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Ernst Haeckel - Die Natürliche Schöpfungsgeschichte 1868

Zehnter Vortrag.

Anpassungsgesetze.

(siehe Inhaltsverzeichnis.. )

Meine Herren! Die Erscheinungen der Anpassung oder Abänderung, welche in Verbindung und in Wechselwirkung mit den Vererbungserscheinungen die ganz unendliche Mannichfaltigkeit der Thier- Pflanzenformen hervorbringen, hatten wir im letzten Votrage in zwei verschiedene Gruppen gebracht, erstens die Reihe der indirecten oder potentiellen und zweitens die Reihe der directen oder actuellen Anpassungen. Wir wenden uns nun heute zu einer näheren Betrachtung der verschiedenen allgemeinen Gesetze, welche wir unter diesen beiden Reihen von Abänderungserscheinungen zu erkennen im Stande sind. Lassen Sie uns zunächst die merkwürdigen Erscheinungen der indirecten oder mittelbaren Abänderung in's Auge fassen.

Die indirecte oder potentielle Anpassung äußerte sich, wie Sie sich erinnern werden, in der auffallenden und äußerst wichtigen Thatsache, daß die organischen Individuen Umbildungen erleiden und neue Formen annehmen in Folge von Ernährungsveränderungen, welche nicht sie selbst, sondern ihren elterlichen Organismus betrafen. Der umgestaltende Einfluß der äußeren Existenzbedingungen, des Klimas, der Nahrung etc. äußert hier seine Wirkung nicht direct, in der Umbildung des Organismus selbst, sondern indirect, in derjenigen seiner Nachkommen (Gen. Morph. II., 202).

Als das oberste und allgemeinste von den Gesetzen der indirecten Abänderung können wir das Gesetz der individuellen Anpassung hinstellen, nämlich den wichtigen Satz, daß alle organischen Individuen von Anbeginn ihrer individuellen Existenz an ungleich, wenn auch oft höchst ähnlich sind. Zum Beweis dieses Satzes können wir zunächst auf die Thatsache hinweisen, daß beim Menschen allgemein alle Geschwister, alle Kinder eines Elternpaares von Geburt an ungleich sind. Es wird Niemand behaupten, daß zwei Geschwister von der Geburt an vollkommen gleich sind, daß die Größe aller einzelnen Körpertheile, die Zahl der Kopfhaare, der Oberhautzellen, der Blutzellen in beiden Geschwistern ganz gleich sei, daß beide dieselben Anlagen und Talente mit auf die Welt gebracht haben. Ganz besonders beweisend für dieses Gesetz der individuellen Verschiedenheit ist aber die Thatsache, daß bei denjenigen Thieren, welche mehrere Junge werfen, z. b. bei den Hunden und Katzen alle Jungen eines jedes Wurfes von einander verschieden sind, bald durch geringere, bald durch auffallendere Differenzen in der Größe, Färbung, Länge der einzelnen Körpertheile, Stärke u. s. w. Nun gilt aber dieses Gesetz ganz allgemein. Alle organischen Individuen sind von Anfang an durch gewisse, wenn auch oft höchst feine Unterschiede ausgezeichnet und die Ursache dieser individuellen Unterschiede, wenn auch im Einzelnen uns gewöhnlich ganz ungekannt, liegt theilweise oder ausschließlich in gewissen Einwirkungen, welche die Fortpflanzungsorgane des elterlichen Organismus erfahren haben. Weniger wichtig und allgemein, als dieses Gesetz der individuellen Abänderung, ist ein zweites Gesetz der indirecten Anpassung, welches wir das Gesetz der monströsen oder sprungweisen Anpassung nennen wollen. Hier sind die Abweichungen des kindlichen Organismus von der elterlichen Form so auffallend, daß wir sie in der Regel als Mißgeburten oder Monstrositäten bezeichnen können. Diese werden in vielen Fällen, wie es durch Experimente nachgewiesen ist, dadurch erzeugt, daß man den elterlichen Organismus einer bestimmten Behandlung unterwirft, in eigenthümliche Ernährungsverhältnisse versetzt, z. B. Luft und Licht ihm entzieht oder andere auf seine Ernährung mächtig einwirkende Einflüsse in bestimmter Weise abändert. Die neue Existenzbedingung bewirkt eine starke und auffallende Abänderung der Gestalt, aber nicht an dem unmittelbar davon betroffenen Organismus, sondern erst an dessen Nachkommenschaft. Die Art und Weise dieser Einwirkung im Einzelnen zu erkennen, ist uns auch hier nicht möglich, und wir können nur ganz im Allgemeinen den ursächlichen Zusammenhang zwischen der monströsen Bildung des Kindes und einer gewissen Veränderung in den Existenzbedingungen seiner Eltern, sowie deren Einfluß auf die Fortpflanzungsorgane der letzteren, feststellen. In diese Reihe der monströsen oder strungweisen Abänderungen gehören wahrscheinlich die früher erwähnten Erscheinungen des Albinismus, sowie die einzelnen Fälle von Menschen mit sechs Fingern und Zehen, von ungehörnten Rindern, sowie von Schafen und Ziegen mit vier oder sechs Hörnern. Wahrscheinlich verdankt in allen diesen Fällen die monströse Abänderung ihre erste Entstehung einer Ursache, welche zunächst nur das Reproductionssystem des elterlichen Organismus afficirte.

Als eine dritte eigenthümliche Aeußerung der indirecten Anpassung können wir das Gesetz der geschlechtlichen oder sexuellen Anpassung bezeichnen. So nennen wir die merkwürdige Thatsache, daß bestimmte Einflüsse, welche auf die männlichen Fortpflanzungsorgane einwirken, nur in der Formbildung der männlichen Nachkommen, und ebenso andere Einflüsse, welche die weiblichen Geschlechtsorgane betreffen, nur in der Gestaltenveränderung der weiblichen Nachkommen ihre Wirkung äußern. Diese Erscheinung ist noch sehr dunkel und wenig beachtet, wahrscheinlich aber von großer Bedeutung für die Entstehung der früher betrachteten "secundären Sexualcharaktere".

