damit bestehen. Ole Peters aber,
der mit grimmigem Gesicht am Thürpfosten lehnte,
rief dazwischen: „Besinnt Euch erst, und dann
vertrauet unserem Deichgrafen! der versteht zu
rechnen; er hatte schon die meisten Antheile, da

wußte er auch mir die meinen abzuhandeln, und
als er sie hatte, beschloß er, diesen neuen Koog zu
deichen!”

Es war nach diesen Worten einen Augenblick
todtenstill in der Versammlung. Der Deichgraf
stand an dem Tisch, auf dem er zuvor seine Papiere
gebreitet hatte: er hob seinen Kopf und sah nach
Ole Peters hinüber: „Du weißt wohl, Ole Peters,”
sprach er, „daß Du mich verleumdest; Du thust es
dennoch, weil Du überdies auch weißt, daß doch ein
gut Theil des Schmutzes, womit Du mich bewirfst,
an mir wird hängen bleiben! Die Wahrheit ist,
daß Du Deine Antheile los sein wolltest, und daß
ich ihrer derzeit für meine Schafzucht bedurfte; und
willst Du Weiteres wissen, das ungewaschene Wort,
das Dir im Krug vom Mund gefahren, ich sei nur
Deichgraf meines Weibes wegen, das hat mich
aufgerüttelt, und ich hab' Euch zeigen wollen,
daß ich wohl um meiner selbst willen Deichgraf
sein könne; und somit, Ole Peters, hab' ich ge-
than, was schon der Deichgraf vor mir hätte thun
sollen. Trägst Du mir aber Groll, daß derzeit
Deine Antheile die meinen geworden sind — Du
hörst es ja, es sind genug, die jetzt die ihrigen um

ein Billiges feil bieten, nur weil die Arbeit ihnen
jetzt zu viel ist!”

Von einem kleinen Theil der versammelten
Männer ging ein Beifallsmurmeln aus, und der
alte Jewe Manners, der dazwischen stand, rief
laut: „Bravo, Hauke Haien! Unser Herrgott wird
Dir Dein Werk gelingen lassen!”

Aber man kam doch nicht zu Ende, obgleich
Ole Peters schwieg, und die Leute erst zum Abend-
brote auseinandergingen; erst in einer zweiten
Versammlung wurde Alles geordnet; aber auch
nur, nachdem Hauke statt der ihm zukommenden
drei Gespanne für den nächsten Monat deren vier
auf sich genommen hatte.

Endlich, als schon die Pfingstglocken durch das
Land läuteten, hatte die Arbeit begonnen: un-
ablässig fuhren die Sturzkarren von dem Vor-
lande an die Deichlinie, um den geholten Klei dort
abzustürzen, und gleicherweise war dieselbe Anzahl
schon wieder auf der Rückfahrt, um auf dem Vor-
land neuen aufzuladen; an der Deichlinie selber
standen Männer mit Schaufeln und Spaten, um
das Abgeworfene an seinen Platz zu bringen und
zu ebnen; ungeheuere Fuder Stroh wurden ange-

fahren und abgeladen; nicht nur zur Bedeckung
des leichteren Materials, wie Sand und lose Erde,
dessen man an den Binnenseiten sich bediente,
wurde das Stroh benutzt; allmälig wurden einzelne
Strecken des Deiches fertig, und die Grassoden,
womit man sie belegt hatte, wurden stellenweis
zum Schutz gegen die nagenden Wellen mit fester
Strohbestickung überzogen; bestellte Aufseher gingen
hin und her und, wenn es stürmte, standen sie
mit aufgerissenen Mäulern und schrieen ihre Befehle
durch Wind und Wetter; dazwischen ritt der Deich-
graf auf seinem Schimmel, den er jetzt ausschließlich
in Gebrauch hatte, und das Thier flog mit dem
Reiter hin und wieder, wenn er rasch und trocken
seine Anordnungen machte, wenn er die Arbeiter
lobte oder, wie es wohl geschah, einen Faulen
oder Ungeschickten ohn' Erbarmen aus der Arbeit
wies. „Das hilft nicht!” rief er dann; „um
Deine Faulheit darf uns nicht der Deich verderben!”
Schon von Weitem, wenn er unten aus dem Koog
heraufkam, hörten sie das Schnauben seines Rosses,
und alle Hände faßten fester in die Arbeit: „Frisch
zu! Der Schimmelreiter kommt!”

War es um die Frühstückszeit, wo die Arbeiter

mit ihrem Morgenbrot haufenweis beisammen auf
der Erde lagen, dann ritt Hauke an den verlassenen
Werken entlang, und seine Augen waren scharf,
wo liederliche Hände den Spaten geführt hatten.
Wenn er aber zu den Leuten ritt und ihnen aus-
einandersetzte, wie die Arbeit müsse beschafft werden,
sahen sie wohl zu ihm auf und kauten geduldig
an ihrem Brote weiter; aber eine Zustimmung
oder auch nur eine Aeußerung hörte er nicht von
ihnen. Einmal zu solcher Tageszeit, es war schon
spät, da er an einer Deichstelle die Arbeit in
besonderer Ordnung gefunden hatte, ritt er zu dem
nächsten Haufen der Frühstückenden, sprang von
seinem Schimmel und frug heiter, wer dort so
sauberes Tagewerk verrichtet hätte; aber sie sahen
ihn nur scheu und düster an, und nur langsam
und wie widerwillig wurden ein paar Namen ge-
nannt. Der Mensch, dem er sein Pferd gegeben
hatte, das ruhig wie ein Lamm stand, hielt es
mit beiden Händen und blickte wie angstvoll nach
den schönen Augen des Thieres, die es, wie ge-
wöhnlich, auf seinen Herrn gerichtet hielt.

„Nun, Marten!” rief Hauke; „was stehst Du,
als ob Dir der Donner in die Beine gefahren sei?”

Theodor Storm, Der Schimmelreiter. 10

— „Herr, Euer Pferd, es ist so ruhig, als
ob es Böses vorhabe!”

Hauke lachte und nahm das Pferd selbst am
Zügel, das sogleich liebkosend den Kopf an seiner
Schulter rieb. Von den Arbeitern sahen einige
scheu zu Roß und Reiter hinüber, andere, als ob
das Alles sie nicht kümmere, aßen schweigend ihre
Frühkost, dann und wann den Möven einen Brocken
hinaufwerfend, die sich den Futterplatz gemerkt hatten
und mit ihren schlanken Flügeln sich fast auf ihre
Köpfe senkten. Der Deichgraf blickte eine Weile
wie gedankenlos auf die bettelnden Vögel und wie
sie die zugeworfenen Bissen mit ihren Schnäbeln
haschten; dann sprang er in den Sattel und ritt,
ohne sich nach den Leuten umzusehen, davon; einige
Worte, die jetzt unter ihnen laut wurden, klangen
ihm fast wie Hohn. „Was ist das?” sprach er
bei sich selber. „Hatte denn Elke recht, daß sie
Alle gegen mich sind? Auch diese Knechte und
kleinen Leute, von denen Vielen durch meinen neuen
Deich doch eine Wohlhabenheit ins Haus wächst?”

Er gab seinem Pferde die Sporen, daß es
wie toll in den Koog hinabflog. Von dem un-
heimlichen Glanze freilich, mit dem sein früherer

Dienstjunge den Schimmelreiter bekleidet hatte,
wußte er selber nichts; aber die Leute hätten ihn
jetzt nur sehen sollen, wie aus seinem hageren Ge-
sicht die Augen starrten, wie sein Mantel flog,
und wie der Schimmel sprühte!

— — So war der Sommer und der Herbst
vergangen; noch bis gegen Ende November war
gearbeitet worden; dann geboten Frost und Schnee
dem Werke Halt; man war nicht fertig geworden
und beschloß, den Koog offen liegen zu lassen.
Acht Fuß ragte der Deich aus der Fläche hervor;
nur wo westwärts gegen das Wasser hin die
Schleuse gelegt werden sollte, hatte man eine Lücke
gelassen; auch oben vor dem alten Deiche war der
Priehl noch unberührt. So konnte die Fluth, wie
in den letzten dreißig Jahren, in den Koog hinein-
dringen, ohne dort oder an dem neuen Deiche
großen Schaden anzurichten. Und so überließ man
dem großen Gott das Werk der Menschenhände
und stellte es in seinen Schutz, bis die Frühlings-
sonne die Vollendung würde möglich machen.

— — Inzwischen hatte im Hause des Deich-
grafen sich ein frohes Ereigniß vorbereitet: im
neunten Ehejahre war noch ein Kind geboren worden.

10 *

Es war roth und hutzelig und wog seine sieben
Pfund, wie es für neugeborene Kinder sich gebührt,
wenn sie, wie dies, dem weiblichen Geschlechte an-
gehören; nur sein Geschrei war wunderlich verhohlen
und hatte der Wehmutter nicht gefallen wollen.
Das Schlimmste war, am dritten Tage lag Elke
im hellen Kindbettfieber, redete Irrsal und kannte
weder ihren Mann noch ihre alte Helferin. Die
unbändige Freude, die Hauke beim Anblick seines
Kindes ergriffen hatte, war zu Trübsal geworden;
der Arzt aus der Stadt war geholt, er saß am
Bett und fühlte den Puls und verschrieb und sah
rathlos um sich her. Hauke schüttelte den Kopf:
„Der hilft nicht; nur Gott kann helfen!” Er hatte
sich sein eigen Christenthum zurecht gerechnet; aber
es war Etwas, das sein Gebet zurückhielt. Als
der alte Doctor davongefahren war, stand er am
Fenster, in den winterlichen Tag hinausstarrend,
und während die Kranke aus ihren Phantasien
aufschrie, schränkte er die Hände zusammen; er
wußte selber nicht, war es aus Andacht oder war
es nur, um in der ungeheueren Angst sich selbst
nicht zu verlieren.

„Wasser! Das Wasser!” wimmerte die Kranke.

„Halt' mich!” schrie sie; „halt' mich, Hauke!”
Dann sank die Stimme; es klang, als ob sie weine:
„In See, ins Haf hinaus? O, lieber Gott, ich
seh' ihn nimmer wieder!”

Da wandte er sich und schob die Wärterin
von ihrem Bette; er fiel auf seine Kniee, umfaßte
sein Weib und riß sie an sich: „Elke! Elke, so
kenn' mich doch, ich bin ja bei Dir!”

Aber sie öffnete nur die fieberglühenden Augen
weit und sah wie rettungslos verloren um sich.

Er legte sie zurück auf ihre Kissen; dann
krampfte er die Hände in einander: „Herr, mein
Gott,” schrie er; „nimm sie mir nicht! Du weißt,
ich kann sie nicht entbehren!” Dann war's, als
ob er sich besinne, und leiser setzte er hinzu: „Ich
weiß ja wohl, Du kannst nicht allezeit, wie Du
willst, auch Du nicht; Du bist allweise; Du mußt
nach Deiner Weisheit thun — o, Herr, sprich nur
durch einen Hauch zu mir!”

Es war, als ob plötzlich eine Stille eingetreten
sei; er hörte nur ein leises Athmen; als er sich zum
Bette kehrte, lag sein Weib in ruhigem Schlaf; nur
die Wärterin sah mit entsetzten Augen auf ihn. Er
hörte die Thür gehen: „Wer war das?” frug er.

„Herr, die Magd Ann' Grethe ging hinaus;
sie hatte den Warmkorb hereingebracht.”

— „Was sieht Sie mich denn so verfahren
an, Frau Levke?”

„Ich? Ich hab' mich ob Eurem Gebet er-
schrocken; damit betet Ihr Keinen vom Tode los!”

Hauke sah sie mit seinen durchdringenden Augen
an: „Besucht Sie denn auch, wie unsere Ann'
Grethe, die Conventikel bei dem holländischen Flick-
schneider Jantje?”

„Ja, Herr; wir haben beide den lebendigen
Glauben!”

Hauke antwortete ihr nicht. Das damals stark
im Schwange gehende separatistische Conventikel-
Wesen hatte auch unter den Friesen seine Blüthen
getrieben; heruntergekommene Handwerker oder
wegen Trunkes abgesetzte Schulmeister spielten
darin die Hauptrolle, und Dirnen, junge und alte
Weiber, Faulenzer und einsame Menschen liefen
eifrig in die heimlichen Versammlungen, in denen
jeder den Priester spielen konnte. Aus des Deich-
grafen Hause brachten Ann' Grethe und der in sie
verliebte Dienstjunge ihre freien Abende dort zu.
Freilich hatte Elke ihre Bedenken darüber gegen

Hauke nicht zurückgehalten; aber er hatte gemeint,
in Glaubenssachen solle man Keinem drein reden:
das schade Niemandem, und besser dort doch als im
Schnapskrug!

So war es dabei geblieben, und so hatte er
auch jetzt geschwiegen. Aber freilich über ihn
schwieg man nicht; seine Gebetsworte liefen um
von Haus zu Haus: er hatte Gottes Allmacht
bestritten; was war ein Gott denn ohne Allmacht?
Er war ein Gottesleugner; die Sache mit dem
Teufelspferde mochte auch am Ende richtig sein!

Hauke erfuhr nichts davon; er hatte in diesen
Tagen nur Ohren und Augen für sein Weib; selbst
das Kind war für ihn nicht mehr auf der Welt.