Alle die angeführten Erscheinungen der geschlechtlichen, der sprungweisen und der individuellen Anpassung, welche wir als "Gesetze der indirecten oder mittelbaren (potentiellen) Anpassung", zusammenfassen können, sind uns in ihrem eigentlichen Wesen, in ihrem tieferen ursächlichen Zusammenhang noch äußerst wenig bekannt. Nur so viel läßt sich jetzt mit Sicherheit behaupten, daß sehr zahlreiche und wichtige Umbildung der organischen Formen diesem Vorgange ihre Entstehung verdanken. Viele und auffallende Formveränderungen sind lediglich bedingt durch Ursachen, welche zunächst nur auf die Ernährung des elterlichen Organismus und zwar auf dessen Fortpflanzungsorgane einwirkten. Offenbar sind hierbei die wichtigen Wechselbeziehungen, in denen die Geschlechtsorgane zu den übrigen Körpertheilen stehen, von der größten Bedeutung. Von diesen werden wir sogleich bei dem Gesetze der wechselbezüglichen Anpassung noch mehr zu sagen haben. Wie mächtig überhaupt Veränderungen in den Lebensbedingungen, in der Ernährung auf die Fortpflanzung der Organismen einwirken, beweist allein schon die merkwürdige Thatsache, daß zahlreiche wilde Thiere, die wir in unseren zoologischen Gärten halten, und ebenso viele in unsere botanischen Gärten verpflanzte exotische Gewächse nicht mehr im Stande sind, sich fortzupflanzen, so z. b. die meisten Raubvögel, Papageyen und Affen. Auch der Elephant und die bärenartigen Raubthiere werfen in der Gefangenschaft fast niemals Junge. Ebenwo werden viele Pflanzen im Culturzustand unfruchtbar. Es erfolgt zwar die Verbindung der beiden Geschlechter, aber keine Befruchtung oder keine Entwicklung der befruchteten Keime. Hieraus ergiebt sich unzweifelhaft, daß die durch den Culturzustand veränderte Ernährungsweise die Fortpflanzungsfähigkeit gänzlich aufzuheben, also den größten Einfluß auf die Geschlechtsorgane auszuüben im Stande ist. Ebenso können andere Anpassungen oder Ernährungsveränderungen des elterlichen Organismus zwar nicht den gänzlichen Ausfall der Nachkommenschaft, wohl aber bedeutende Umbildungen in deren Form veranlassen.

Viel bekannter als die Erscheinungen der indirecten oder potentiellen Anpassung sind diejenigen der directen oder actuellen Anpassung, zu deren näherer Betrachtung wir uns jetzt wenden. Es gehören hierher alle diejenigen Abänderungen der Organismen, welche man als die Folgen der Uebung, Gewohnheit, Dressur, Erziehung u. s. w. betrachtet, ebenso diejenigen Umbildungen der organischen Formen, welche unmittelbar durch den Einfluß der Nahrung, des Klimas und anderer äußerer Existenzbedingungen bewirkt werden. Wie schon vorher bemerkt, tritt hier bei der directen oder unmittelbaren Anpassung der umbildende Einfluß der äußeren Ursache unmittelbar in der Form des betroffenen Organismus selbst, und nicht erst in derjenigen seiner Nachkommenschaft zu Tage (Gen. Morph. II., 207).

Unter den verschiedenen Gesetzen der directen oder actuellen Anpassung können wir als das oberste und umfassendste das Gesetz der allgemeinen oder universellen Anpassung an die Spitze stellen. Dasselbe läßt sich kurz in dem Satze aussprechen: "Alle organische Individuen werden im Laufe ihres Lebens durch Anpassung an verschiedene Lebensbedingungen einander ungleich, obwohl die Individuen einer und derselben Art sich meistens sehr ähnlich bleiben." Eine gewisse Ungleichheit der organischen Individuen wurde, wie Sie sahen, schon durch das Gesetz der individuellen (indirecten) Anpassung bedingt. Allein diese ursprüngliche Ungleichheit der Einzelwesen wird späterhin dadurch noch gsteigert, daß jedes Individuum sich während seines selbstständigen Lebens seinen eigenthümlichen Existenzbedingungen unterwirft und anpaßt. Alle verschiedenen Einzelwesen einer jeden Art, so ähnlich sie in ihren ersten Lebensstadien auch sein mögen, werden im weiteren Verlaufe der Existenz einander mehr oder minder ungleich. In geringeren oder bedeutenderen Eigenthümlichkeiten entfernen sie sich von einander, und das ist eine natürliche Folge der verschiedenen Bedingungen, untern denen alle Individuen leben. Es gibt nicht zwei einzelne Wesen irgend einer Art, die unter ganz gleichen äußren Umständen ihre Leben vollbringen. Die Lebensbedingungen der Nahrung, der Feuchtigkeit, der Luft, des Lichts, ferner die Lebensbedingungen der Gesellschaft, die Wechselbeziehungen zu den umgebenden Individuen derselben Art und anderer Arten, sind bei allen Einzelwesen verschieden; und diese Verschiedenheit wirkt zunächst auf die Functionen, weiterhin auf die Formen jedes eizelnen Organismus umbildend ein. Wenn Geschwister einer menschlichen Familie schon von Anfang an gewisse individuelle Ungleicheiten zeigen, die wir als Folge der individuellen (indirecten) Anpassung betrachten können, so erscheinen uns dieselben noch weit mehr verschieden in späterer Lebenszeit, wo die einzelnen Geschwister verschiedene Erfahrungen durchgemacht, und sich verschiedenen Lebensverhältnissen angepaßt haben. Die ursprünglich angelegte Verschiedenheit des individuellen Entwickelungsganges wird offenbar um so größer, je länger das Leben dauert, je mehr verschiedenartige äußere Bedingungen auf die einzelnen Individuen Einfluß erlangen. Das können Sie am einfachsten an den Menschen selbst, sowie an den Hausthieren und Culturpflanzen nachweisen, bei denen Sie willkührlich die Lebensbedingungen modificiren können. Zwei Brüder, von denen der eine zum Arbeiter, der andere zum Priester erzogen wird, entwickeln sich in körperlicher und geistiger Beziehung ganz verschieden; ebenso zwei Hunde eines und desselben Wurfes, von denen der eine zum Jagdhund, der andere zum Kettenhund erzogen wird. Dasselbe gilt aber auch von den organischen Individuen im Naturzustande. Wenn Sie z. B. in einem Kiefern- oder in einem Buchenwalde, der bloß aus Bäumen einer einzigen Art besteht, sorgfältig alle Bäume mit einander vergleichen, so finden Sie allemal, daß von allen hundert oder tausend Bäumen nicht zwei Individuen in der Größe des Stammes und der einzelnen Theile, in der Zahl der Zweige, Blütter, Früchte u. s. w. völlig übereinstimmen. Ueberall finden Sie individuelle Ungleichheiten, welche zum Theil wenigstens bloß die Folge der verschiedenen Lebensbedingungen sind, unter denen sich alle Bäume entwickelten. Freilich läßt sich niemals mit Bestimmtheit sagen, wieviel von dieser Ungleicheit aller Einzelwesen jeder Art ursprünglich (durch die indirecte individuelle Anpassung bedingt), wieviel davon erworben (durch die directe universelle Anpassung bewirkt) ist.

Nicht minder wichtig und allgemein als die universelle Anpassung ist eine zweite Erscheinungsreihe der directen Anpassung, welche wir das Gesetz der gehäuften oder cumulativen Anpassung nennen können. Unter diesem Namen fasse ich eine große Anzahl von sehr wichtigen Erscheinungen zusammen, die man gewöhnlich in zwei ganz verschiedene Gruppen bringt. Man unterscheidet in der Regel erstens solche Veränderungen der Organismen, welche unmittelbar durch den anhaltenden Einfluß äußerer Bedingungen (durch die dauernde Einwirkung der Nahrung, des Klimas, der Umgebung u. s. w.) erzeugt werden, und zweitens solche Veränderungen, welche durch Gewohnheit und Uebung, durch Angewöhnung an bestimmte Lebensbedingungen, durch Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe entstehen. Diese letzteren Einflüsse sind insbesondere von Lamarck als wichtige Ursachen der Umbildung der organischen Formen hervorgehoben, während man die ersten schon sehr lange in weiteren Kreisen als solche anerkannt hat.

Die scharfe Unterscheidung, welche man zwischen diesen beiden Gruppen der gehäuften oder cumulativen Anpassung gewöhnlich macht, und welche auch Darwin noch sehr hervorhebt, verschwindet, sobald man eingehender und tiefer über das eigentliche Wesen und den ursächlichen Grund der beiden scheinbar sehr verschiedenen Anpassungsreihen nachdenkt. Man gelangt dann zu der Ueberzeugung, daß man es in beiden Fällen immer mit zwei verschieden wirkenden Ursachen zu thun hat, nämlich einerseits mit der äußeren Einwirkung oder Action der anpassend wirkenden Lebensbedingung, und andrerseits mit der inneren Gegenwirkung oder Reaction des Organismus, welcher sich jener Lebensbedingung unterwirft und anpaßt. Wenn man die gehäufte Anpassung in ersterer Hinsicht jfür sich betrachtet, indem man die umbildenden Wirkungen der andauernden äußeren Existenzbedingungen auf diese letzteren allein bezieht, so legt man einseitig das Hauptgewicht auf die äußere Einwirkung, und man vernächlässigt die nothwendig eintretende innere Gegenwirkung des Organismus. Wenn man umgekehrt die gehäufte Anpassung einseitig in der zweiten Richtung verfolgt, indem man die umbildende Selbstthätigkeit des Organismus, seine Gegenwirkung gegen den äußeren Einfluß, seine Veränderung durch Uebung, Gewohnheit, Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe hervorhebt, so vergißt man, daß diese Gegenwirkung oder Reaction erst durch die Einwirkung der äußeren Existenzbedingung hervorgerufen wird. Es ist also nur ein Unterschied der Betrachtungsweise, auf welchem die Unterscheidung jener beiden verschiedenen Gruppen beruht, und ich glaube, daß man sie mit vollem Rechte zusammenfassen kann. Das Wesentlichste bei diesen gehäuften Anpassungserscheinungen ist immer, daß die Veränderung des Organismus, welche zunächst in seiner Function und weiterhin in seiner Formbildung sich äußert, entweder durch lange andauernde oder durch wiederholte Einwirkungen einer äußeren Ursache veranlaßt wird. Die neue äußere Existenzbedingung, welche umbildend wirkt, muß entweder lange Zeit hindurch oder oft wiederholt auf den Organismus einwirken. Die kleinste Ursache kann durch Häufung oder Cumulation ihrer Wirkung die größten Erfolge erzielen.

Die Beispiele für diese Art der directen Anpassung sind unendlich zahlreiche. Wo Sie nur hineingreifen in das Leben der Thiere und Pflanzen, finden Sie überall leuchtende und überzeugende Veränderungen dieser Art vor Augen. Wir wollen hier zunächst einige durch die Nahrung selbst unmittelbar bedingte Anpassungserscheinungen hervorheben. Jeder von Ihnen weiß, daß man die Hausthiere, die man für gewisse Zwecke züchtet, verschieden umbilden kann durch die verschiedene Quantität der Nahrung, welche man ihnen darreicht. Wenn der Landwirth bei der Schafzucht feine Wolle erzeugen will, so giebt er den Schafen anderes Futter, als wenn er gutes Fleisch oder reichliches Fett erzielen will. Die auserlesenen Rennpferde und Luxuspferde erhalten besseres Futter als die schweren Lastpferde und Karrengaule. Die Körperform des Menschen selbst, der Grad der Fettablagerung z. B., ist ganz verschieden nach der Nahrung. Bei stickstoffreicher Kost wird wenig, bei stickstoffarmer Kost viel Fett abgelagert. Leute, die nach der neuerdings beliebten Kanting-Cur mager werden wollen, essen nur Fleisch und Eier, kein Brod, keine Kartoffeln. Welche bedeutenden Veränderungen man an Culturpflanzen hervorbringen kann, lediglich durch veränderte Quantität und Qualität der Nahrung, ist allbekannt. Dieselbe Pflanze erhält ein ganz andres Aussehen, wenn man sie an einem trockenen, warmen Ort dem Sonnenlicht ausgesetzt hält. Viele Pflanzen bekommen, wenn man sie an den Meeresstrand versetzt, nach einiger Zeit dicke, fleischige Blätter, und dieselben Pflanzen, an ausnehmend trockene und heiße Standorte versetzt, bekommen behaarte Blätter. Alle diese Formveränderungen entstehen unmittelbar durch den gehäuften Einfluß der veränderten Nahrung.