Der alte Arzt kam wieder, kam jeden Tag,
mitunter zweimal, blieb dann eine ganze Nacht,
schrieb wieder ein Recept, und der Knecht Iven
Johns ritt damit im Flug zur Apotheke. Dann
aber wurde sein Gesicht freundlicher, er nickte dem
Deichgrafen vertraulich zu: „Es geht! Es geht!
Mit Gottes Hülfe!” und eines Tags — hatte nun
seine Kunst die Krankheit besiegt, oder hatte auf
Hauke's Gebet der liebe Gott doch noch einen Aus-
weg finden können — als der Doctor mit der

Kranken allein war, sprach er zu ihr, und seine
alten Augen lachten: „Frau, jetzt kann ich's getrost
Euch sagen: heut' hat der Doctor seinen Festtag;
es stand schlimm um Euch; aber nun gehöret Ihr
wieder zu uns, zu den Lebendigen!”

Da brach es wie ein Strahlenmeer aus ihren
dunklen Augen: „Hauke! Hauke, wo bist Du?”
rief sie, und als er auf den hellen Ruf ins Zimmer
und an ihr Bett stürzte, schlug sie die Arme um
seinen Nacken: „Hauke, mein Mann, gerettet! Ich
bleibe bei Dir!”

Da zog der alte Doctor sein seiden Schnupf-
tuch aus der Tasche, fuhr sich damit über Stirn
und Wangen und ging kopfnickend aus dem Zimmer.

— — Am dritten Abend nach diesem Tage
sprach ein frommer Redner — es war ein vom
Deichgrafen aus der Arbeit gejagter Pantoffel-
macher — im Conventikel bei dem holländischen
Schneider, da er seinen Zuhörern die Eigenschaften
Gottes auseinandersetzte: „Wer aber Gottes All-
macht widerstreitet, wer da sagt: ich weiß, Du
kannst nicht, was Du willst — wir kennen den
Unglückseligen ja Alle; er lastet gleich einem Stein
auf der Gemeinde — der ist von Gott gefallen

und suchet den Feind Gottes, den Freund der Sünde
zu seinem Tröster; denn nach irgend einem Stabe
muß die Hand des Menschen greifen. Ihr aber,
hütet Euch vor dem, der also betet; sein Gebet
ist Fluch!”

— — Auch das lief um von Haus zu Haus.
Was läuft nicht um in einer kleinen Gemeinde?
und auch zu Hauke's Ohren kam es. Er sprach
kein Wort darüber, nicht einmal zu seinem Weibe;
nur mitunter konnte er sie heftig umfassen und
an sich ziehen: „Bleib mir treu, Elke! Bleib mir
treu!” — Dann sahen ihre Augen voll Staunen zu
ihm auf: „Dir treu? Wem sollte ich denn anders
treu sein?” — Nach einer kurzen Weile aber hatte
sie sein Wort verstanden: „Ja, Hauke, wir sind
uns treu; nicht nur, weil wir uns brauchen.”
Und dann ging Jedes seinen Arbeitsweg.

Das wäre so weit gut gewesen; aber es war
doch trotz aller lebendigen Arbeit eine Einsamkeit
um ihn, und in seinem Herzen nistete sich ein
Trotz und abgeschlossenes Wesen gegen andere
Menschen ein; nur gegen sein Weib blieb er alle-
zeit der Gleiche, und an der Wiege seines Kindes
lag er Abends und Morgens auf den Knieen, als

sei dort die Stätte seines ewigen Heils. Gegen
Gesinde und Arbeiter aber wurde er strenger; die
Ungeschickten und Fahrlässigen, die er früher durch
ruhigen Tadel zurecht gewiesen hatte, wurden jetzt
durch hartes Anfahren aufgeschreckt, und Elke ging
mitunter leise bessern.


Als der Frühling nahte, begannen wieder
die Deicharbeiten; mit einem Kajedeich wurde zum
Schutz der jetzt aufzubauenden neuen Schleuse die
Lücke in der westlichen Deichlinie geschlossen, halb-
mondförmig nach innen und ebenso nach außen;
und gleich der Schleuse wuchs allmälig auch der
Haupt-Deich zu seiner immer rascher herzustellenden
Höhe empor. Leichter wurde dem leitenden Deich-
grafen seine Arbeit nicht; denn an Stelle des im
Winter verstorbenen Jewe Manners war Ole Peters
als Deichgevollmächtigter eingetreten. Hauke hatte
nicht versuchen wollen, es zu hindern; aber anstatt
der ermuthigenden Worte und der dazu gehörigen
zuthunlichen Schläge auf seine linke Schulter, die
er so oft von dem alten Pathen seines Weibes
eincassirt hatte, kamen ihm jetzt von dem Nach-
folger ein heimliches Widerhalten und unnöthige

Einwände und waren mit unnöthigen Gründen
zu bekämpfen; denn Ole gehörte zwar zu den
Wichtigen, aber in Deichsachen nicht zu den Klugen;
auch war von früher her der „Schreiberknecht” ihm
immer noch im Wege.

Der glänzendste Himmel breitete sich wieder
über Meer und Marsch, und der Koog wurde
wieder bunt von starken Rindern, deren Gebrüll
von Zeit zu Zeit die weite Stille unterbrach;
unablässig sangen in hoher Himmelsluft die Lerchen;
aber man hörte es erst, wenn einmal auf eines
Athemzuges Länge der Gesang verstummt war.
Kein Unwetter störte die Arbeit, und die Schleuse
stand schon mit ihrem ungestrichenen Balkengefüge,
ohne daß auch nur in einer Nacht sie eines Schutzes
von dem Interims-Deich bedurft hätte; der Herr-
gott schien seine Gunst dem neuen Werke zuzuwenden.
Auch Frau Elke's Augen lachten ihrem Manne zu,
wenn er auf seinem Schimmel draußen von dem
Deich nach Hause kam: „Bist doch ein braves
Thier geworden!” sagte sie dann und klopfte den
blanken Hals des Pferdes. Hauke aber, wenn sie
das Kind am Halse hatte, sprang herab und ließ
das winzige Dinglein auf seinen Armen tanzen;

wenn dann der Schimmel seine braunen Augen
auf das Kind gerichtet hielt, dann sprach er wohl:
„Komm her; sollst auch die Ehre haben!” und er
setzte die kleine Wienke — denn so war sie getauft
worden — auf seinen Sattel und führte den
Schimmel auf der Werft im Kreise herum. Auch
der alte Eschenbaum hatte mitunter die Ehre; er
setzte das Kind auf einen schwanken Ast und ließ
es schaukeln. Die Mutter stand mit lachenden
Augen in der Hausthür; das Kind aber lachte
nicht, seine Augen, zwischen denen ein feines
Näschen stand, schauten ein wenig stumpf ins
Weite, und die kleinen Hände griffen nicht nach dem
Stöckchen, das der Vater ihr hinhielt. Hauke achtete
nicht darauf, er wußte auch nichts von so kleinen
Kindern; nur Elke, wenn sie das helläugige Mädchen
auf dem Arm ihrer Arbeitsfrau erblickte, die mit
ihr zugleich das Wochenbett bestanden hatte, sagte
mitunter schmerzlich: „Das Meine ist noch nicht so
weit wie Deines, Stina!” und die Frau, ihren
dicken Jungen, den sie an der Hand hatte, mit
derber Liebe schüttelnd, rief dann wohl: „Ja,
Frau, die Kinder sind verschieden; der da, der
stahl mir schon die Aepfel aus der Kammer, bevor

er übers zweite Jahr hinaus war!” Und Elke strich
dem dicken Buben sein Kraushaar aus den Augen
und drückte dann heimlich ihr stilles Kind ans Herz.

— — Als es in den October hineinging, stand
an der Westseite die neue Schleuse schon fest in
dem von beiden Seiten schließenden Hauptdeich,
der bis auf die Lücken bei dem Priehle nun mit
seinem sanften Profile ringsum nach den Wasser-
seiten abfiel und um fünfzehn Fuß die ordinäre
Fluth überragte. Von seiner Nordwestecke sah man
an Jevershallig vorbei ungehindert in das Watten-
meer hinaus; aber freilich auch die Winde faßten
hier schärfer; die Haare flogen, und wer hier aus-
schauen wollte, der mußte die Mütze fest auf dem
Kopf haben.

Zu Ende November, wo Sturm und Regen
eingefallen waren, blieb nur noch hart am alten
Deich die Schlucht zu schließen, auf deren Grunde
an der Nordseite das Meerwasser durch den Priehl
in den neuen Koog hineinschoß. Zu beiden Seiten
standen die Wände des Deiches; der Abgrund zwischen
ihnen mußte jetzt verschwinden. Ein trocken Sommer-
wetter hätte die Arbeit wohl erleichtert; aber auch
so mußte sie gethan werden; denn ein aufbrechender

Sturm konnte das ganze Werk gefährden. Und
Hauke setzte alles daran, um jetzt den Schluß herbei-
zuführen. Der Regen strömte, der Wind pfiff;
aber seine hagere Gestalt auf dem feurigen Schimmel
tauchte bald hier, bald dort aus den schwarzen
Menschenmassen empor, die oben wie unten an der
Nordseite des Deiches neben der Schlucht beschäftigt
waren. Jetzt sah man ihn unten bei den Sturz-
karren, die schon weither die Kleierde aus dem
Vorlande holen mußten, und von denen eben ein
gedrängter Haufen bei dem Priehle anlangte und
seine Last dort abzuwerfen suchte. Durch das
Geklatsch des Regens und das Brausen des Windes
klangen von Zeit zu Zeit die scharfen Befehlsworte
des Deichgrafen, der heute hier allein gebieten
wollte; er rief die Karren nach den Nummern
vor und wies die Drängenden zurück; ein „Halt!”
scholl von seinem Munde; dann ruhte unten die
Arbeit; „Stroh! ein Fuder Stroh hinab!” rief
er denen droben zu, und von einem der oben haltenden
Fuder stürzte es auf den nassen Klei hinunter. Unten
sprangen Männer dazwischen und zerrten es aus-
einander und schrieen nach oben, sie nur nicht zu
begraben. Und wieder kamen neue Karren, und

Hauke war schon wieder oben und sah von seinem
Schimmel in die Schlucht hinab, und wie sie dort
schaufelten und stürzten; dann warf er seine Augen
nach dem Haf hinaus. Es wehte scharf, und er
sah, wie mehr und mehr der Wassersaum am Deich
hinaufklimmte, und wie die Wellen sich noch höher
hoben; er sah auch, wie die Leute trieften und
kaum athmen konnten in der schweren Arbeit vor
dem Winde, der ihnen die Luft am Munde ab-
schnitt und vor dem kalten Regen, der sie über-
strömte. „Ausgehalten, Leute! Ausgehalten!” schrie
er zu ihnen hinab. „Nur einen Fuß noch höher;
dann ist's genug für diese Fluth!” Und durch alles
Getöse des Wetters hörte man das Geräusch der
Arbeiter: das Klatschen der hineingestürzten Klei-
massen, das Rasseln der Karren und das Rauschen
des von oben hinabgelassenen Strohes ging unauf-
haltsam vorwärts; dazwischen war mitunter das
Winseln eines kleinen gelben Hundes laut geworden,
der frierend und wie verloren zwischen Menschen
und Fuhrwerken herumgestoßen wurde; plötzlich
aber scholl ein jammervoller Schrei des kleinen
Thieres von unten aus der Schlucht herauf.
Hauke blickte hinab; er hatte es von oben hinunter-

schleudern sehen; eine jähe Zornröthe stieg ihm
ins Gesicht. „Halt! Haltet ein!” schrie er zu den
Karren hinunter; denn der nasse Klei wurde unauf-
haltsam aufgeschüttet.

„Warum?” rief eine rauhe Stimme von unten
herauf; „doch um die elende Hunde-Creatur nicht?”

„Halt! sag' ich,” schrie Hauke wieder; „bringt
mir den Hund! Bei unserem Werke soll kein
Frevel sein!”

Aber es rührte sich keine Hand; nur ein paar
Spaten zähen Kleis flogen noch neben das
schreiende Thier. Da gab er seinem Schimmel die
Sporen, daß das Thier einen Schrei ausstieß,
und stürmte den Deich hinab, und Alles wich vor
ihm zurück. „Den Hund!” schrie er; „ich will
den Hund!”

Eine Hand schlug sanft auf seine Schulter,
als wäre es die Hand des alten Jewe Manners;
doch als er umsah, war es nur ein Freund des
Alten. „Nehmt Euch in Acht, Deichgraf!” raunte
der ihm zu. „Ihr habt nicht Freunde unter diesen
Leuten; laßt es mit dem Hunde gehen!”

Der Wind pfiff, der Regen klatschte; die Leute
hatten die Spaten in den Grund gesteckt, einige

sie fortgeworfen. Hauke neigte sich zu dem Alten:
„Wollt Ihr meinen Schimmel halten, Harke Jens?”
frug er; und als jener noch kaum den Zügel in
der Hand hatte, war Hauke schon in die Kluft
gesprungen und hielt das kleine winselnde Thier
in seinem Arm; und fast im selben Augenblicke
saß er auch wieder hoch im Sattel und sprengte
auf den Deich zurück. Seine Augen flogen über
die Männer, die bei den Wagen standen. „Wer
war es?” rief er. „Wer hat die Creatur hinab-
geworfen?”

Einen Augenblick schwieg Alles; denn aus
dem hageren Gesicht des Deichgrafen sprühte der
Zorn, und sie hatten abergläubische Furcht vor
ihm. Da trat von einem Fuhrwerk ein stier-
nackiger Kerl vor ihn hin. „Ich that es nicht,
Deichgraf,” sagte er und biß von einer Rolle
Kautabak ein Endchen ab, das er sich erst ruhig
in den Mund schob; „aber der es that, hat recht
gethan; soll Euer Deich sich halten, so muß was
Lebiges hinein!”

— „Was Lebiges? Aus welchem Katechismus
hast Du das gelernt?”

„Aus keinem, Herr!” entgegnete der Kerl,

Theodor Storm, Der Schimmelreiter. 11

und aus seiner Kehle stieß ein freches Lachen;
„das haben unsere Großväter schon gewußt, die
sich mit Euch im Christenthum wohl messen durften!
Ein Kind ist besser noch; wenn das nicht da ist,
thut's auch wohl ein Hund!”

„Schweig' Du mit Deinen Heidenlehren!”
schrie ihn Hauke an; „es stopfte besser, wenn man
Dich hineinwürfe.”

„Oho!” erscholl es; aus einem Dutzend Kehlen
war der Laut gekommen, und der Deichgraf gewahrte
ringsum grimmige Gesichter und geballte Fäuste; er
sah wohl, daß das keine Freunde waren; der Ge-
danke an seinen Deich überfiel ihn wie ein Schrecken:
was sollte werden, wenn jetzt Alle ihre Spaten hin-
würfen? — Und als er nun den Blick nach unten
richtete, sah er wieder den Freund des alten Jewe
Manners; der ging dort zwischen den Arbeitern,
sprach zu Dem und Jenen, lachte hier Einem zu,
klopfte dort mit freundlichem Gesicht Einem auf die
Schulter, und Einer nach dem Andern faßte wieder
seinen Spaten; noch einige Augenblicke, und die
Arbeit war wieder in vollem Gange. — Was wollte
er denn noch? Der Priehl mußte geschlossen werden,
und den Hund barg er sicher genug in den Falten

seines Mantels. Mit plötzlichem Entschluß wandte
er seinen Schimmel gegen den nächsten Wagen:
„Stroh an die Kante!” rief er herrisch, und wie
mechanisch gehorchte ihm der Fuhrknecht; bald
rauschte es hinab in die Tiefe, und von allen Seiten
regte es sich aufs Neue und mit allen Armen.

Eine Stunde war noch so gearbeitet; es war
nach sechs Uhr, und schon brach tiefe Dämmerung
herein; der Regen hatte aufgehört; da rief Hauke
die Aufseher an sein Pferd: „Morgen früh vier
Uhr,” sagte er, „ist Alles wieder auf dem Platz;
der Mond wird noch am Himmel sein; da machen
wir mit Gott den Schluß! Und dann noch Eines!”
rief er, als sie gehen wollten: „Kennt Ihr den
Hund?” und er nahm das zitternde Thier aus
seinem Mantel.

Sie verneinten das; nur Einer sagte: „Der
hat sich taglang schon im Dorf herumgebettelt;
der gehört gar Keinem!”

„Dann ist er mein!” entgegnete der Deichgraf.
„Vergesset nicht: morgen früh vier Uhr!” und
ritt davon.

Als er heim kam, trat Ann' Grethe aus der
Thür; sie hatte saubere Kleidung an, und es

11 *

fuhr ihm durch den Kopf, sie gehe jetzt zum
Conventikelschneider: „Halt' die Schürze auf!” rief
er ihr zu, und da sie es unwillkürlich that, warf
er das kleibeschmutzte Hündlein ihr hinein: „Bring'
ihn der kleinen Wienke; er soll ihr Spielkamerad
werden! Aber wasch' und wärm' ihn zuvor; so
thust Du auch ein gottgefällig Werk; denn die
Creatur ist schier verklommen.”

Und Ann' Grethe konnte nicht lassen, ihrem
Wirth Gehorsam zu leisten und kam deshalb heute
nicht in den Conventikel.


Und am andern Tage wurde der letzte Spaten-
stich am neuen Deich gethan; der Wind hatte sich
gelegt; in anmuthigem Fluge schwebten Möven
und Avosetten über Land und Wasser hin und
wieder; von Jevershallig tönte das tausendstimmige
Geknorr der Rottgänse, die sich's noch heute an
der Küste der Nordsee wohl sein ließen, und aus
den weißen Morgennebeln, welche die weite Marsch
bedeckten, stieg allmälig ein goldner Herbsttag und
beleuchtete das neue Werk der Menschenhände.

Nach einigen Wochen kamen mit dem Ober-
deichgrafen die herrschaftlichen Commissäre zur

Besichtigung desselben; ein großes Festmahl, das
erste nach dem Leichenmahl des alten Tede Volkerts,
wurde im deichgräflichen Hause gehalten; alle
Deichgevollmächtigten und die größten Interessenten
waren dazu geladen. Nach Tische wurden sämmtliche
Wagen der Gäste und des Deichgrafen angespannt;
Frau Elke wurde von dem Oberdeichgrafen in die
Carriole gehoben, vor der der braune Wallach
mit seinen Hufen stampfte; dann sprang er selber
hinten nach und nahm die Zügel in die Hand;
er wollte die gescheidte Frau seines Deichgrafen
selber fahren. So ging es munter von der Werfte
und in den Weg hinaus, den Akt zum neuen Deich
hinan und auf demselben um den jungen Koog
herum. Es war inmittelst ein leichter Nordwest-
wind aufgekommen, und an der Nord- und West-
seite des neuen Deiches wurde die Fluth hinauf-
getrieben; aber es war unverkennbar, der sanfte
Abfall bedingte einen sanfteren Anschlag; aus dem
Munde der herrschaftlichen Commissäre strömte das
Lob des Deichgrafen, daß die Bedenken, welche
hie und da von den Gevollmächtigten dagegen
langsam vorgebracht wurden, gar bald darin
erstickten.

— Auch das ging vorüber; aber noch eine
Genugthuung empfing der Deichgraf eines Tages,
da er in stillem, selbstbewußten Sinnen auf dem
neuen Deich entlang ritt. Es mochte ihm wohl die
Frage kommen, weshalb der Koog, der ohne ihn
nicht da wäre, in dem sein Schweiß und seine
Nachtwachen steckten, nun schließlich nach einer der
herrschaftlichen Prinzessinnen „der neue Carolinen-
koog” getauft sei; aber es war doch so: auf allen
dahin gehörigen Schriftstücken stand der Name, auf
einigen sogar in rother Fracturschrift. Da, als
er aufblickte, sah er zwei Arbeiter mit ihren Feld-
geräthschaften, der eine etwa zwanzig Schritte
hinter dem andern, sich entgegenkommen: „So
wart' doch!” hörte er den Nachfolgenden rufen;
der Andere aber — er stand eben an einem Akt,
der in den Koog hinunterführte — rief ihm ent-
gegen: „Ein andermal, Jens! Es ist schon spät;
ich soll hier Klei schlagen!”

— „Wo denn?”

„Nun hier, im Hauke-Haienkoog!”

Er rief es laut, indem er den Akt hinab-
trabte, als solle die ganze Marsch es hören, die
darunter lag. Hauke aber war es, als höre er

seinen Ruhm verkünden; er hob sich im Sattel,
gab seinem Schimmel die Sporen und sah mit
festen Augen über die weite Landschaft hin, die zu
seiner Linken lag. „Hauke-Haienkoog!” wiederholte
er leis; das klang, als könnt' es alle Zeit nicht
anders heißen! Mochten sie trotzen, wie sie wollten,
um seinen Namen war doch nicht herumzukommen;
der Prinzessinnen-Name — würde er nicht bald
nur noch in alten Schriften modern? — Der
Schimmel ging in stolzem Galopp; vor seinen
Ohren aber summte es: „Hauke-Haienkoog! Hauke-
Haienkoog!” In seinen Gedanken wuchs fast der
neue Deich zu einem achten Weltwunder; in ganz
Friesland war nicht seines Gleichen! Und er ließ
den Schimmel tanzen; ihm war, er stünde inmitten
aller Friesen; er überragte sie um Kopfeshöhe,
und seine Blicke flogen scharf und mitleidig über
sie hin.

— — Allmälig waren drei Jahre seit der
Eindeichung hingegangen; das neue Werk hatte
sich bewährt, die Reparaturkosten waren nur gering
gewesen; im Kooge aber blühte jetzt fast überall
der weiße Klee, und ging man über die geschützten
Weiden, so trug der Sommerwind einem ganze

Wolken süßen Dufts entgegen. Da war die Zeit
gekommen, die bisher nur idealen Antheile in
wirkliche zu verwandeln und allen Theilnehmern
ihre bestimmten Stücke für immer eigenthümlich
zuzusetzen. Hauke war nicht müßig gewesen, vor-
her noch einige neue zu erwerben; Ole Peters
hatte sich verbissen zurückgehalten; ihm gehörte
nichts im neuen Kooge. Ohne Verdruß und
Streit hatte auch so die Theilung nicht abgehen
können; aber fertig war es gleichwohl geworden;
auch dieser Tag lag hinter dem Deichgrafen.


Fortan lebte er einsam seinen Pflichten als
Hofwirth wie als Deichgraf und denen, die ihm
am nächsten angehörten; die alten Freunde waren
nicht mehr in der Zeitlichkeit, neue zu erwerben
war er nicht geeignet. Aber unter seinem Dach
war Frieden, den auch das stille Kind nicht störte;
es sprach wenig, das stete Fragen, was den auf-
geweckten Kindern eigen ist, kam selten und meist
so, daß dem Gefragten die Antwort darauf schwer
wurde; aber ihr liebes, einfältiges Gesichtlein trug
fast immer den Ausdruck der Zufriedenheit. Zwei
Spielkameraden hatte sie, die waren ihr genug:

wenn sie über die Werfte wanderte, sprang das
gerettete gelbe Hündlein stets um sie herum, und
wenn der Hund sich zeigte, war auch klein Wienke
nicht mehr fern. Der zweite Kamerad war eine
Lachmöve, und wie der Hund „Perle”, so hieß
die Möve „Claus”.

Claus war durch ein greises Menschenkind
auf dem Hofe installirt worden; die achtzigjährige
Trien' Jans hatte in ihrer Kathe auf dem
Außendeich sich nicht mehr durchbringen können;
da hatte Frau Elke gemeint, die verlebte Dienst-
magd ihres Großvaters könnte bei ihnen noch ein
paar stille Abendstunden und eine gute Sterbe-
kammer finden, und so, halb mit Gewalt, war
sie von ihr und Hauke nach dem Hofe geholt und
in dem Nordwest-Stübchen der neuen Scheuer
untergebracht worden, die der Deichgraf vor einigen
Jahren neben dem Haupthause bei der Vergrößerung
seiner Wirthschaft hatte bauen müssen; ein paar
der Mägde hatten daneben ihre Kammer erhalten
und konnten der Greisin Nachts zur Hand gehen.
Rings an den Wänden hatte sie ihr altes Haus-
geräth: eine Schatulle von Zuckerkistenholz, dar-
über zwei bunte Bilder vom verlorenen Sohn, ein

längst zur Ruhe gestelltes Spinnrad und ein sehr
sauberes Gardinenbett, vor dem ein ungefüger,
mit dem weißen Fell des weiland Angorakaters
überzogener Schemel stand. Aber auch was Lebiges
hatte sie noch um sich gehabt und mit hieher ge-
bracht: das war die Möve Claus, die sich schon
jahrelang zu ihr gehalten hatte und von ihr gefüttert
worden war; freilich, wenn es Winter wurde, flog
sie mit den anderen Möven südwärts und kam erst
wieder, wenn am Strand der Wermuth duftete.

Die Scheuer lag etwas tiefer an der Werfte;
die Alte konnte von ihrem Fenster aus nicht über
den Deich auf die See hinausblicken. „Du hast
mich hier als wie gefangen, Deichgraf!” murrte
sie eines Tages, als Hauke zu ihr eintrat, und
wies mit ihrem verkrümmten Finger nach den
Fennen hinaus, die sich dort unten breiteten.
„Wo ist denn Jeverssand? Da über den rothen
oder über den schwarzen Ochsen hinaus?”

„Was will Sie denn mit Jeverssand?” frug
Hauke.

— „Ach was, Jeverssand!” brummte die Alte.
„Aber ich will doch sehen, wo mein Jung mir
derzeit ist zu Gott gegangen!”

— „Wenn Sie das sehen will,” entgegnete
Hauke, „so muß Sie sich oben unter den Eschen-
baum setzen, da sieht Sie das ganze Haf!”

„Ja,” sagte die Alte; „ja, wenn ich Deine
jungen Beine hätte, Deichgraf!”

Dergleichen blieb lange der Dank für die
Hülfe, die ihr die Deichgrafsleute angedeihen ließen;
dann aber wurde es auf einmal anders. Der kleine
Kindskopf Wienke's guckte eines Morgens durch
die halbgeöffnete Thür zu ihr herein. „Na,” rief
die Alte, welche mit den Händen in einander auf
ihrem Holzstuhl saß, „was hast Du denn zu
bestellen?”

Aber das Kind kam schweigend näher und sah
sie mit ihren gleichgültigen Augen unablässig an.

„Bist Du das Deichgrafskind?” frug sie
Trien' Jans, und da das Kind wie nickend das
Köpfchen senkte, fuhr sie fort: „So setz' Dich hier
auf meinen Schemel! Ein Angorakater ist's ge-
wesen — so groß! Aber Dein Vater hat ihn
todtgeschlagen. Wenn er noch lebig wäre, so
könnt'st Du auf ihm reiten.”