Aber nicht nur die Quantität und Qualität der Nahrungsmittel wirkt mächtig verändernd und umbildend auf den Organismus ein, sondern auch alle anderen äußeren Existenzbedingungen, vor Allen die nächste organische Umgebung, die Gesellschaft von freundlichen oder feindlichen Organismen. Ein und dasselbe Pferd oder Rind entwickelt sich ganz anders, wenn es das Jahr hindurch im Stalle steht, als wenn es den Sommer über frei in Wald und Wiese umherstreift. Ein und derselbe Baum entwickelt sich ganz verschieden an einen offenen Standort, wo er von allen Seiten frei steht, als im Walde, wo er sich den Umgebungen anpassen muß, wo er von den nächsten Nachbarn gedrängt und zum Emporschießen gezwungen wird. Im ersten Fall wird die Krone weit ausgebreitet, im letzten dehnt sich der Stamm in die Höhe und die Kröne bleibt klein und gedrungen. Wie mächtig alle diese Umstände, wie mächtig der feindliche oder freundliche Einfluß der umgebenden Organismen, der Parasiten u. s. w. auf jedes Thier und jede Pflanze einwirken, ist so bekannt, daß eine Anführung weiterer Beispiele überflüssig erscheint. Die Veränderung der Form, die Umbildung, welche dadurch bewirkt wird, ist niemals bloß die unmittelbare Folge des äußeren Einflusses, sondern muß immer zurückgeführt werden auf die entsprechende Gegenwirkung, auf die Selbstthätigkeit des Organismus, die man als Angewöhnung, Uebung, Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe bezeichnet. Daß man diese letzteren Erscheinungen in der Regel getrennt von ersteren betrachtete, liegt erstens an der schon hervorgehobenen einseitigen Betrachtungsweise, und dann zweitens daran, daß man sich eine ganz falsche Vorstellung von dem Einfluß der Wissensthätigkeit bei den Thieren gebildet hatte.

Die Thätigkeit des Willens, welche der Angewöhnung, der Uebung, dem Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe bei den Thieren zu Grunde liegt, ist gleich jeder anderen Thätigkeit der thierischen Seele durch materielle Vorgänge im Centralnervensystem bedingt, durch eigenthümliche Bewegungen, welche von der eiweißartigen Materie der Ganglienzellen und der mit ihnen verbundenen Nervenfasern ausgehen. Der Wille der höheren Thiere ist in dieser Beziehung, ebenso wie die übrigen Geistenthätigkeiten, von denjenigen des Menchen nur quantitativ (nicht qualitativ) verschieden. Der Wille des Thieres, wie des Menschen ist niemals frei. Das weitverbreitete Dogma von der Freiheit des Willens ist naturwissenschaftlch durchaus nicht haltbar. Jeder Physiologe, der die Erscheinungen der Willensthätigkeit bei Menschen und Thieren naturwissenschaftlich untersucht, kommt mit Nothwendigkeit zu der Ueberzeugung, daß der Wille eigentlich niemals frei, sondern stets durch äußere oder innere Einflüsse bedingt ist. Diese Einflüsse sind größtentheils Vorstellungen, die entweder durch Anpassung oder durch Vererbung erworben, und auf eine von diesen beiden physiologischen Functionen zurückführbar sind. Sobald man seine eigenen Willensthätigkeit streng untersucht, ohne das herkömmliche Vorurtheil von der Freiheit des Willens, so wird man gewahr, daß jede scheinbar freie Willenshandlung bewirkt wird durch vorhergehende Vorstellungen, die entweder in ererbten oder in anderweitig erworbene Vorstellungen wurzeln, und in letzter Linie also wiederum durch Anpassungs- oder Vererbungsgesetze bedingt sind. Dasselbe gilt von der Willensthätigkeit aller Thiere. Sobald man diese eingehend im Zusammenhang mit ihrer Lebensweise betrachtet, und in ihrer Beziehung zu den Veränderungen, welche die Lebensweise durch die äußeren Bedingungen erfährt, so überzeugt man sich alsbald, daß eine andere Auffassung nicht möglich ist. Daher müssen auch die Veränderungen der Willensbewegung, welche aus veränderter Ernährung folgen, und welche als Uebung, Gewohnheit u. s. w. umbildend wirken, unter jene materiellen Vorgänge der gehäuften Anpassung gerechnet werden. Indem sich der thierische Wille den veränderten Existenzbedingungen durch andauernde Gewöhnung, Uebung u .s. w. anpaßt, vermag er die bedeutendsten Umbildungen der organischen Formen zu bewirken. Mannigfaltige Beispiele hierfür sind überall im Thierleben zu finden. So verkümmern z. B. bei den Hausthieren manche Organe, indem sie in Folge der veränderten Lebensweise außer Thätigkeit treten. Die Enten und Hühner, welche im wilden Zustande ausgezeichnet fliegen, verlernen diese Bewegung mehr oder weniger im Culturzustande. Sie gewöhnen sich daran, mehr ihre Beine, als ihre Flügel zu gebrauchen, und in Folge davon werden die dabei gebrauchten Theile der Muskulatur und des Skelets in ihrer Ausbildung und Form wesentlich verändert. Für die verschiedenen Rassen der Hausente, welche alle von der wilden Ente (Anas boschas) abstammen, hat dies Darwin durch eine sehr sorgfältige vergleichende Messung und Wägung der betreffenden Skelettheile nachgewiesen. Die Knochen des Flügels sind bei der Hausente schwächer, die Knochen des Beines dagegen umgekehrt stärker entwickelt, als bei der wilden Ente. Bei den Straußen und anderen Laufvögeln, welche sich das Fliegen gänzlich abgewöhnt haben, ist in Folge dessen der Flügel ganz verkümmert, zu einen völlig "rudimentären Organ" herabgesunken (S. 10). Bei vielen Hausthieren, insbesondere bei vielen Rassen von Hunden und Kaninchen bemerken Sie ferner, daß dieselben durch den Culturzustande herabhängende Ohren bekommen haben. Dies ist einfach eine Folge des verminderten Gebrauchs der Ohrmuskeln. Im wilden Zustande müssen diese Thiere ihre Ohren gehörig anstregen, um einen nahenden Feind zu bemerken, und es hat sich dadurch ein starker Muskelapparat entwickelt, welcher die äußeren Ohren in aufrechter Stellung erhält, und nach allen Richtungen dreht. Im Culturzustande haben dieselben Thiere nicht mehr nöthig so aufmerksam zu lauschen; sie spitzen und drehen die Ohren nur wenig; die Ohrmusken kommen außer Gebrauch, verkümmern allmählich, und die Ohren sinken schlaff herab, oder sie werden selbst ganz rudimentär (Vergl. oben S. 10).