Wienke richtete stumm ihre Augen auf das
weiße Fell; dann kniete sie nieder und begann es

mit ihren kleinen Händen zu streicheln, wie Kinder
es bei einer lebenden Katze oder einem Hunde zu
machen pflegen. „Armer Kater!” sagte sie dann
und fuhr wieder in ihren Liebkosungen fort.

„So,” rief nach einer Weile die Alte, „jetzt
ist es genug; und sitzen kannst Du auch noch heut'
auf ihm; vielleicht hat Dein Vater ihn auch nur
um deshalb todtgeschlagen!” Dann hob sie das
Kind an beiden Armen in die Höhe und setzte
es derb auf den Schemel nieder. Da es aber
stumm und unbeweglich sitzen blieb und sie nur
immer ansah, begann sie mit dem Kopfe zu
schütteln: „Du strafst ihn, Gott der Herr! Ja,
ja, Du strafst ihn!” murmelte sie; aber ein Er-
barmen mit dem Kinde schien sie doch zu über-
kommen; ihre knöcherne Hand strich über das
dürftige Haar desselben, und aus den Augen der
Kleinen kam es, als ob ihr damit wohl geschehe.

Von nun an kam Wienke täglich zu der
Alten in die Kammer; sie setzte sich bald von
selbst auf den Angoraschemel, und Trien' Jans
gab ihr kleine Fleisch- oder Brotstückchen in ihre
Händchen, welche sie allzeit in Vorrath hatte, und
ließ sie diese auf den Fußboden werfen; dann

kam mit Gekreisch und ausgespreitzten Flügeln die
Möve aus irgend einem Winkel hervorgeschossen
und machte sich darüber her. Erst erschrak das
Kind und schrie auf vor dem großen, stürmenden
Vogel; bald aber war es wie ein eingelerntes
Spiel, und wenn sie nur ihr Köpfchen durch den
Thürspalt steckte, schoß schon der Vogel auf sie
zu und setzte sich ihr auf Kopf oder Schulter, bis
die Alte ihr zu Hülfe kam und die Fütterung
beginnen konnte. Trien' Jans, die es sonst nicht
hatte leiden können, daß einer auch nur die Hand
nach ihrem „Claus” ausstreckte, sah jetzt geduldig
zu, wie das Kind allmälig ihr den Vogel völlig
abgewann. Er ließ sich willig von ihr haschen;
sie trug ihn umher und wickelte ihn in ihre Schürze,
und wenn dann auf der Werfte etwa das gelbe
Hündlein um sie herum und eifersüchtig gegen
den Vogel aufsprang, dann rief sie wohl: „Nicht
Du, nicht Du, Perle!” und hob mit ihren Aermchen
die Möve so hoch, daß diese, sich selbst befreiend,
schreiend über die Werfte hinflog, und statt ihrer
nun der Hund durch Schmeicheln und Springen
den Platz auf ihren Armen zu erobern suchte.

Fielen zufällig Hauke's oder Elke's Augen auf

dies wunderliche Vierblatt, das nur durch einen
gleichen Mangel am selben Stengel festgehalten
wurde, dann flog wohl ein zärtlicher Blick auf
ihr Kind; hatten sie sich gewandt, so blieb nur
noch ein Schmerz auf ihrem Antlitz, den jedes
einsam mit sich von dannen trug; denn das er-
lösende Wort war zwischen ihnen noch nicht
gesprochen worden. Da eines Sommervormittages,
als Wienke mit der Alten und den beiden Thieren
auf den großen Steinen vor der Scheunthür saß,
gingen ihre beiden Eltern, der Deichgraf seinen
Schimmel hinter sich, die Zügel über dem Arme,
hier vorüber; er wollte auf den Deich hinaus und
hatte das Pferd sich selber von der Fenne herauf-
geholt; sein Weib hatte auf der Werfte sich an
seinen Arm gehängt. Die Sonne schien warm
hernieder; es war fast schwül, und mitunter kam
ein Windstoß aus Süd-Süd-Ost. Dem Kinde mochte
es auf dem Platze unbehaglich werden: „Wienke will
mit!” rief sie, schüttelte die Möve von ihrem
Schooß und griff nach der Hand ihres Vaters.

„So komm'!” sagte dieser.

— Frau Elke aber rief: „In dem Wind?
Sie fliegt Dir weg!”

„Ich halt' sie schon; und heut' haben wir
warme Luft und lustig Wasser; da kann sie's
tanzen sehen.”

Und Elke lief ins Haus und holte noch ein
Tüchlein und ein Käppchen für ihr Kind. „Aber
es gibt ein Wetter,” sagte sie; „macht, daß Ihr
fortkommt, und seid bald wieder hier!”

Hauke lachte: „Das soll uns nicht zu fassen
kriegen!” und hob das Kind zu sich auf den Sattel.
Frau Elke blieb noch eine Weile auf der Werfte,
und sah, mit der Hand ihre Augen beschattend,
die Beiden auf den Weg und nach dem Deich
hinübertraben; Trien' Jans saß auf dem Stein und
murmelte Unverständliches mit ihren welken Lippen.

Das Kind lag regungslos im Arm des Vaters;
es war, als athme es beklommen unter dem Druck
der Gewitterluft; er neigte den Kopf zu ihr:
„Nun, Wienke?” frug er.

Das Kind sah ihn eine Weile an: „Vater,”
sagte es, „Du kannst das doch! Kannst Du nicht
Alles?”

„Was soll ich können, Wienke?”

Aber sie schwieg; sie schien die eigene Frage
nicht verstanden zu haben.

Es war Hochfluth; als sie auf den Deich
hinaufkamen, schlug der Widerschein der Sonne
von dem weiten Wasser ihr in die Augen, ein
Wirbelwind trieb die Wellen strudelnd in die
Höhe, und neue kamen heran und schlugen klatschend
gegen den Strand, da klammerte sie ihre Händchen
angstvoll um die Faust ihres Vaters, die den
Zügel führte, daß der Schimmel mit einem Satz
zur Seite fuhr. Die blaßblauen Augen sahen in
wirrem Schreck zu Hauke auf: „Das Wasser, Vater!
das Wasser!” rief sie.

Aber er löste sich sanft und sagte: „Still,
Kind, Du bist bei Deinem Vater; das Wasser thut
Dir nichts!”

Sie strich sich das fahlblonde Haar aus der
Stirn und wagte es wieder, auf die See hinaus-
zusehen. „Es thut mir nichts,” sagte sie zitternd;
„nein, sag', daß es uns nichts thun soll; Du
kannst das, und dann thut es uns auch nichts!”

„Nicht ich kann das, Kind,” entgegnete Hauke
ernst; „aber der Deich, auf dem wir reiten, der
schützt uns, und den hat Dein Vater ausgedacht
und bauen lassen.”

Ihre Augen gingen wider ihn, als ob sie

das nicht ganz verstünde; dann barg sie ihr auf-
fallend kleines Köpfchen in dem weiten Rocke
ihres Vaters.

„Warum versteckst Du Dich, Wienke?” raunte
der ihr zu; „ist Dir noch immer bange?” Und
ein zitterndes Stimmchen kam aus den Falten des
Rockes: „Wienke will lieber nicht sehen; aber Du
kannst doch Alles, Vater?”

Ein ferner Donner rollte gegen den Wind
herauf. „Hoho!” rief Hauke, „da kommt es!” und
wandte sein Pferd zur Rückkehr. „Nun wollen
wir heim zur Mutter!”

Das Kind that einen tiefen Athemzug; aber
erst als sie die Werfte und das Haus erreicht
hatten, hob es das Köpfchen von seines Vaters
Brust. Als dann Frau Elke ihr im Zimmer das
Tüchelchen und die Kapuze abgenommen hatte,
blieb sie wie ein kleiner stummer Kegel vor der
Mutter stehen. „Nun, Wienke,” sagte diese und
schüttelte sie leise, „magst Du das große Wasser
leiden?”

Aber das Kind riß die Augen auf: „Es
spricht,” sagte sie; „Wienke ist bange!”

— „Es spricht nicht; es rauscht und toset nur!”

Theodor Storm, Der Schimmelreiter 12

Das Kind sah ins Weite: „Hat es Beine?”
frug es wieder; „kann es über den Deich kommen?”

— „Nein, Wienke; dafür paßt Dein Vater
auf, er ist der Deichgraf.”

„Ja,” sagte das Kind und klatschte mit
blödem Lächeln in seine Händchen; „Vater kann
Alles — Alles!” Dann plötzlich, sich von der
Mutter abwendend, rief sie: „Laß Wienke zu
Trien' Jans, die hat rothe Aepfel!”

Und Elke öffnete die Thür und ließ das Kind
hinaus. Als sie dieselbe wieder geschlossen hatte,
schlug sie mit einem Ausdruck des tiefsten Grams
die Augen zu ihrem Manne auf, aus denen ihm
sonst nur Trost und Muth zu Hülfe gekommen war.

Er reichte ihr die Hand und drückte sie, als
ob es zwischen ihnen keines weiteren Wortes be-
dürfe; sie aber sagte leis: „Nein, Hauke, laß mich
sprechen: das Kind, das ich nach Jahren Dir ge-
boren habe, es wird für immer ein Kind bleiben.
O, lieber Gott! es ist schwachsinnig; ich muß es
einmal vor Dir sagen.”

„Ich wußte es längst,” sagte Hauke und
hielt die Hand seines Weibes fest, die sie ihm
entziehen wollte.

„So sind wir denn doch allein geblieben,”
sprach sie wieder.

Aber Hauke schüttelte den Kopf: „Ich hab'
sie lieb, und sie schlägt ihre Aermchen um mich
und drückt sich fest an meine Brust; um alle
Schätze wollt' ich das nicht missen!”

Die Frau sah finster vor sich hin: „Aber
warum?” sprach sie; „was hab' ich arme Mutter
denn verschuldet?”

— „Ja, Elke, das hab' ich freilich auch ge-
fragt; den, der allein es wissen kann; aber Du
weißt ja auch, der Allmächtige gibt den Menschen
keine Antwort — vielleicht, weil wir sie nicht be-
greifen würden.”

Er hatte auch die andere Hand seines Weibes
gefaßt und zog sie sanft zu sich heran: „Laß Dich
nicht irren, Dein Kind, wie Du es thust, zu
lieben; sei sicher, das versteht es!”

Da warf sich Elke an ihres Mannes Brust
und weinte sich satt und war mit ihrem Leid
nicht mehr allein. Dann plötzlich lächelte sie ihn
an; nach einem heftigen Händedruck lief sie hinaus
und holte sich ihr Kind aus der Kammer der alten
Trien' Jans, und nahm es auf ihren Schooß und

12 *

hätschelte und küßte es, bis es stammelnd sagte:
„Mutter, mein' liebe Mutter!”


So lebten die Menschen auf dem Deichgrafs-
Hofe still beisammen; wäre das Kind nicht da
gewesen, es hätte viel gefehlt.

Allmälig verfloß der Sommer; die Zugvögel
waren durchgezogen, die Luft wurde leer vom Ge-
sang der Lerchen; nur vor den Scheunen, wo sie
beim Dreschen Körner pickten, hörte man hie und
da einige kreischend davonfliegen; schon war Alles
hart gefroren. In der Küche des Haupthauses
saß eines Nachmittags die alte Trien' Jans auf
der Holzstufe einer Treppe, die neben dem Feuer-
heerd nach dem Boden lief. Es war in den letzten
Wochen, als sei sie aufgelebt; sie kam jetzt gern
einmal in die Küche und sah Frau Elke hier
hantiren; es war keine Rede mehr davon, daß ihre
Beine sie nicht hätten dahin tragen können, seit
eines Tages klein Wienke sie an der Schürze hier
heraufgezogen hatte. Jetzt kniete das Kind an ihrer
Seite und sah mit seinen stillen Augen in die
Flammen, die aus dem Heerdloch aufflackerten; ihr
eines Händchen klammerte sich an den Aermel der

Alten, das andere lag in ihrem eigenen fahlblonden
Haar. Trien' Jans erzählte: „Du weißt,” sagte
sie, „ich stand in Dienst bei Deinem Urgroßvater,
als Hausmagd, und dann mußt' ich die Schweine
füttern; der war klüger als sie alle — da war
es, es ist grausam lange her; aber eines Abends,
der Mond schien, da ließen sie die Hafschleuse
schließen, und sie konnte nicht wieder zurück in See.
O, wie sie schrie und mit ihren Fischhänden sich
in ihre harten struppigen Haare griff! Ja, Kind,
ich sah es und hörte sie selber schreien! Die Gräben
zwischen den Fennen waren alle voll Wasser, und
der Mond schien darauf, daß sie wie Silber glänzten,
und sie schwamm aus einem Graben in den anderen
und hob die Arme und schlug, was ihre Hände
waren, aneinander, daß man es weither klatschen
hörte, als wenn sie beten wollte; aber, Kind,
beten können diese Creaturen nicht. Ich saß vor
der Hausthür auf ein paar Balken, die zum Bauen
angefahren waren und sah weithin über die Fennen;
und das Wasserweib schwamm noch immer in den
Gräben, und wenn sie die Arme aufhob, so
glitzerten auch die wie Silber und Demanten.
Zuletzt sah ich sie nicht mehr, und die Wildgäns'

und Möven, die ich all' die Zeit nicht gehört
hatte, zogen wieder mit Pfeifen und Schnattern
durch die Luft.”

Die Alte schwieg; das Kind hatte ein Wort
sich aufgefangen: „Konnte nicht beten?” frug sie.
„Was sagst Du? Wer war es?”

„Kind,” sagte die Alte; „die Wasserfrau war
es; das sind Undinger, die nicht selig werden können.”

„Nicht selig!” wiederholte das Kind, und ein
tiefer Seufzer, als habe sie das verstanden, hob
die kleine Brust.

— „Trien' Jans!” kam eine tiefe Stimme
von der Küchenthür, und die Alte zuckte leicht
zusammen. Es war der Deichgraf Hauke Haien,
der dort am Ständer lehnte: „Was redet Sie
dem Kinde vor? Hab' ich Ihr nicht geboten, Ihre
Mären für sich zu behalten, oder sie den Gäns'
und Hühnern zu erzählen?”

Die Alte sah ihn mit einem bösen Blicke an
und schob die Kleine von sich fort: „Das sind
keine Mären,” murmelte sie in sich hinein, „das
hat mein Großohm mir erzählt.”

— „Ihr Großohm, Trien'? Sie wollte es ja
eben selbst erlebt haben.”

„Das ist egal,” sagte die Alte; „aber Ihr
glaubt nicht, Hauke Haien; Ihr wollt wohl meinen
Großohm noch zum Lügner machen!” Dann rückte
sie näher an den Heerd und streckte die Hände über
die Flammen des Feuerlochs.

Der Deichgraf warf einen Blick gegen das
Fenster: draußen dämmerte es noch kaum. „Komm,
Wienke!” sagte er und zog sein schwachsinniges Kind
zu sich heran; „komm mit mir, ich will Dir draußen
vom Deich aus etwas zeigen! Nur müssen wir zu
Fuß gehen; der Schimmel ist beim Schmied.”
Dann ging er mit ihr in die Stube, und Elke
band dem Kinde dicke wollene Tücher um Hals
und Schultern; und bald danach ging der Vater
mit ihr auf dem alten Deiche nach Nordwest hin-
auf, Jeverssand vorbei, bis wo die Watten breit,
fast unübersehbar wurden.

Bald hatte er sie getragen, bald ging sie an
seiner Hand; die Dämmerung wuchs allmälig; in
der Ferne verschwand Alles in Dunst und Duft.
Aber dort, wohin noch das Auge reichte, hatten
die unsichtbar schwellenden Wattströme das Eis
zerrissen, und, wie Hauke Haien es in seiner Jugend
einst gesehen hatte, aus den Spalten stiegen wie

damals die rauchenden Nebel, und daran entlang
waren wiederum die unheimlichen närrischen Ge-
stalten und hüpften gegen einander und dienerten
und dehnten sich plötzlich schreckhaft in die Breite.

Das Kind klammerte sich angstvoll an seinen
Vater und deckte dessen Hand über sein Gesichtlein:
„Die Seeteufel!” raunte es zitternd zwischen seine
Finger; „die Seeteufel!”

Er schüttelte den Kopf: „Nein, Wienke, weder
Wasserweiber noch Seeteufel; so Etwas gibt es
nicht; wer hat Dir davon gesagt?”

Sie sah mit stumpfem Blicke zu ihm herauf;
aber sie antwortete nicht. Er strich ihr zärtlich
über die Wangen: „Sieh nur wieder hin!” sagte
er, „das sind nur arme hungrige Vögel! Sieh
nur, wie jetzt der große seine Flügel breitet; die
holen sich die Fische, die in die rauchenden Spalten
kommen.”

„Fische,” wiederholte Wienke.

„Ja, Kind, das Alles ist lebig, so wie wir;
es gibt nichts Anderes; aber der liebe Gott ist
überall!”

Klein Wienke hatte ihre Augen fest auf den
Boden gerichtet und hielt den Athem an; es war,

als sähe sie erschrocken in einen Abgrund. Es war
vielleicht nur so; der Vater blickte lange auf sie
hin, er bückte sich und sah in ihr Gesichtlein;
aber keine Regung der verschlossenen Seele wurde
darin kund. Er hob sie auf den Arm und steckte
ihre verklommenen Händchen in einen seiner dicken
Wollhandschuhe: „So, mein Wienke,” — und das
Kind vernahm wohl nicht den Ton von heftiger
Innigkeit in seinen Worten —, „so, wärm' Dich
bei mir! Du bist doch unser Kind, unser einziges.
Du hast uns lieb! ..” Die Stimme brach dem
Manne; aber die Kleine drückte zärtlich ihr
Köpfchen in seinen rauhen Bart.

So gingen sie friedlich heimwärts.


Nach Neujahr war wieder einmal die Sorge
in das Haus getreten; ein Marschfieber hatte den
Deichgrafen ergriffen; auch mit ihm ging es nah'
am Rand der Grube her, und als er unter Frau
Elke's Pfleg' und Sorge wieder erstanden war,
schien er kaum derselbe Mann. Die Mattigkeit
des Körpers lag auch auf seinem Geiste, und Elke
sah mit Besorgniß, wie er allzeit leicht zufrieden
war. Dennoch, gegen Ende des März, drängte

es ihn, seinen Schimmel zu besteigen und zum
ersten Male wieder auf seinem Deich entlang zu
reiten; es war an einem Nachmittage, und die
Sonne, die zuvor geschienen hatte, lag längst schon
wieder hinter trübem Duft.

Im Winter hatte es ein paar Mal Hoch-
wasser gegeben; aber es war nicht von Belang
gewesen; nur drüben am andern Ufer war auf
einer Hallig eine Heerde Schafe ertrunken und ein
Stück vom Vorland abgerissen worden; hier an
dieser Seite und am neuen Kooge war ein nennens-
werther Schaden nicht geschehen. Aber in der
letzten Nacht hatte ein stärkerer Sturm getobt;
jetzt mußte der Deichgraf selbst hinaus und Alles
mit eignem Aug' besichtigen. Schon war er unten
von der Süd-Ostecke aus auf dem neuen Deich
herumgeritten, und es war Alles wohl erhalten;
als er aber an die Nord-Ostecke gekommen war,
dort wo der neue Deich auf den alten stößt, war
zwar der erstere unversehrt, aber wo früher der
Priehl den alten erreicht hatte und an ihm ent-
lang geflossen war, sah er in großer Breite die
Grasnarbe zerstört und fortgerissen und in dem
Körper des Deiches eine von der Fluth gewühlte

Höhlung, durch welche überdies ein Gewirr von
Mäusegängen bloßgelegt war. Hauke stieg vom
Pferde und besichtigte den Schaden in der Nähe:
das Mäuseunheil schien unverkennbar noch unsichtbar
weiter fortzulaufen.

Er erschrak heftig; gegen Alles dieses hätte
schon beim Bau des neuen Deiches Obacht ge-
nommen werden müssen; da es damals übersehen
worden, so mußte es jetzt geschehen! — Das Vieh
war noch nicht auf den Fennen, das Gras war
ungewohnt zurückgeblieben, wohin er blickte, es
sah ihn leer und öde an. Er bestieg wieder sein
Pferd und ritt am Ufer hin und her: es war
Ebbe, und er gewahrte wohl, wie der Strom
von außen her sich wieder ein neues Bett im
Schlick gewühlt hatte und jetzt von Nordwesten
auf den alten Deich gestoßen war; der neue aber,
soweit es ihn traf, hatte mit seinem sanfteren
Profile dem Anprall widerstehen können.

Ein Haufen neuer Plag' und Arbeit erhob
sich vor der Seele des Deichgrafen: nicht nur der
alte Deich mußte hier verstärkt, auch dessen Profil
dem des neuen angenähert werden; vor Allem aber
mußte der als gefährlich wieder aufgetretene Priehl

durch neu zu legende Dämme oder Lahnungen
abgeleitet werden. Noch einmal ritt er auf dem
neuen Deich bis an die äußerste Nord–West–Ecke,
dann wieder rückwärts, die Augen unablässig auf
das neu gewühlte Bett des Priehles heftend, der
ihm zur Seite sich deutlich genug in dem bloß-
gelegten Schlickgrund abzeichnete. Der Schimmel
drängte vorwärts und schnob und schlug mit den
Vorderhufen; aber der Reiter drückte ihn zurück,
er wollte langsam reiten, er wollte auch die innere
Unruhe bändigen, die immer wilder in ihm aufgohr.

Wenn eine Sturmfluth wiederkäme — eine,
wie 1655 dagewesen, wo Gut und Menschen un-
gezählt verschlungen wurden — wenn sie wieder-
käme, wie sie schon mehrmals einst gekommen
war! — Ein heißer Schauer überrieselte den
Reiter — der alte Deich, er würde den Stoß
nicht aushalten, der gegen ihn heraufschösse! Was
dann, was sollte dann geschehen? — Nur eines,
ein einzig Mittel würde es geben, um vielleicht
den alten Koog und Gut und Leben darin zu retten.
Hauke fühlte sein Herz still stehen, sein sonst so fester
Kopf schwindelte; er sprach es nicht aus, aber in
ihm sprach es stark genug: Dein Koog, der Hauken-

Haienkoog müßte preisgegeben und der neue Deich
durchstochen werden!

Schon sah er im Geist die stürzende Hochfluth
hereinbrechen und Gras und Klee mit ihrem salzen
schäumenden Gischt bedecken. Ein Sporenstich fuhr
in die Weichen des Schimmels, und einen Schrei
ausstoßend flog er auf dem Deich entlang und
dann den Akt hinab, der deichgräflichen Werfte zu.

Den Kopf voll von innerem Schreckniß und
ungeordneten Plänen kam er nach Hause. Er
warf sich in seinen Lehnstuhl, und als Elke mit
der Tochter in das Zimmer trat, stand er wieder
auf und hob das Kind zu sich empor und küßte
es; dann jagte er das gelbe Hündlein mit ein
paar leichten Schlägen von sich. „Ich muß noch
einmal droben nach dem Krug!” sagte er, und
nahm seine Mütze vom Thürhaken, wohin er sie
eben erst gehängt hatte.

Seine Frau sah ihn sorgvoll an: „Was
willst Du dort? Es wird schon Abend, Hauke!”

„Deichgeschichten!” murmelte er vor sich hin,
„ich treffe von den Gevollmächtigten dort.”

Sie ging ihm nach und drückte ihm die Hand,
denn er war mit diesen Worten schon zur Thür

hinaus. Hauke Haien, der sonst Alles bei sich
selber abgeschlossen hatte, drängte es jetzt, ein Wort
von Jenen zu erhalten, die er sonst kaum eines An-
theils werth gehalten hatte. Im Gastzimmer traf
er Ole Peters mit zweien der Gevollmächtigten
und einem Koogseinwohner am Kartentisch. „Du
kommst wohl von draußen, Deichgraf?” sagte der
Erstere, nahm die halb ausgetheilten Karten auf
und warf sie wieder hin.

„Ja, Ole,” erwiderte Hauke; „ich war dort;
es sieht übel aus.”

„Uebel? — Nun, ein paar Hundert Soden
und eine Bestickung wird's wohl kosten; ich war
dort auch am Nachmittag.”

„So wohlfeil wird's nicht abgehen, Ole,”
erwiderte der Deichgraf, „der Priehl ist wieder
da, und wenn er jetzt auch nicht von Norden auf
den alten Deich stößt, so thut er's doch von
Nordwesten!”

„Du hätt'st ihn lassen sollen, wo Du ihn
fandest!” sagte Ole trocken.

„Das heißt,” entgegnete Hauke, „der neue
Koog geht Dich nichts an; und darum sollte er
nicht existiren. Das ist Deine eigne Schuld! Aber

wenn wir Lahnungen legen müssen, um den alten
Deich zu schützen, der grüne Klee hinter dem neuen
bringt das übermäßig ein!”

„Was sagt Ihr, Deichgraf?” riefen die Ge-
vollmächtigten; „Lahnungen? Wie viele denn?
Ihr liebt es, Alles beim theuersten Ende an-
zufassen!”

Die Karten lagen unberührt auf dem Tisch.
„Ich will's Dir sagen, Deichgraf,” sagte Ole Peters
und stemmte beide Arme auf, „Dein neuer Koog
ist ein fressend Werk, was Du uns gestiftet hast!
Noch laborirt Alles an den schweren Kosten Deiner
breiten Deiche; nun frißt er uns auch den alten
Deich, und wir sollen ihn verneuen! — Zum Glück
ist's nicht so schlimm; er hat diesmal gehalten
und wird es auch noch ferner thun! Steig' nur
morgen wieder auf Deinen Schimmel und sieh es
Dir noch einmal an!”

Hauke war aus dem Frieden seines Hauses
hieher gekommen; hinter den immerhin noch ge-
mäßigten Worten, die er eben hörte, lag — er
konnte es nicht verkennen — ein zäher Widerstand,
ihm war, als fehle ihm dagegen noch die alte Kraft.
„Ich will thun, wie Du es räthst, Ole,” sprach

er; „nur fürcht' ich, ich werd' es finden, wie ich
es heut' gesehen habe.”

— Eine unruhige Nacht folgte diesem Tage;
Hauke wälzte sich schlaflos in seinen Kissen. „Was
ist Dir?” frug ihn Elke, welche die Sorge um
ihren Mann wach hielt; „drückt Dich etwas, so
sprich es von Dir; wir haben's ja immer so
gehalten!”

„Es hat nichts auf sich, Elke!” erwiderte er,
„am Deiche, an den Schleusen ist was zu repariren;
Du weißt, daß ich das allzeit Nachts in mir zu
verarbeiten habe.” Weiter sagte er nichts; er
wollte sich die Freiheit seines Handelns vorbehalten;
ihm unbewußt war die klare Einsicht und der
kräftige Geist seines Weibes ihm in seiner augen-
blicklichen Schwäche ein Hinderniß, dem er unwill-
kürlich auswich.