Wie in diesen Fällen die Function und dadurch auch die Form des Organs durch Nichtgebrauch rückgebildet wird, so wird dieselbe andrerseits durch stärkeren Gebrauch mehr entwickelt. Dies tritt uns besonders deutlich entgegen, wenn wir das Gehirn und die dadurch bewirkten Seelenthätigkeiten bei den wilden Thieren und den Hausthieren, welche von ihnen abstammen, vergleichen. Insbesondere der Hund und das Pferd, welche in so erstaunlichem Maße durch die Cultur veredelt sind, zeigen im Vergleiche mit ihren wilden Stammverwandten einen außerordentlichen Grad von Ausbildung der Geistesthätigkeit, und offenbar ist die damit zusammenhängende Umbildung des Gehirns größtentheils durch die andauernde Uebung bedingt. Allbekannt ist es ferner, wie schnell und mächtig die Muskeln durch anhaltende Uebung wachsen und ihre Form verändern. Vergleichen Sie z. B. Arme und Beine eines geübten Turners mit denjenigen eines unbeweglichen Stubensitzers.

Wie mächtig äußere Einflüsse die Gewohnheiten der Thiere, ihre Lebensweise beeinflussen und dadurch weiterhin auch ihre Form umbilden, zeigen sehr auffallend manche Beispiele von Amphibien und Reptilien. Unsere häufigste einheimische Schlange, die Ringelnatter, legt Eier, welche zu ihrer Entwicklung noch drei Wochen brauchen. Wenn man sie aber in Gefangenschaft hält und in den Käfig keinen Sand streut, so legt sie die Eier nicht ab, sondern behält sie bei sich, so lange bis die Jungen entwickelt sind. Der Unterschied zwischen lebendig gebärenden Thieren und solchen, die Eier legen, wird hier einfach durch die Veränderung des Bodens, auf welchem das Thier lebt, verwischt.

Außerordentlich interessant sind in dieser Beziehung auch die Wassermolche oder Tritonen, welche man gezwungen hat, ihre ursprünglichen Kiemen beizubehalten. Die Tritonen, Amphibien, welche den Fröschen nahe verwandt sind, besitzen gleich diesen in ihrer Jugend äußere Athnungsorgane, Kiemen, mit welchen sie, im Wasser lebend, Wasser athmen. Später tritt bei den Tritonen eine Metamorphose ein, wie bei den Fröschen. Sie gehen auf das Land, verlieren die Kiemen und gewöhnen sich an das Lungenathmen. Wenn man sie nun daran verhindert, indem man sie in einem geschlossenen Wasserbecken hält, so verlieren sie die Kiemen nicht. Diese bleiben vielmehr bestehen, und der Wassermolch verharrt zeitlebens auf jener niederen Ausbildungsstufe, welche bei seinen tiefer stehenden Verwandten, den Kiemenmolchen oder Sozobranchien normal ist. Der Wassermolch erreicht seine volle Größe, wird geschlechtsreif und pflanzt sich fort, ohne die Kiemen zu verlieren.

Großes Aufsehen erregte unter den Zoologen vor Kurzem der Axolotl (Siredon pisciformis), ein dem Triton nahe verwandter Kiemenmolch aus Mexico, welchen man schon seit langer Zeit kennt, und in den letzten Jahren im Pariser Pflanzengarten im Großen gezüchtet hat. Dieses Thier hat auch äußere Kiemen, wie der Wassermolch, behält aber dieselben gleich allen anderen Sozobranchien zeitlebens bei. Für gewöhnlich bleibt dieser Kiemenmolch mit seinen Wasserathmungsorganen im Wasser und pflanzt sich hier auch fort. Nun krochen aber plötzlich im Pflanzengarten unter Hunderten dieser Thiere eine geringe Anzahl aus dem Wasser auf das Land, verloren ihre Kiemen, und verwandelten sich in eine kiemenlose Molchform, welche von einer nordamerikanischen Tritonengattung (Ambystoma) nicht mehr zu unterscheien ist, und nur noch durch Lugen athmet. In diesem letzten, höchst merkwürdigen Falle können wir unmittelbar den großen Sprung von einem wasserathmenden zu einem luftathmenden Thiere verfolgen, ein Sprung, der allerdings bei der individuellen Entwickelungsgeschichte der Frösche und Salamander in jedem Frühling beobachtet werden kann. Ebenso aber, wie jeder einzelne Frosch und jeder einzelne Salamander aus dem ursprünglich kiemenathmenden Amphibium späterhin in ein lungenathmendes sich verwandelt, so ist auch die ganze Gruppe der Frösche und Salamander ursprünglich aus kiemenathmenden, dem Siredon verwandten Thieren entstanden. Die Sozobranchien sind noch bis auf den heutigen Tag auf jener niederen Stufe stehen geblieben. Die Ontogenie erläutert auch hier die Phylogenie, die Entwickelungsgeschichte der Individuen diejenige der ganzen Gruppe (S. 9).

An die gehäufte oder cumulative Anpassung schließt sich als eine dritte Erscheinung der directen oder actuellen Anpassung das Gesetz der wechselbezüglichen oder correlativen Anpassung an. Nach diesem wichtigen Gesetze werden durch die actuelle Anpassung nicht nur diejenigen Theile des Organismus abgeändert, welche unmittelbar durch die äußere Einwirkung betroffen werden, sondern auch andere, nicht unmittelbar davon berührte Theile. Dies ist eine Folge des organischen Zusammenhangs, und namentlich der einheitlichen Ernährungsverhältnisse, welche zwischen allen Theilen jedes Organismus bestehen. Wenn z. B. bei einer Pflanze durch Versetzung an einen trocknen Standort die Behaarung der Blätter zunimmt, so wirkt diese Veränderung auf die Ernährung anderer Theile zurück, und kann eine Verkürzung der Stengelglieder und somit eine gedrungenere Form der ganzen Pflanze zur Folge haben. Bei einigen Rassen von Schweinen und Hunden, z. B. bei dem türkischen Hunde, welche durch Anpassung an ein wärmeres Klima ihre Behaarung mehr oder weniger verloren, wurde zugleich das Gebiß rückgebildet. So zeigen die Walfische und die Edentaten (Schuppenthiere, Gürtelthiere etc.), welche sich durch ihre eigenthümliche Hautbedeckung am meisten von den übrigen Säugethieren entfernt haben, die größten Abweichungen in der Bildung des Gebisses. Ferner bekommen solche Rassen von Hausthieren (z. B. Rindern, Schweinen), bei denen sich die Beine verkürzen, in der Regel auch einen kurzen und gedrungenen Kopf. So zeichnen sich u. a. die Taubenrassen, welche die längsten Beine haben, zugleich auch durch die längsten Schnäbel aus. Dieselbe Wechselbeziehung zwischen der Länge der Beine und des Schnabels zeigt sich ganz allgemein in der Ordnung der Stelzvögel (Grallatores), beim Storch, Kranich, der Schnepfe u. s. w. Die Wechselbeziehungen, welche in dieser Weise zwischen verschiedenen Theilen des Organismus bestehen, sind äußerst merkwürdig, und im Einzelnen ihrer Ursache nach uns unbekannt. Im Allgemeinen können wir natürlich sagen: die Ernährungsbedingungen, die einen Theil betreffen, müssen nothwendig auf die übrigen Theile zurückwirken, weil die Ernährung eines jeden Organismus eine zusammenhängende, centralisirte Thätigkeit ist. Allein warum nun gerade dieser oder jener Theil in dieser merkwürdigen Wechselbeziehung zu einem andern steht, ist uns in den meisten Fällen ganz unbekannt.