— — Am folgenden Vormittag, als er
wieder auf den Deich hinauskam, war die Welt
eine andere, als wie er sie Tags zuvor gefunden
hatte; zwar war wieder hohl' Ebbe, aber der Tag
war noch im Steigen, und eine lichte Frühlingssonne
ließ ihre Strahlen fast senkrecht auf die unabsehbaren
Watten fallen; die weißen Möven schwebten ruhig

hin und wieder, und unsichtbar über ihnen, hoch
unter dem azurblauen Himmel, sangen die Lerchen
ihre ewige Melodie. Hauke, der nicht wußte, wie
uns die Natur mit ihrem Reiz betrügen kann,
stand auf der Nordwestecke des Deiches und suchte
nach dem neuen Bett des Priehles, das ihn gestern
so erschreckt hatte; aber bei dem vom Zenith herab-
schießenden Sonnenlichte fand er es anfänglich nicht
einmal; erst da er gegen die blendenden Strahlen
seine Augen mit der Hand beschattete, konnte er
es nicht verkennen; aber dennoch, die Schatten in
der gestrigen Dämmerung mußten ihn getäuscht
haben; es kennzeichnete sich jetzt nur schwach; die
bloßgelegte Mäusewirthschaft mußte mehr als die
Fluth den Schaden in dem Deich veranlaßt haben.
Freilich, Wandel mußte hier geschafft werden;
aber durch sorgfältiges Aufgraben, und wie Ole
Peters gesagt hatte, durch frische Soden und einige
Ruthen Strohbestickung war der Schaden auszu-
heilen.

„Es war so schlimm nicht,” sprach er er-
leichtert zu sich selber, „Du bist gestern doch Dein
eigner Narr gewesen!” — Er berief die Gevoll-
mächtigten, und die Arbeiten wurden ohne Wider-

Theodor Storm, Der Schimmelreiter. 13

spruch beschlossen, was bisher noch nie geschehen
war. Der Deichgraf meinte eine stärkende Ruhe
in seinem noch geschwächten Körper sich verbreiten
zu fühlen; und nach einigen Wochen war Alles
sauber ausgeführt.

Das Jahr ging weiter, aber je weiter es ging
und je ungestörter die neugelegten Rasen durch die
Strohdecke grünten, um so unruhiger ging oder
ritt Hauke an dieser Stelle vorüber, er wandte
die Augen ab, er ritt hart an der Binnenseite
des Deiches; ein paar Mal, wo er dort hätte
vorüber müssen, ließ er sein schon gesatteltes Pferd
wieder in den Stall zurückführen; dann wieder,
wo er nichts dort zu thun hatte, wanderte er, um
nur rasch und ungesehen von seiner Werfte fort-
zukommen, plötzlich und zu Fuß dahin; manchmal
auch war er umgekehrt, er hatte es sich nicht zu-
muthen können, die unheimliche Stelle aufs Neue zu
betrachten; und endlich, mit den Händen hätte er Alles
wieder aufreißen mögen; denn wie ein Gewissens-
biß, der außer ihm Gestalt gewonnen hatte, lag
dies Stück des Deiches ihm vor Augen. Und doch,
seine Hand konnte nicht mehr daran rühren; und
Niemandem, selbst nicht seinem Weibe, durfte er

davon reden. So war der September gekommen;
Nachts hatte ein mäßiger Sturm getobt und war
zuletzt nach Nordwest umgesprungen. An trübem
Vormittag danach, zur Ebbezeit, ritt Hauke auf
den Deich hinaus, und es durchfuhr ihn, als er
seine Augen über die Watten schweifen ließ; dort,
von Nordwest herauf, sah er plötzlich wieder, und
schärfer und tiefer ausgewühlt, das gespenstische neue
Bett des Priehles; so sehr er seine Augen anstrengte,
es wollte nicht mehr weichen.

Als er nach Haus kam, ergriff Elke seine
Hand: „Was hast Du, Hauke?” sprach sie, als sie
in sein düstres Antlitz sah; „es ist doch kein neues
Unheil? Wir sind jetzt so glücklich; mir ist, Du
hast nun Frieden mit ihnen Allen!”

Diesen Worten gegenüber vermochte er seine
verworrene Furcht nicht in Worten kund zu geben.

„Nein, Elke,” sagte er, „mich feindet Niemand
an; es ist nur ein verantwortlich' Amt, die Gemeinde
vor unseres Herrgotts Meer zu schützen.”

Er machte sich los, um weiteren Fragen des
geliebten Weibes auszuweichen. Er ging in Stall
und Scheuer, als ob er Alles revidiren müsse;
aber er sah nichts um sich her; er war nur beflissen,

13 *

seinen Gewissensbiß zur Ruhe, ihn sich selber als
eine krankhaft übertriebene Angst zur Ueberzeugung
zu bringen.”

— — „Das Jahr, von dem ich Ihnen erzähle,”
sagte nach einer Weile mein Gastfreund, der Schul-
meister, „war das Jahr 1756, das in dieser Gegend
nie vergessen wird; im Hause Hauke Haien's brachte
es eine Todte. Zu Ende des Septembers war in
der Kammer, welche ihr in der Scheune eingeräumt
war, die fast neunzigjährige Trien' Jans am Sterben.
Man hatte sie nach ihrem Wunsche in den Kissen
aufgerichtet, und ihre Augen gingen durch die
kleinen bleigefaßten Scheiben in die Ferne; es mußte
dort am Himmel eine dünnere Luftschicht über
einer dichteren liegen; denn es war hohe Kimmung,
und die Spiegelung hob in diesem Augenblick das
Meer wie einen flimmernden Silberstreifen über
den Rand des Deiches, so daß es blendend in die
Kammer schimmerte; auch die Südspitze von Jevers-
sand war sichtbar.

Am Fußende des Bettes kauerte die kleine
Wienke, und hielt mit der einen Hand sich fest
an der ihres Vaters, der daneben stand. In das
Antlitz der Sterbenden grub eben der Tod das

hippokratische Gesicht, und das Kind starrte athem-
los auf die unheimliche, ihr unverständliche Ver-
wandlung des unschönen, aber ihr vertrauten Ange-
sichts. „Was macht sie? Was ist das, Vater?”
flüsterte sie angstvoll und grub die Fingernägel in
ihres Vaters Hand.

„Sie stirbt!” sagte der Deichgraf.

„Stirbt!” wiederholte das Kind und schien
in verworrenes Sinnen zu verfallen.

Aber die Alte rührte noch einmal ihre Lippen:
„Jins! Jins!” und kreischend, wie ein Nothschrei,
brach es hervor, und ihre knöchernen Arme streckten
sich gegen die draußen flimmernde Meeresspiegelung:
„Hölp mi! Hölp mi! Du bist ja båwen Wåter ….
Gott gnåd de Annern!”

Ihre Arme sanken, ein leises Krachen der
Bettstatt wurde hörbar; sie hatte aufgehört
zu leben.

Das Kind that einen tiefen Seufzer und
warf die blassen Augen zu ihrem Vater auf:
„Stirbt sie noch immer?” frug es.

„Sie hat es vollbracht!” sagte der Deichgraf
und nahm das Kind auf seinen Arm: „Sie ist nun
weit von uns, beim lieben Gott.”

„Beim lieben Gott!” wiederholte das Kind
und schwieg eine Weile, als müsse es den Worten
nachsinnen. „Ist das gut, beim lieben Gott?”

„Ja, das ist das Beste.” — In Hauke's
Innern aber klang schwer die letzte Rede der
Sterbenden. „Gott gnåd de Annern!” sprach es
leise in ihm. „Was wollte die alte Hexe? Sind
denn die Sterbenden Propheten? — —”

— — Bald, nachdem Trien' Jans oben bei
der Kirche eingegraben war, begann man immer
lauter von allerlei Unheil und seltsamem Geschmeiß
zu reden, das die Menschen in Nordfriesland er-
schreckt haben sollte; und sicher war es, am Sonn-
tage Lätare war droben von der Thurmspitze der
goldne Hahn durch einen Wirbelwind herabgeworfen
worden; auch das war richtig, im Hochsommer fiel,
wie ein Schnee, ein groß Geschmeiß vom Himmel,
daß man die Augen davor nicht aufthun konnte,
und es hernach fast handhoch auf den Fennen lag,
und hatte Niemand je so was gesehen; als aber
nach Ende September der Großknecht mit Korn
und die Magd Ann' Grethe mit Butter in die
Stadt zu Markt gefahren waren, kletterten sie
bei ihrer Rückkunft mit schreckensbleichen Gesichtern

von ihrem Wagen. „Was ist? Was habt Ihr?”
riefen die andern Dirnen, die hinausgelaufen waren,
da sie den Wagen rollen hörten.

Ann' Grethe in ihrem Reise-Anzug trat athem-
los in die geräumige Küche. „Nun, so erzähl'
doch!” riefen die Dirnen wieder, „wo ist das Un-
glück los?”

„Ach, unser lieber Jesus wolle uns behüten!”
rief Ann' Grethe. „Ihr wißt, von drüben, überm
Wasser, das alt' Mariken vom Ziegelhof, wir
stehen mit unserer Butter ja allzeit zusammen an
der Apotheker-Ecke, die hat es mir erzählt, und
Iven Johns sagte auch, „das gibt ein Unglück!”
sagte er; „ein Unglück über ganz Nordfriesland;
glaub' mir's, Ann' Greth! Und” — sie dämpfte
ihre Stimme — „mit des Deichgrafs Schimmel
ist's am Ende auch nicht richtig!”

„Scht! Scht!” machten die andern Dirnen.

— „Ja, ja; was kümmert's mich! Aber
drüben, an der andern Seite, geht's noch schlimmer,
als bei uns! Nicht bloß Fliegen und Geschmeiß,
auch Blut ist wie Regen vom Himmel gefallen;
und da am Sonntag Morgen danach der Pastor sein
Waschbecken vorgenommen hat, sind fünf Todten-

köpfe, wie Erbsen groß, darin gewesen, und Alle
sind gekommen, um das zu sehen; im Monat
Augusti sind grausige rothköpfige Raupenwürmer
über das Land gezogen und haben Korn und Mehl
und Brot und was sie fanden, weggefressen, und
hat kein Feuer sie vertilgen können!”

Die Erzählerin verstummte plötzlich; keine
der Mägde hatte bemerkt, daß die Hausfrau in
die Küche getreten war. „Was redet Ihr da?”
sprach diese. „Laßt das den Wirth nicht hören!”
Und da sie Alle jetzt erzählen wollten: „Es thut
nicht noth; ich habe genug davon vernommen;
geht an Euere Arbeit, das bringt Euch besseren
Segen!” Dann nahm sie Ann' Greth mit sich in
die Stube und hielt mit dieser Abrechnung über
ihre Marktgeschäfte.

So fand im Hause des Deichgrafen das
abergläubige Geschwätz bei der Herrschaft keinen
Anhalt; aber in die übrigen Häuser, und je länger
die Abende wurden, um desto leichter drang es
mehr und mehr hinein. Wie schwere Luft lag es
auf Allen; und heimlich sagte man es sich, ein
Unheil, ein schweres, würde über Nordfriesland
kommen.


Es war vor Allerheiligen, im October. Tag
über hatte es stark aus Südwest gestürmt; Abends
stand ein halber Mond am Himmel, dunkel-
braune Wolken jagten überhin, und Schatten und
trübes Licht flogen auf der Erde durcheinander;
der Sturm war im Wachsen. Im Zimmer des
Deichgrafen stand noch der geleerte Abendtisch; die
Knechte waren in den Stall gewiesen, um dort
des Viehes zu achten; die Mägde mußten im Hause
und auf den Böden nachsehen, ob Thüren und
Luken wohl verschlossen seien, daß nicht der Sturm
hineinfasse und Unheil anrichte. Drinnen stand
Hauke neben seiner Frau am Fenster; er hatte eben
sein Abendbrot hinabgeschlungen; er war draußen
auf dem Deich gewesen. Zu Fuße war er hinaus-
getrabt, schon früh am Nachmittag; spitze Pfähle
und Säcke voll Klei oder Erde hatte er hie und
dort, wo der Deich eine Schwäche zu verrathen
schien, zusammentragen lassen; überall hatte er
Leute angestellt, um die Pfähle einzurammen und
mit den Säcken vorzudämmen, sobald die Fluth den
Deich zu schädigen beginne; an dem Winkel zu
Nordwesten, wo der alte und der neue Deich zu-
sammenstießen, hatte er die meisten Menschen hin-

gestellt; nur im Nothfall durften sie von den an-
gewiesenen Plätzen weichen. Das hatte er zurück-
gelassen; dann, vor kaum einer Viertelstunde, naß,
zerzaust, war er in seinem Hause angekommen, und
jetzt, das Ohr nach den Windböen, welche die in
Blei gefaßten Scheiben rasseln machten, blickte er
wie gedankenlos in die wüste Nacht hinaus; die
Wanduhr hinter ihrer Glasscheibe schlug eben acht.
Das Kind, das neben der Mutter stand, fuhr zu-
sammen und barg den Kopf in deren Kleider.
„Claus!” rief sie weinend; „wo ist mein Claus?”

Sie konnte wohl so fragen; denn die Möve
hatte, wie schon im vorigen Jahre, so auch jetzt
ihre Winterreise nicht mehr angetreten. Der Vater
überhörte die Frage; die Mutter aber nahm das
Kind auf ihren Arm. „Dein Claus ist in der
Scheune,” sagte sie; „da sitzt er warm.”

„Warum?” sagte Wienke, „ist das gut?”

— „Ja, das ist gut.”

Der Hausherr stand noch am Fenster: „Es
geht nicht länger, Elke!” sagte er; „ruf' eine von
den Dirnen; der Sturm drückt uns die Scheiben
ein; die Luken müssen angeschroben werden!”

Auf das Wort der Hausfrau war die Magd

hinausgelaufen; man sah vom Zimmer aus, wie
ihr die Röcke flogen; aber als sie die Klammern
gelöst hatte, riß ihr der Sturm den Laden aus
der Hand und warf ihn gegen die Fenster, daß
ein paar Scheiben zersplittert in die Stube flogen
und eins der Lichter qualmend auslosch. Hauke
mußte selbst hinaus, zu helfen, und nur mit Noth
kamen allmälig die Luken vor die Fenster. Als
sie beim Wiedereintritt in das Haus die Thür
aufrissen, fuhr eine Böe hinterdrein, daß Glas
und Silber im Wandschrank durcheinander klirrten;
oben im Hause über ihren Köpfen zitterten und
krachten die Balken, als wolle der Sturm das Dach
von den Mauern reißen. Aber Hauke kam nicht
wieder in das Zimmer; Elke hörte, wie er durch
die Tenne nach dem Stalle schritt. „Den Schimmel!
Den Schimmel, John! Rasch!” So hörte sie ihn
rufen; dann kam er wieder in die Stube, das
Haar zerzaust, aber die grauen Augen leuchtend.
„Der Wind ist umgesprungen!” rief er —, „nach
Nordwest, auf halber Springfluth! Kein Wind; —
wir haben solchen Sturm noch nicht erlebt!”

Elke war todtenblaß geworden: „Und Du
mußt noch einmal hinaus?”

Er ergriff ihre beiden Hände und drückte sie
wie im Krampfe in die seinen: „Das muß ich,
Elke.”

Sie erhob langsam ihre dunkeln Augen zu
ihm, und ein paar Secunden lang sahen sie sich
an; doch war's wie eine Ewigkeit. „Ja, Hauke,”
sagte das Weib; „ich weiß es wohl, Du mußt!”

Da trabte es draußen vor der Hausthür. Sie
fiel ihm um den Hals, und einen Augenblick war's,
als könne sie ihn nicht lassen; aber auch das war
nur ein Augenblick. „Das ist unser Kampf!”
sprach Hauke; „ihr seid hier sicher; an dies Haus
ist noch keine Fluth gestiegen. Und bet' zu Gott,
daß er auch mit mir sei!”

Hauke hüllte sich in seinen Mantel, und Elke
nahm ein Tuch und wickelte es ihm sorgsam um
den Hals; sie wollte ein Wort sprechen, aber die
zitternden Lippen versagten es ihr.

Draußen wieherte der Schimmel, daß es wie
Trompetenschall in das Heulen des Sturmes hinein-
klang. Elke war mit ihrem Mann hinausgegangen;
die alte Esche knarrte, als ob sie auseinanderstürzen
solle. „Steigt auf, Herr!” rief der Knecht, „der
Schimmel ist wie toll; die Zügel könnten reißen.”

Hauke schlug die Arme um sein Weib: „Bei
Sonnenaufgang bin ich wieder da!”

Schon war er auf sein Pferd gesprungen; das
Thier stieg mit den Vorderhufen in die Höhe; dann
gleich einem Streithengst, der sich in die Schlacht
stürzt, jagte es mit seinem Reiter die Werfte hin-
unter, in Nacht und Sturmgeheul hinaus. „Vater,
mein Vater!” schrie eine klägliche Kinderstimme
hinter ihm darein: „Mein lieber Vater!”

Wienke war im Dunkeln hinter dem Fort-
jagenden hergelaufen; aber schon nach hundert
Schritten strauchelte sie über einen Erdhaufen und
fiel zu Boden.

Der Knecht Iven Johns brachte das weinende
Kind der Mutter zurück; die lehnte am Stamme
der Esche, deren Zweige über ihr die Luft peitschten,
und starrte wie abwesend in die Nacht hinaus, in
der ihr Mann verschwunden war; wenn das Brüllen
des Sturmes und das ferne Klatschen des Meeres
einen Augenblick aussetzten, fuhr sie wie in Schreck
zusammen; ihr war jetzt, als suche Alles nur ihn
zu verderben, und werde jäh verstummen, wenn
es ihn gefaßt habe. Ihre Kniee zitterten, ihre
Haare hatte der Sturm gelöst und trieb damit

sein Spiel. „Hier ist das Kind, Frau!” schrie
John ihr zu; „haltet es fest!” und drückte die
Kleine der Mutter in den Arm.

„Das Kind? — Ich hatte Dich vergessen,
Wienke!” rief sie; „Gott verzeih' mir's.” Dann
hob sie es an ihre Brust, so fest nur Liebe fassen
kann, und stürzte mit ihr in die Kniee: „Herr
Gott und Du mein Jesus, laß uns nicht Wittwe
und nicht Waise werden! Schütz' ihn, o lieber Gott;
nur Du und ich, wir kennen ihn allein!” Und der
Sturm setzte nicht mehr aus; es tönte und donnerte,
als solle die ganze Welt in ungeheuerem Hall und
Schall zu Grunde gehen.

„Geht in das Haus, Frau!” sagte John;
„kommt!” und er half ihnen auf und leitete die
Beiden in das Haus und in die Stube.

— — Der Deichgraf Hauke Haien jagte auf
seinem Schimmel dem Deiche zu. Der schmale
Weg war grundlos; denn die Tage vorher war
unermeßlicher Regen gefallen; aber der nasse,
saugende Klei schien gleichwohl die Hufen des
Thieres nicht zu halten, es war als hätte es
festen Sommerboden unter sich. Wie eine wilde
Jagd trieben die Wolken am Himmel; unten lag

die weite Marsch wie eine unerkennbare, von un-
ruhigen Schatten erfüllte Wüste; von dem Wasser
hinter dem Deiche, immer ungeheurer, kam ein
dumpfes Tosen, als müsse es alles Andere ver-
schlingen. „Vorwärts, Schimmel!” rief Hauke;
„wir reiten unseren schlimmsten Ritt!”

Da klang es wie ein Todesschrei unter den
Hufen seines Rosses. Er riß den Zügel zurück; er
sah sich um: ihm zur Seite dicht über dem Boden,
halb fliegend, halb vom Sturme geschleudert, zog
eine Schaar von weißen Möven, ein höhnisches
Gegacker ausstoßend; sie suchten Schutz im Lande.
Eine von ihnen — der Mond schien flüchtig durch
die Wolken — lag am Weg zertreten: dem Reiter
war's, als flattere ein rothes Band an ihrem Halse.
„Claus!” rief er. „Armer Claus!”

War es der Vogel seines Kindes? Hatte er
Roß und Reiter erkannt und sich bei ihnen bergen
wollen? — Der Reiter wußte es nicht. „Vorwärts!”
rief er wieder, und schon hob der Schimmel zu neuem
Rennen seine Hufen, da setzte der Sturm plötzlich aus,
eine Todtenstille trat an seine Stelle; nur eine Se-
cunde lang, dann kam er mit erneuter Wuth zurück;
aber Menschenstimmen und verlorenes Hunde-Gebell

waren inzwischen an des Reiters Ohr geschlagen,
und als er rückwärts nach seinem Dorf den Kopf
wandte, erkannte er in dem Mondlicht, das her-
vorbrach, auf den Werften und vor den Häusern
Menschen an hochbeladenen Wagen umher hantirend;
er sah, wie im Fluge, noch andere Wagen eilend
nach der Geest hinauffahren; Gebrüll von Rindern
traf sein Ohr, die aus den warmen Ställen nach
dort hinaufgetrieben wurden. „Gott Dank! sie
sind dabei, sich und ihr Vieh zu retten!” rief
es in ihm; und dann mit einem Angstschrei:
„Mein Weib! Mein Kind! — Nein, nein; auf
unsere Werfte steigt das Wasser nicht!”

Aber nur ein Augenblick war es; nur wie
eine Vision flog Alles an ihm vorbei.

Eine furchtbare Böe kam brüllend vom Meer
herüber, und ihr entgegen stürmten Roß und
Reiter den schmalen Akt zum Deich hinan. Als sie
oben waren, stoppte Hauke mit Gewalt sein Pferd.
Aber wo war das Meer? Wo Jeverssand? Wo
blieb das Ufer drüben? — — Nur Berge von
Wasser sah er vor sich, die dräuend gegen den
nächtlichen Himmel stiegen, die in der furchtbaren
Dämmerung sich über einander zu thürmen suchten

und über einander gegen das feste Land schlugen.
Mit weißen Kronen kamen sie daher, heulend, als
sei in ihnen der Schrei alles furchtbaren Raub-
gethiers der Wildniß. Der Schimmel schlug mit
den Vorderhufen und schnob mit seinen Nüstern
in den Lärm hinaus; den Reiter aber wollte es
überfallen, als sei hier alle Menschenmacht zu
Ende; als müsse jetzt die Nacht, der Tod, das
Nichts hereinbrechen.

Doch er besann sich: es war ja Sturmfluth;
nur hatte er sie selbst noch nimmer so gesehen;
sein Weib, sein Kind, sie saßen sicher auf der hohen
Werfte, in dem festen Hause; sein Deich aber —
und wie ein Stolz flog es ihm durch die Brust —
der Hauke-Haiendeich, wie ihn die Leute nannten,
der mochte jetzt beweisen, wie man Deiche bauen
müsse!

Aber — was war das? — Er hielt an dem
Winkel zwischen beiden Deichen; wo waren die
Leute, die er hieher gestellt, die hier die Wacht zu
halten hatten? — Er blickte nach Norden den
alten Deich hinauf; denn auch dorthin hatte er
Einzelne beordert. Weder hier noch dort ver-
mochte er einen Menschen zu erblicken; er ritt ein

Theodor Storm, Der Schimmelreiter. 14

Stück hinaus, aber er blieb allein; nur das
Wehen des Sturmes und das Brausen des Meeres
bis aus unermessener Ferne schlug betäubend an
sein Ohr. Er wandte das Pferd zurück; er kam
wieder zu der verlassenen Ecke und ließ seine Augen
längs der Linie des neuen Deichs gleiten; er er-
kannte deutlich: langsamer, weniger gewaltig rollten
hier die Wellen heran; fast schien's, als wäre
dort ein ander Wasser. „Der soll schon stehen!”
murmelte er, und wie ein Lachen stieg es in ihm
herauf.

Aber das Lachen verging ihm, als seine
Blicke weiter an der Linie seines Deichs entlang
glitten: an der Nordwestecke — was war das dort?
Ein dunkler Haufen wimmelte durcheinander; er
sah, wie es sich emsig rührte und drängte — kein
Zweifel, es waren Menschen! Was wollten, was
arbeiteten die jetzt an seinem Deich? — Und schon
saßen seine Sporen dem Schimmel in den Weichen,
und das Thier flog mit ihm dahin; der Sturm
kam von der Breitseite; mitunter drängten die
Böen so gewaltig, daß sie fast vom Deiche in
den neuen Koog hinabgeschleudert wären; aber Roß
und Reiter wußten, wo sie ritten. Schon gewahrte

Hauke, daß wohl ein paar Dutzend Menschen in
eifriger Arbeit dort beisammen seien, und schon
sah er deutlich, daß eine Rinne quer durch den
neuen Deich gegraben war. Gewaltsam stoppte er
sein Pferd: „Halt!” schrie er; „halt! Was treibt
Ihr hier für Teufelsunfug?”

Sie hatten in Schreck die Spaten ruhen lassen,
als sie auf einmal den Deichgraf unter sich ge-
wahrten; seine Worte hatte der Sturm ihnen zu-
getragen, und er sah wohl, daß mehrere ihm zu
antworten strebten; aber er gewahrte nur ihre
heftigen Gebärden; denn sie standen Alle ihm zur
Linken, und was sie sprachen, nahm der Sturm
hinweg, der hier draußen jetzt die Menschen mit-
unter wie im Taumel gegen einander warf, so
daß sie sich dicht zusammenscharten. Hauke maaß
mit seinen raschen Augen die gegrabene Rinne und
den Stand des Wassers, das, trotz des neuen
Profiles, fast an die Höhe des Deichs hinauf-
klatschte und Roß und Reiter überspritzte. Nur
noch zehn Minuten Arbeit — er sah es wohl —
dann brach die Hochfluth durch die Rinne und der
Hauke-Haienkoog wurde vom Meer begraben!

Der Deichgraf winkte einem der Arbeiter an

14 *

die andere Seite seines Pferdes. „Nun, so sprich!”
schrie er, „was treibt Ihr hier, was soll das
heißen?”

Und der Mensch schrie dagegen: „Wir sollen
den neuen Deich durchstechen, Herr! damit der alte
Deich nicht bricht!”

„Was sollt Ihr?”

— „Den neuen Deich durchstechen!”

„Und den Koog verschütten? — Welcher Teufel
hat Euch das befohlen?”

„Nein, Herr, kein Teufel; der Gevollmächtigte
Ole Peters ist hier gewesen; der hat's befohlen!”

Der Zorn stieg dem Reiter in die Augen:
„Kennt Ihr mich?” schrie er. „Wo ich bin, hat
Ole Peters nichts zu ordiniren! Fort mit Euch!
An Euere Plätze, wo ich Euch hingestellt!”