Es sind eine große Anzahl solcher Wechselbeziehungen in der Bildung bekannt, namentlich bei den neulich schon erwähnten Abänderungen der Thiere und Pflanzen, die sich durch Pigmentmangel auszeichen, den Albinos oder Kakerlaken. Der Mangel des gewöhnlich vorhandenen Farbestoffs bedingt hier gewöhnlich auch gewisse Veränderungen in der Bildung anderer Theile, z. b. des Muskelsystems, des Knochensystems, also organischer Systeme, die zunächst gar nicht mit dem System der äußeren Haut zusammenhängen. Sehr häufig sind diese schwächer entwickelt und daher der ganze Körperbau zarter und schwächer, als bei den gefärbten Thieren derselben Art. Ebenso werden auch die Sinnesorgane und das Nervensystem durch diesen Pigmentmangel eigenthümlich afficirt. Katzen mit blauen Augen sind jederzeit taub. Die Schimmel zeichnen sich vor den gefärbten Pferden durch die besondere Neigung zur Bildung sarkomatöser Geschwülste aus. Auch beim Menschen ist der Grad der Pigmententwickelung in der äußeren Haut vom größten Einflusse auf die Empfänglichkeit des Organismus für gewisse Krankheiten, so daß z. B. Europäer mit dunkler Hautfarbe, schwarzen Haaren und braunen Augen, sich leichter in den Tropengegenden akklimatisiren, und viel weniger den dort herrschenden Krankheiten (Leberentzündungen, gelbem Fieber u. s. w.) unterworfen sind, als Europäer mit heller Hautfarbe, blondem Haar und blauen Augen. Diese letzteren sind viel mehr, als die Individuen von dunkler Complexion, den klimatischen Einflüssen der Tropengegenden ausgesetzt. Vorzugsweise merkwürdig sind unter diesen Wechselbeziehungen der Bildung verschiedener Organe diejenigen, welche zwischen den Geschlechtsorganen und den übrigen Theilen des Körpers bestehen. Keine Veränderung eines Theiles wirkt so mächtig zurück auf die übrigen Körpertheile, als eine bestimmte Behandlung der Geschlechtsorgane. Die Landwirthe, welche bei Schweinen, Schafen u. s. w. reichliche Fettbildung erzielen wollen, entfernen die Geschlechtsorgane durch Herausschneiden (Castration), und zwar geschieht dies bei Thieren beiderlei Geschlechts. In Folge davon tritt eine übermäßige Fettentwicklung ein. Dasselbe thut auch seine Heiligkeit, der Papst, bei den Castraten, welche in der Peterskirche zu Ehren Gottes singen müssen. Diese Unglücklichen werden in früher Jugend castrirt, damit sie ihre hohen Knabenstimmen beibehalten. In Folge dieser Verstümmelung der Genitalien bleibt der Kehlkopf auf der jugendlichen Entwickelungsstufe stehen. Zugleich bleibt die Muskulatur des ganzen Körpers schwach entwickelt, während sich unter der Haut reichliche Fettmengen ansammeln. Aber auch auf die Ausbildung des Centralnervensystems, der Willensenergie u. s. w. wirkt jene Verstümmelung mächtig zurück, und es ist bekannt, daß die menschlichen Castraten oder Eunuchen ebenso wie die castrirten männlichen Hausthiere, des bestimmten psychischen Charakters, welche das männliche Geschlecht auszeichnet, gänzlich entbehren. Der Mann ist eben Leib und Seele nach nur Mann durch seine männliche Generationsdrüse.

Diese äußerst wichtigen und einflußreichen Wechselbeziehungen zwischen den Geschlechtsorganen und den übrigen Körpertheilen, vor allen des Gehirns, finden sich in gleicher Weise bei beiden Geschlechtern. Es läßt sich dies schon von vornherein deshalb erwarten, weil bei den meisten Thieren die beiderlei Organe aus gleicher Grundlage sich entwickeln und anfänglich nicht verschieden sind. Beim Menschen wie bei den übrigen Wirbelthieren, sind in der ursprünglichen Anlage des Keims die männlichen und weiblichen Organe völlig gleich, und erst allmäglich entstehen im Laufe der embryonalen Entwickelung (beim Menschen in der neunten Woche seines Embryolebens) die Unterschiede der beiden Geschlechter, indem eine und dieselbe Sexualdrüse beim Weibe zum Eierstock, beim Manne zum Testikel wird. Jede Verändrung des weiblichen Eierstocks äußert daher eine nicht minder bedeutende Rückwirkung auf den gesammten weiblichen Organismus, wie jede Veränderung des Testikels auf den männlichen Organismus. Die Wichtigkeit dieser Wechselbeziehung hat Virchow in seinem vortrefflichen Aufsatz "das Weib und die Zelle" mit folgenden Worten ausgesprochen: "Das Weib ist eben Weib nur durch seine Generationsdrüse; alle Eigenthümlichkeiten seines Körpers und Geistes oder seiner Ernährung und Nerventhätigkeit: die süße Zartheit und Rundung der Glieder bei der eigenthümlichen Ausbildung des Beckens, die Entwickelung der Brüste bei dem Stehenbleiben der Stimmorgane, jener schöne Schmuck des Kopfhaares bei dem kaum merklichen, weichen Flaum der übrigen Haut, und dann wiederum diese Tiefe des Gefühls, diese Wahrheit der unmittelbaren Anschauung, diese Sanftmuth, Hingebung und Treue - kurz, Alles war wir an dem wahren Weibe Weibliches bewundern und verehren, ist nur eine Dependenz des Eierstocks. Man nehme den Eierstock hinweg, und das Mannweib in seiner häßlichen Halbheit steht vor uns." Dieselbe innige Correlation oder Wechselbeziehung zwischen den Geschlechtsorganen und den übrigen Körpertheilen findet sich auch bei den Pflanzen eben so allgemein wie bei den Thieren vor. Wenn man bei einer Gartenpflanze reichlichere Früchte zu erzielen wünscht, beschränkt man den Blätterwuchs durch Abschneiden eines Theils der Blätter. Wünscht man ungekehrt eine Zierpflanze mit einer Fülle von großen und schönen Blätter zu erhalten, so verhindert man die Blüthen- und Fruchtbildung durch Abschneiden der Blüthenknospen. In beiden Fällen entwickelt sich das eine Organsystem auf Kosten des anderen. So ziehen auch die meisten Abänderungen der vegetativen Blattbildung bei den wilden Pflanzen eine entsprechende Umbildung in den generativen Blüthentheilen nach sich. Die hobe Bedeutung dieser "Compensation der Entwickelung", dieser "Correlation der Theile" ist bereits von Goethe, von Geoffroy S. Hilaire und von anderen Naturphilosophen hervorgehoben worden. Sie beruht wesentlich darauf, daß die directe oder actuelle Anpassung keinen einzigen Körpertheil wesentlich verändern kann, ohne zugleich auf den ganzen Organismus einzuwirken.

Die correlative Anpassung der Fortpflanzungsorgane und der übrigen Körpertheile verdient deshalb eine ganz besondere Berücksichtigung, weil sie vor allen geeignet ist, ein erklärendes Licht auf die vorher betrachteten dunkeln und räthselhaften Erscheinungen der indirecten oder potentiellen Anpassung zu werfen. Denn ebenso wie jede Veränderung der Geschlechtsorgane mächtig auf den übrigen Körper zurückwirkt, so muß natürlich ungekehrt auch jede eingreifende Veränderung eines anderen Köpertheils mehr oder weniger auf die Generationsorgane zurückwirken. Diese Rückwirkung wird sich aber erst in der Bildung der Nachkommenschaft, welche aus den veränderten Generationstheilen entsteht, wahrnehmbar äußern. Gerade jene merkwürdigen, aber unmerklichen und an sich ungeheuer geringfügigen Veränderungen des Genitalsystems, der Eier und des Sperma, welche durch solche Wechselbeziehungen hervorgebracht werden, sind vom größten Einflusse auf die Bildung der Nachkommenschaft, und alle vorher erwähnten Erscheinungen der indirecten oder potentiellen Anpassungen können schließlich auf diese wechselbezügliche Anpassung zurückgeführt werden. Eine weitere Reihe von ausgezeichneten Beispielen der correlativen Anpassung liefern die verschiedenen Thiere und Pflanzen, welche durch das Schmarotzerleben oder den Parasitismus rückgebildet sind. Keine andere Veränderung der Lebensweise wirkt so bedeutend auf die Formbildung der Organismen ein, wie die Angewöhnung an das Schmarotzerleben. Pflanzen verlieren dadurch ihre grünen Blätter, wie z. B. unsere einheimischen Schmarotzerpflanzen: Orobanche, Lathraea, Monotropa. Thiere, welche ursprünglich selbstständig und frei gelebt haben, dann aber eine parasitische Lebensweise auf andern Thieren oder auf Pflanzen annehmen, geben zunächst die Thätigkeit ihrer Bewegungsorgane und ihrer Sinnesorgane auf. Der Verlust der Thätigkeit zieht aber den Verlust der Organe, durch welche sie bewirkt wurde, nach sich, und so finden wir z. B. viele Krebsthiere oder Crustaceen, die in der Jugend einen ziemlich hohen Organisationsgrad, Beine, Fühlhörner und Augen besaßen, im Alter als Parasiten vollkommen degenerirt wieder, ohne Augen, ohne Bewegungswerkzeuge und ohne Fühlhörner. Aus der munteren, beweglichen Jugendform ist ein unförmiger, unbeweglicher Klumpen geworden. Nur die nöthigsten Ernährungs- und Fortpflanzungsorgane sind noch in Thätigkeit. Der ganze übrige Körper ist rückgebildet. Offenbar sind diese tiefgreifenden Umbildungen großentheils directe Folgen der gehäuften oder cumulativen Anpassung, des Nichtgebrauchs und der mangelnden Uebung der Organe; aber zum großen Theile kommen dieselben sicher auch auf Rechnung der wechselbezüglichen oder correlativen Anpassung.

Ein siebentes Anpassungsgesetz, das vierte in der Gruppe der directen Anpassungen, ist das Gesetz der abweichenden oder divergenten Anpassung. Wir verstehen darunter die Erscheinung, daß ursprünglich gleichartig angelegte Theile sich durch den Einfluß äußerer Bedingungen in verschiedener Weise ausbilden. Dieses Anpassungsgesetz ist ungemein wichtig für die Erklärung unserer beiden Hände. Die rechte Hand wird gewöhnlich von uns an ganz andere Arbeiten gewöhnt, als die linke; es entsteht in Folge der abweichenden Beschäftigung auch eine verschiedene Bildung der beiden Hände. Die rechte Hand, welche man gewöhnlich viel mehr braucht, als die linke, zeigt stärker entwickelte Nerven, Muskeln und Knochen. Ebenso findet man häufig die beiden Augen nach diesem Gesetze verschieden entwickelt. Wenn man sich z. B. als Naturforscher gewöhnt, immer nur mit dem einen Auge (am besten mit dem linken) zu mikroskopiren, und mit den anderen nicht, so erlangt das eine eine ganz andere Beschaffenheit, als das andere, und diese Arbeitstheilung ist von großem Vortheil. Das eine Auge wird dann kurzsichtiger, geeigneter für das Sehen in die Nähe, das andere Auge weitsichtiger, schärfer für den Blick in die Ferne. Wenn man dagegen abwechselnd mit beiden Augen mikroskopirt, so erlangt man nicht auf dem einen Auge den Grad der Kurzsichtigkeit, auf dem andern der Grad der Weitsichtigkeit, welchen man durch eine weise Vertheilung dieser verschiedenen Gesichtsfunctionen auf beide Augen erreicht.