Und da sie zögerten, sprengte er mit seinem
Schimmel zwischen sie: „Fort, zu Euerer oder des
Teufels Großmutter!”

„Herr, hütet Euch!” rief Einer aus dem Haufen
und stieß mit seinem Spaten gegen das wie rasend
sich gebärdende Thier; aber ein Hufschlag schleuderte
ihm den Spaten aus der Hand, ein Anderer
stürzte zu Boden. Da plötzlich erhob sich ein

Schrei aus dem übrigen Haufen, ein Schrei, wie
ihn nur die Todesangst einer Menschenkehle zu
entreißen pflegt; einen Augenblick war Alles, auch
der Deichgraf und der Schimmel, wie gelähmt; nur
ein Arbeiter hatte gleich einem Wegweiser seinen
Arm gestreckt; der wies nach der Nordwestecke der
beiden Deiche, dort wo der neue auf den alten stieß.
Nur das Tosen des Sturmes und das Rauschen
des Wassers war zu hören. Hauke drehte sich im
Sattel: was gab das dort? Seine Augen wurden
groß: „Herr Gott! Ein Bruch! Ein Bruch im
alten Deich!”

„Euere Schuld, Deichgraf!” schrie eine Stimme
aus dem Haufen: „Euere Schuld! Nehmt's mit
vor Gottes Thron!”

Hauke's zornrothes Antlitz war todtenbleich
geworden; der Mond, der es beschien, konnte es
nicht bleicher machen; seine Arme hingen schlaff,
er wußte kaum, daß er den Zügel hielt. Aber
auch das war nur ein Augenblick; schon richtete
er sich auf, ein hartes Stöhnen brach aus seinem
Munde; dann wandte er stumm sein Pferd, und
der Schimmel schnob und ras'te ostwärts auf dem
Deich mit ihm dahin. Des Reiters Augen flogen

scharf nach allen Seiten; in seinem Kopfe wühlten
die Gedanken: Was hatte er für Schuld vor
Gottes Thron zu tragen? — Der Durchstich des
neuen Deichs — vielleicht, sie hätten's fertig ge-
bracht, wenn er sein Halt nicht gerufen hätte;
aber — es war noch eins, und es schoß ihm heiß
zu Herzen, er wußte es nur zu gut — im
vorigen Sommer, hätte damals Ole Peters' böses
Maul ihn nicht zurückgehalten — da lag's! Er
allein hatte die Schwäche des alten Deichs erkannt;
er hätte trotz alledem das neue Werk betreiben
müssen: „Herr Gott, ja ich bekenn' es,” rief er
plötzlich laut in den Sturm hinaus, „ich habe
meines Amtes schlecht gewartet!”

Zu seiner Linken, dicht an des Pferdes Hufen,
tobte das Meer; vor ihm, und jetzt in voller
Finsterniß, lag der alte Koog mit seinen Werften
und heimathlichen Häusern; das bleiche Himmels-
licht war völlig ausgethan; nur von einer Stelle
brach ein Lichtschein durch das Dunkel. Und wie
ein Trost kam es an des Mannes Herz; es mußte
von seinem Haus herüber scheinen, es war ihm
wie ein Gruß von Weib und Kind. Gottlob, die
saßen sicher auf der hohen Werfte! Die Andern,

gewiß, sie waren schon im Geestdorf droben; von
dorther schimmerte so viel Lichtschein, wie er nie-
mals noch gesehen hatte; ja selbst hoch oben aus
der Luft, es mochte wohl vom Kirchthurm sein,
brach solcher in die Nacht hinaus. „Sie werden
Alle fort sein, Alle!” sprach Hauke bei sich selber;
„freilich auf mancher Werfte wird ein Haus in
Trümmern liegen, schlechte Jahre werden für die
überschwemmten Fennen kommen; Siele und
Schleusen zu repariren sein! Wir müssen's tragen,
und ich will helfen, auch denen, die mir Leids
gethan; nur, Herr, mein Gott, sei gnädig mit uns
Menschen!”

Da warf er seine Augen seitwärts nach dem
neuen Koog; um ihn schäumte das Meer; aber in
ihm lag es wie nächtlicher Friede. Ein un-
willkürliches Jauchzen brach aus des Reiters Brust:
„Der Hauke-Haiendeich, er soll schon halten; er
wird es noch nach hundert Jahren thun!”

Ein donnerartiges Rauschen zu seinen Füßen
weckte ihn aus diesen Träumen; der Schimmel wollte
nicht mehr vorwärts. Was war das? — Das
Pferd sprang zurück, und er fühlte es, ein Deich-
stück stürzte vor ihm in die Tiefe. Er riß die

Augen auf und schüttelte alles Sinnen von sich:
er hielt am alten Deich, der Schimmel hatte mit
den Vorderhufen schon darauf gestanden. Unwill-
kürlich riß er das Pferd zurück; da flog der letzte
Wolkenmantel von dem Mond, und das milde
Gestirn beleuchtete den Graus, der schäumend,
zischend vor ihm in die Tiefe stürzte, in den alten
Koog hinab.

Wie sinnlos starrte Hauke darauf hin; eine
Sündfluth war's, um Thier' und Menschen zu
verschlingen. Da blinkte wieder ihm der Lichtschein
in die Augen; es war derselbe, den er vorhin
gewahrt hatte; noch immer brannte der auf seiner
Werfte; und als er jetzt ermuthigt in den Koog
hinabsah, gewahrte er wohl, daß hinter dem
sinnverwirrenden Strudel, der tosend vor ihm
hinabstürzte, nur noch eine Breite von etwa
hundert Schritten überfluthet war; dahinter konnte
er deutlich den Weg erkennen, der vom Koog heran
führte. Er sah noch mehr: ein Wagen, nein, eine
zweiräderige Carriole kam wie toll gegen den Deich
herangefahren; ein Weib, ja auch ein Kind saßen
darin. Und jetzt — war das nicht das kreischende
Gebell eines kleinen Hundes, das im Sturm

vorüberflog? Allmächtiger Gott! Sein Weib, sein
Kind waren es; schon kamen sie dicht heran, und
die schäumende Wassermasse drängte auf sie zu.
Ein Schrei, ein Verzweiflungsschrei brach aus der
Brust des Reiters: „Elke!” schrie er; „Elke!
Zurück! Zurück!”

Aber Sturm und Meer waren nicht barm-
herzig, ihr Toben zerwehte seine Worte; nur seinen
Mantel hatte der Sturm erfaßt, es hätte ihn bald
vom Pferd herabgerissen; und das Fuhrwerk flog
ohne Aufenthalt der stürzenden Fluth entgegen.
Da sah er, daß das Weib wie gegen ihn hinauf
die Arme streckte: Hatte sie ihn erkannt? Hatte
die Sehnsucht, die Todesangst um ihn sie aus
dem sicheren Haus getrieben? Und jetzt — rief
sie ein letztes Wort ihm zu? — Die Fragen fuhren
durch sein Hirn; sie blieben ohne Antwort: von
ihr zu ihm, von ihm zu ihr waren die Worte
all' verloren; nur ein Brausen wie vom Welten-
untergang füllte ihre Ohren und ließ keinen andern
Laut hinein.

„Mein Kind! O Elke, o getreue Elke!” schrie
Hauke in den Sturm hinaus. Da sank aufs Neu'
ein großes Stück des Deiches vor ihm in die Tiefe,

und donnernd stürzte das Meer sich hinterdrein;
noch einmal sah er drunten den Kopf des Pferdes,
die Räder des Gefährtes aus dem wüsten Gräuel
emportauchen und dann quirlend darin untergehen.
Die starren Augen des Reiters, der so einsam auf
dem Deiche hielt, sahen weiter nichts. „Das Ende!”
sprach er leise vor sich hin; dann ritt er an den
Abgrund, wo unter ihm die Wasser, unheimlich
rauschend, sein Heimathsdorf zu überfluthen be-
gannen; noch immer sah er das Licht von seinem
Hause schimmern; es war ihm wie entseelt. Er
richtete sich hoch auf und stieß dem Schimmel
die Sporen in die Weichen; das Thier bäumte
sich, es hätte sich fast überschlagen; aber die Kraft
des Mannes drückte es herunter. „Vorwärts!”
rief er noch einmal, wie er es so oft zum festen
Ritt gerufen hatte: „Herr Gott, nimm mich;
verschon' die Andern!”

Noch ein Sporenstich; ein Schrei des Schimmels,
der Sturm und Wellenbrausen überschrie; dann unten
aus dem hinabstürzenden Strom ein dumpfer Schall,
ein kurzer Kampf.

Der Mond sah leuchtend aus der Höhe; aber
unten auf dem Deiche war kein Leben mehr, als

nur die wilden Wasser, die bald den alten Koog
fast völlig überfluthet hatten. Noch immer aber
ragte die Werfte von Hauke Haien's Hofstatt aus
dem Schwall hervor, noch schimmerte von dort der
Lichtschein, und von der Geest her, wo die Häuser
allmälig dunkel wurden, warf noch die einsame
Leuchte aus dem Kirchthurm ihre zitternden Licht-
funken über die schäumenden Wellen.”


Der Erzähler schwieg; ich griff nach dem ge-
füllten Glase, das seit lange vor mir stand; aber
ich führte es nicht zum Munde; meine Hand
blieb auf dem Tische ruhen.

„Das ist die Geschichte von Hauke Haien,”
begann mein Wirth noch einmal, „wie ich sie nach
bestem Wissen nur berichten konnte. Freilich die
Wirthschafterin unseres Deichgrafen würde sie Ihnen
anders erzählt haben; denn auch das weiß man
zu berichten: jenes weiße Pferdsgerippe ist nach
der Fluth wiederum, wie vormals, im Mond-
schein auf Jevershallig zu sehen gewesen; das
ganze Dorf will es gesehen haben. — So viel ist
sicher: Hauke Haien mit Weib und Kind ging
unter in dieser Fluth; nicht einmal ihre Grab-

stätte hab' ich droben auf dem Kirchhof finden
können; die todten Körper werden von dem ab-
strömenden Wasser durch den Bruch ins Meer
hinausgetrieben und auf dessen Grunde allmälig
in ihre Urbestandtheile aufgelöst sein — so haben
sie Ruhe vor den Menschen gehabt. Aber der
Hauke-Haiendeich steht noch jetzt nach hundert
Jahren, und wenn Sie morgen nach der Stadt
reiten und die halbe Stunde Umweg nicht scheuen
wollen, so werden Sie ihn unter den Hufen Ihres
Pferdes haben.

Der Dank, den einstmals Jeve Manners bei
den Enkeln seinem Erbauer versprochen hatte, ist,
wie Sie gesehen haben, ausgeblieben; denn so ist
es, Herr: dem Sokrates gaben sie ein Gift zu
trinken und unseren Herrn Christus schlugen sie an
das Kreuz! Das geht in den letzten Zeiten nicht
mehr so leicht; aber — einen Gewaltsmenschen
oder einen bösen stiernackigen Pfaffen zum Heiligen,
oder einen tüchtigen Kerl, nur weil er uns um
Kopfeslänge überwachsen war, zum Spuk und
Nachtgespenst zu machen — das geht noch alle Tage.”

Als das ernsthafte Männlein das gesagt hatte,
stand es auf und horchte nach draußen. „Es ist

dort etwas anders worden,” sagte er und zog die
Wolldecke vom Fenster; es war heller Mondschein.
„Seht nur,” fuhr er fort, „dort kommen die
Gevollmächtigten zurück; aber sie zerstreuen sich,
sie gehen nach Hause; — drüben am andern Ufer
muß ein Bruch geschehen sein; das Wasser ist
gefallen.”

Ich blickte neben ihm hinaus; die Fenster hier
oben lagen über dem Rand des Deiches; es war,
wie er gesagt hatte. Ich nahm mein Glas und
trank den Rest: „Haben Sie Dank für diesen
Abend!” sagte ich; „ich denk', wir können ruhig
schlafen!”

„Das können wir;” entgegnete der kleine Herr;
„ich wünsche von Herzen eine wohlschlafende Nacht!”

— — Beim Hinabgehen traf ich unten auf
dem Flur den Deichgrafen; er wollte noch eine
Karte, die er in der Schenkstube gelassen hatte,
mit nach Hause nehmen. „Alles vorüber!” sagte
er. „Aber unser Schulmeister hat Ihnen wohl schön
was weiß gemacht; er gehört zu den Aufklärern!”

— „Er scheint ein verständiger Mann!”

„Ja, ja, gewiß; aber Sie können Ihren eigenen
Augen doch nicht mißtrauen; und drüben an der

anderen Seite, ich sagte es ja voraus, ist der Deich
gebrochen!”

Ich zuckte die Achseln: „Das muß beschlafen
werden! Gute Nacht, Herr Deichgraf!”

Er lachte: „Gute Nacht!”

— — Am andern Morgen, beim goldensten
Sonnenlichte, das über einer weiten Verwüstung
aufgegangen war, ritt ich über den Hauke-Haien-
Deich zur Stadt hinunter.


Pierer'sche Hofbuchdruckerei. Stephan Geibel & Co. in Altenburg.

Druckfehler-Berichtigung.
Seite 17Zeile 4von oben ließ stattwestwärts: nordwärts.
〃 27〃 14〃 〃 〃 〃nach Osten: nach Süden.
〃 59〃 1〃 〃 〃 〃zu Norden: zu Osten.
〃 60〃 14〃 〃 〃 〃Zacharias: Zacharies.
〃 138〃 10〃 〃 〃 〃geschähe es nur, damit:
geschähe es, damit nur.

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