Zunächst wird auch hier wieder durch die Gewohnheit die Function, die Thätigkeit der ursprünglich gleich gebildeten Organe ungleich, divergent; allein die Function wirkt wiederum auf die Form des Organs zurück, und daher finden wir bei einer längeren Dauer jenes Einflusses eine Veränderung in den feineren Formbestandtheilen und in den Wachsthumsverhältnissen der abweichenden Theile, die zuletzt auch in gröberen Umrissen erkennbar wird. Bei Handarbeitern z. B. welche zu gewissen Zwecken fast beständig bloß den rechten Arm gebrauchen, wird dieser allmählich weit stärker als der linke, was sich auch durch Maß und Gewicht nachweisen läßt. Der Unterschied in der Function hat also hier umbildend auf die Form zurückgewirkt.

Unter den Pflanzen können wir die abweichende oder divergente Anpassung besonders bei den Schlinggewächsen sehr leicht wahrnehmen. Aeste einer und derselben Schlingpflanze, welche ursprünglich gleichartig angelegt sind, erhalten eine ganz verschiedene Form und Ausdehnung, einen ganz verschiedenen Krümmungsgrad und Durchmesser der Spiralwindung, je nachdem sie um einen dünneren oder dickeren Stab sich herumwinden. Ebenso ist auch die abweichende Veränderung der Formen ursprünglich gleich angelegter Theile, welche divergent nach verschiedenen Richtungen unter abweichenden äußeren Bedingungen sich entwickeln, un vielen anderen Erscheinungen der Formbildung bei Thieren und Pflanzen deutlich nachweisbar. Indem diese abweichende oder divergente Anpassung mit der fortschreitenden Vererbung in Wechselwirkung tritt, wird sie die Ursache der Arbeitstheilung der verschiedenen Organe.

Ein achtes und letztes Anpassungsgesetz können wir als das Gesetz der unbeschränkten oder unendlichen Anpassung bezeichnen. Wir wollen damit einfach ausdrücken, daß uns keine Grenze für die Veränderung der organischen Formen durch den Einfluß der äußeren Existenzbedingungen bekannt ist. Wir können von keinem einzigen Theil des Organismus behaupten, daß er nicht mehr veränderlich sei, daß, wenn man ihn unter neue äußere Bedingungen brächte, er durch diese nicht verändert werden würde. Noch niemals hat sich in der Erfahrung eine Grenze für die Abänderung nachweisen lassen. Wenn z. B. ein Organ durch Nichtgebrauch degenerirt, so geht diese Degeneration schließlich bis zum vollständigen Schwunde des Organs fort, wie es bei den Augen vieler Thiere der Fall ist. Andrerseits können wir durch fortwährende Uebung, Gewohnheit, und immer gesteigerten Gebrauch eines Organs dasselbe in einem Maße vervollkommnen, wie wir es von vernherein für unmöglich gehalten haben würden. Wenn man die uncivilisirten Wilden mit den Culturvölkern vergleicht, so findet man bei jenen eine Ausbildung der Sinnesorgane, Gesicht, Geruch, Gehör, von der die Culturvölker keine Ahnung haben. Umgekehrt ist bei den höheren Culturvölkern das Gehirn, die Geistesthätigkeit in einem Grade entwickelt, von welchem die rohen Wilden keine Vorstellung besitzen. In beiden Fällen läßt sich der weiter gehenden Ausbildung durch gehäufte Anpassung keine Grenze setzen. Allerdings scheint für jeden Organismus eine Grenze der Anpassungsfähigkeit durch den Typus seines Stammes oder Phylum gegeben zu sein, d. h. durch die wesentlichen Grundeigenschaften dieses Stammes, welche von dem gemeinsamen Stammvater desselben ererbt sind und sich durch conservative Vererbung auf alle Descendenten desselben übertragen. So kann z. B. niemals ein Wirbelthier statt des charakteristischen Rückenmarks der Wirbelthiere das Bauchmark der Gliederthiere sich erwerben. Allein innerhalb dieser erblichen Grundform, innerhalb dieses unveräußerlichen Typus, ist der Grad der Anpassungsfähigkeit unbeschränkt. Die Biegsamkeit und Flüssigkeit der organischen Form äußert sich innerhalb desselben frei nach allen Richtungen hin, und in ganz unbeschränktem Umfang. Es giebt aber einzelne Thiere, wie z. B. die durch Parasitismus rückgebildeten Krebsthiere und Würmer, welche selbst jene Grenze des Typus zu überspringen scheinen, und durch erstaunlich weit gehende Degeneration fast alle wesentlichen Charaktere ihres Stammes eingebüßt haben. Was die Anpassungsfähigkeit des Menschen betrifft, so ist dieselbe, wie bei allen anderen Thieren, ebenfalls unbegrenzt, und da sich dieselbe beim Menschen vor allen in der Umbildung des Gehirns äußert, so läßt sich durchaus keine Grenze dr Erkenntniß setzen, welche der Mensch bei weiter fortschreitender Geistesbildung nicht würde überschreiten können. Auch der menschliche Geist genießt nach dem Gesetze der unbeschränkten Anpassung eine unendliche Perspective für seine Vervollkommnung in der Zukunft.

Diese Bemerkungen genügen wohl, um die Tragweite der Anpassungserscheinungen hervorzuheben, und ihnen das Gewicht zuzuschreiben, welches ich von vornherein für dieselben in Anspruch genommen habe. Die Anpassungsgesetze, die Thatsachen der Veränderung durch den Einfluß äußerer Bedingungen, sind von ebenso großer Bedeutung, wie die Vererbungsgesetze. Alle Anpassungserscheinungen lassen sich in letzter Linie zurückführen auf die Ernährungsverhältnisse des Organismus, in gleicher Weise wie die Vererbungserscheinungen in den Fortpflanzungsverhältnissen begründet sind; diese aber sowohl als jene sind weiter zurückzuführen auf chemische und physikalische Gründe, also auf mechanische Ursachen. Lediglich duch die Wechselwirkung derselben entstehen nach Darwin's Selectionstheorie die neuen Formen der Organismen, die Umbildungen, welche die künstliche Züchtung im Culturzustande, die natürliche Züchtung im Naturzustande hervorbringt.


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